Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

M


it dem Typen stimmt was nicht,
da sind sich Hahn, Hase und
Fuchs einig. Dass eine Teetasse in
seinen großen Koffer passt, glau-
ben die drei dem fremden Tier ja
noch. Aber dass es frech behauptet, darin auch ei-
nen Tisch, einen Stuhl, eine Holzhütte, ja gleich
einen ganzen Berghang mit Bäumen durch die
Gegend zu zerren – das ist doch eine dreiste Lüge.
Er komme von weit her, sei schon lange unterwegs
und furchtbar müde – sagt der Grüne, rollt sich am
Boden ein und schließt die Augen. »Ich trau dem
nicht«, sagt der Fuchs. »Komisches Tier«, sagt der
Hahn. »Wir sollten ihn wirklich ein bisschen schlafen
lassen«, sagt der Hase, der als Einziger von Beginn an
freundlich ist. Doch gegen Hahn und Fuchs kommt
er nicht an. Die schwingen schon einen schweren
Stein und brechen den Koffer auf. Man müsse
schließlich herausfinden, ob der Grüne die Wahrheit


sage, erklärt der Fuchs. In der festen Überzeugung,
ihn sogleich der Lüge zu überführen.
Darf jemand einfach so kommen und bleiben?
Warum löst das Fremde so schnell Misstrauen, Angst
und ein Gefühl der Bedrohung aus? Während man
die Nachrichtenbilder des Flüchtlingslagers Moria
auf der Insel Lesbos sieht, erzählt der britische Künst-
ler Chris Naylor-Ballesteros eine Flucht-Geschichte
für die ganz Kleinen, mit der er versucht, bei seinen
Lesern Menschlichkeit und Mitgefühl zu wecken.
Denn der schlaue Fuchs steht ziemlich blöd da,
als der in Stücke geschlagene Koffer vor ihnen
liegt. Darin: eine zerbrochene Tasse und ein Foto.
Darauf zu sehen: ein Tisch und ein Stuhl vor einer
Holzhütte an einem Berghang mit Bäumen. Foto
und Tasse sind alles, was dem müden Wesen von
seinem Zuhause geblieben ist. Und Fuchs, Hahn
und Hase fragen sich beschämt: »Was soll er von
uns denken?«

Mit Der Koffer findet Naylor-Ballesteros ein so
naheliegendes wie geniales Bild für das, was die mehr
als 70 Millionen Menschen, die derzeit weltweit auf
der Flucht sind, an Erlebnissen und Entbehrungen,
Verlusten und Ängsten mit sich herumtragen.
Ursprünglich wollte der Illustrator eine leichte, hu-
morvolle Geschichte übers Zuhause-Gefühl zeichnen


  • als Abschluss einer losen Bilderbuch-Trilogie, in der
    er schon die menschlichen Grundbedürfnisse Nah-
    rung und Liebe behandelt hatte. Doch dann sei beim
    Scribbeln eines Tages dieses verschreckte Tierchen,
    das etwas Schweres hinter sich herzieht, auf seinem
    Skizzenblatt erschienen. Gebeugt, gebeutelt, müde.
    Der Zeichner fragte sich, was es erlebt haben moch-
    te – und die Geschichte nahm ihre eigene Wendung.
    Habt Mitgefühl! So wie es Naylor-Ballesteros
    um diese ganz simple Botschaft geht, so wählt er
    auch in Text und Bild das Weniger-ist-mehr-Prin-
    zip. Jeder Strich und jeder Satz sitzen: Die Worte,


fast ausschließlich Dialoge, sind knapp und poin-
tiert. Der viele Weißraum auf den Seiten wird zur
Bühne für die bunten Tiere. Vollflächig, in gedeck-
ten Farben sind nur die Seiten, auf denen man in
die Erinnerung des Grünen an sein Zuhause und
die Flucht eintaucht, wodurch schon Vierjährige
die Idee des Zeitsprungs erfassen können.
Und am Schluss? Da steht ein neues, buntes
Heim für den Grünen, zusammengezimmert von
Hase, Hahn und Fuchs. Für jeden Neuankömm-
ling gleich ein Haus bauen, so etwas geht natürlich
nur im Bilderbuch. Im echten Leben könnte es ein
Anfang sein, die Menschen erst einmal ihr Gepäck
abstellen zu lassen, statt ihnen zusätzlich Steine in
die Koffer zu packen.

Chris Naylor-Ballesteros: Der Koffer.
Deutsch von Uwe-Michael Gutzschhahn
Sauerländer 2020; 32 S., 14,99 €; ab 4 Jahren

Illustration: aus »Der Koffer« von
Chris Naylor-Ballesteros/Fischer
Kinder- und Jugendbuch Verlag,
2020

Bitte, darf ich bleiben?


Ein Bilderbuch über Verlust und Heimatsuche – und zugleich ein anrührender Appell für Menschlichkeit und Mitgefühl VON KATRIN HÖRNLEIN


Lulu findet ihre Familie doof. Weil sie kein Baby
mehr sein darf – sagen Mama und Papa. Leonor ist
das Baby, und alles, was sie macht, ist süß – finden
die Erwachsenen. Kaspar, Lulus großer Bruder, ist
das Gegenteil von Baby. Er kann alles, nobelpreis-
verdächtig – meint Oma. Und Lulu? Ist in der Mitte.
Sie arbeitet leise. Schnipselt Papier. Wischt den Tisch
ab. Hilft, tröstet. Und möchte doch selber gerne
getröstet werden. Mitte, das ist mittelgut – findet
Lulu. Bis Mama sagt: »Du bist das Gelbe im Ei. Die
Creme in der Schnitte. Du bist unsere goldene Mit-
te.« Lulu schnipselt weiter Papier, glücklich. Sie hat
ihren Platz gefunden.
Die Illustratorin Jacky Gleich hat einen unver-
wechselbaren Strich: Immer ist Bewegung in den
Bildern, mit speed lines wie im Comic. Dazu setzt sie
sparsame Farben, hier ein mattes Grün und ein kräf-
tiges Orange, und einen ebenso sparsamen Strich,
der kraftvoll das Sehnen, Bangen, Grummeln des
Kindes zeigt. Dieser Wechsel zwischen zartfühlend
und dynamisch und das genaue Gespür für Zwi-
schentöne zeichnen auch den Text aus.
Familien allein zu Haus: Wohl selten haben Eltern
und Kinder so viel Zeit mit ein an der und in den hei-
mischen vier Wänden verbracht wie in diesen Wo-
chen. Gut, wenn jeder seinen Platz im Familien gefüge
kennt. Wer noch sucht, dem sei dieses Bilderbuch
ans Herz gelegt. KLAUS HUMANN


Micha Friemel/Jacky Gleich (Ill.): Lulu in der Mitte.
Hanser 2020; 32 S., 14,– €; ab 3 Jahren


In jeder Krise ist es das Beste, gemeinsam mit an-
deren etwas auf die Beine zu stellen. Nicht einfach
in Zeiten von Corona, wo allen soziale Distanz
auferlegt ist. Als Ausgleich empfiehlt sich die Lek-
türe von Stepha Quitterers erstem Jugendroman
Weltverbessern für Anfänger. Das Buch zur Stunde:
Denn hier trifft man nicht nur auf engagierte
Jugendliche, hier geht es auch um die Einsamkeit
all der alten Menschen, die uns momentan so
schmerzlich vor Augen geführt wird.
Im Roman bringt gleich eine ganze Schulklasse
ein Pflegeheim zum Brummen, die 8 b, angeführt
von Minna. Sie und ihre Mitschüler gehen – an-
gestoßen durch den »Weltverbessern für Anfän-
ger«-Wettbewerb an ihrer Schule – mit den Herren
spazieren, hören Musik mit den Damen, gründen
eine Garten-AG und nehmen bei der dementen
Lateinlehrerin Nachhilfe. Das tun die Jugendlichen
mit so viel Herz, Eifer und Witz, dass man glatt
beginnt, die Schulzeit zu vermissen.
Fast visionär mutet Quitterers Buch heute an, wo
die Schulen geschlossen sind und die Pflegeheime
abgeschirmt. »Weltverbessern fängt im Kopf an«, sagt
Minna. Vielleicht bewegt dieses Buch in vielen Le-
serköpfen etwas. In der Krise sind alle gerade gefragt,
solidarisch zu sein. Noch besser wäre, das nach der
Krise nicht zu vergessen – und wie die 8 b ins Pfle-
geheim zu stürmen. BENNO HENNIG VON LANGE

Stepha Quitterer: Weltverbessern für Anfänger.
Gerstenberg 2020; 288 S., 16,– €; ab 12 Jahren

Die ersten Tage des neuen Schuljahres verlaufen für
Alexa wie immer: Der Klassenschläger Brendan nervt.
Die Coolen bleiben unter sich. Doch dann, in der
dritten Woche, kommt ein neuer Junge in die Klasse:
Ahmet, kurze dunkle Haare, blasse Haut, sehr scheu.
Alexa weiß sofort, dass sie mit diesem Jungen befreun-
det sein will. Sie lächelt ihn an, zwinkert ihm zu,
schenkt ihm ihre Lieblingsdrops. Ohne Erfolg.
Der Junge aus der letzten Reihe ist die Geschichte
eines syrischen Kindes, das auf der Flucht von den
Eltern getrennt wurde. Ob es angebracht ist, zurzeit
ein Buch zu empfehlen, das ein so »schwieriges«
Thema aufgreift, kann in diesem Fall eindeutig bejaht
werden. Denn die englische Autorin Onjali Q. Raúf
erzählt ihre Geschichte mit Munterkeit und Verve,
ohne heikle Fragen unter den Tisch zu kehren.
Unbeirrbar setzt Alexa ihr Werben um Ahmet
fort, lockt ihn mit Orangen, Granatäpfeln und
erntet ein erstes strahlendes Lächeln. Als sie er-
fährt, dass die Grenzen für Flüchtlinge geschlossen
werden sollen, schmiedet sie mit ihren drei besten
Freunden einen Plan – und die Ereignisse über-
schlagen sich: ein Brief an die Queen, der nicht
beantwortet wird; ein gescheiterter Besuch im
Buckingham Palace; Berichte in Zeitung und
Fernsehen. Am glücklichen Ende reibt man sich
die Augen über dieses moderne Märchen, das man
unbedingt glauben will. BRIGITTE JAKOBEIT

Onjali Q. Raúf: Der Junge aus der letzten Reihe.
Atrium 2020; 288 S., 15,– €; ab 8 Jahren

Die Kleinsten und Schwächsten sind von jeher be-
liebte Helden, erst recht im Bilderbuch, das sich ja
an die Kleinsten und Schwächsten der Gesellschaft
richtet. Quappi, die Kaulquappe des gleichnamigen
Bilderbuchs von Benji Davies, ist somit eine vortreff-
liche Heldin: der »kleinste Fast-schon-ein-Frosch im
gesamten großen Teich«. Immer hechelt sie ihren
Kaulquappenbrüdern und -schwestern hinterher;
muss schneller mit dem Schwanz wackeln, um nicht
den Anschluss zu verlieren. Schnell zu sein, das ist
nicht unwichtig in diesem großen Teich. Denn wer
trödelt, wird von Großmaul geholt, einem dicken,
bösen Fisch, der irgendwo in den sumpfigen Tiefen
herumdümpelt. Quappi glaubt nicht an das Untier,
bis ein Geschwister nach dem nächsten verschwindet
und sie schließlich allein zurückbleibt ...
Wunderbar fängt Davies in Text und Bild ein, wie
sich in das kindliche Allmachtsgefühl der Zweifel
einschleicht. Auf flächige Hintergründe setzt er
leuchtende Farbpunkte, verleiht Großmaul gekonnt
seinen Grimm und Quappi ihre Gewitztheit. Die
darf am Ende mit elegantem Sprung zum Frosch
werden – und an Land alte Bekannte treffen.
Dieses Verpuppungs-Naturspektakel könnte man
eigentlich derzeit draußen an den Teichen und Tüm-
peln ausgiebig beobachten. Aber wenn man nur zum
kurzen Kinderlüften vor die Tür geht, ist Quappi der
denkbar beste Trost. KATRIN HÖRNLEIN

Benji Davies: Quappi.
Aladin 2020; 32 S., 15,– €; ab 4 Jahren

Eigentlich mag ich keine Kinderbücher, die mich von
einer guten Sache überzeugen wollen. Ob es um den
Verzicht auf Plastik geht oder um das Ablegen von
Vorurteilen – meistens leidet unter einer guten Ab-
sicht die Geschichte. Bei Der Katze ist es ganz egal ist
es anders. Das Buch erzählt von einem besonderen
Tag im Leben des zehnjährigen Leo aus Wien. Dem
Tag, an dem er aufwacht und feststellt, dass er kein
Leo, sondern eine Jennifer ist. Wobei das Neue nur
der Name ist. Jennifer wusste schon lange: »Ich hab
einen Penis und bin ein Mädchen.«
Die gute Absicht ist in diesem Fall also ein bes-
seres Verständnis für Transidentität. Das fällt Jenni-
fers Eltern unterschiedlich schwer; nur der Katze, die
dem Kind auf dem Schulweg um die Beine streicht,
ist die Gender-Frage wurscht. Weil der Tag aber kom-
pliziert weitergeht, muss Jennifer leider die Schule
schwänzen und einige Abenteuer erleben, Schwarz-
fahren und Cross-Dressing inklusive. Am Ende löst
sich alles dank guter Freunde auf, was sich viel weni-
ger hölzern liest, als es klingt, und wohl vor allem an
dem Hauch Wiener Schmäh liegt: Mit seiner leicht
abgeranzten Lässigkeit geht sich am Ende alles ir-
gendwie aus. So kompliziert ist das Ganze auch
wieder nicht, meint Jennifer: »Ich bin niemand an-
derer als früher – außer dass ich einer Verwechslung
auf die Spur gekommen bin.« ANJA ROBERT

Franz Orghandl/Theresa Strozyk (Ill.): Der Katze ist
es ganz egal. Klett Kinderbuch 2020; 104 S., 13,– €;
ab 9 Jahren

Mitte? Ist so mittel Die Senioren-Retter Granatapfel-Lächeln Sei ein Frosch! Jennifer mit Penis


Was tun gegen den Familien-Lagerkoller? Lesen! Fünf Extra-Empfehlungen der LUCHS-Juroren


Jeden Monat vergeben die ZEIT und Radio
Bremen den LUCHS-Preis für
Kinder- und Jugendliteratur. Aus den zwölf
Monatspreisträgern wird der
Jahres-LUCHS gekürt. Mehr zum
Gewinnerbuch des Monats auch unter
http://www.radiobremen.de/luchs

LUCHS Nº 399


  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 KINDER- & JUGENDBUCH^53

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