Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

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Aus der Klaus


D


ie Straße, in der Moritz
Sachs in Köln wohnt,
Spaziernähe zum Rhein,
macht einen sehr adret-
ten Eindruck, so sehr,
dass man sagen muss:
Die hätte auch als Ku-
lisse für die Lindenstraße getaugt. Dann
stellt man aber fest: Das hier sind Einfami-
lienhäuser. Sachs hat also geschafft, was
Klaus Beimer nie vergönnt war: Er hat ein
Haus für sich. Und lebt nicht auf ewig in
einer Wohnung, wie all diejenigen, die in
der Lindenstraße zu Hause waren.
Schön hat er es hier. Und schön hatte er es
dort. Oder? Er lächelt. Fummelt einen Tabak-
stick ins Dampfgerät. Kontrolliertes Erhitzen,
genau das ist auch unser Plan. Sich noch mal
an vieles ranfühlen, sein Leben erklären, wäh-
rend wir gemeinsam die allerletzte Folge der
Lindenstraße sehen, alles auf den Tisch, und
den dafür mal freiräumen, bitte. Weg mit den
Lindenstraßen-Drehbüchern, die da liegen, weg
mit der geldwertlosen, aber an sentimentalem
Wert natürlich nicht zu überbietenden
Kantinenkarte vom Lindenstraßen-Set.
Bei der Begrüßung hat dieser Sachs gesagt:
»Heute muss ich nicht weinen, das ist Arbeit
für mich, das hat was Sachliches.« Das wollen
wir doch mal sehen. Folge ab, bitte.
Jede Soap besteht vor allem aus zwei Ele-
menten – Zopfdramaturgie und Cliffhanger.
Die Handlungsstränge der Serie sind wie
zu einem Haarzopf verflochten, jede Folge
mündet in einen Cliffhanger. Wenn der Zopf
jetzt abgeschnitten wird, ist der Cliffhanger
natürlich: Wie verkraftet Sachs das?
34 Jahre und 1758 Folgen lang war er
Klaus Beimer, und wer jetzt nicht weiß, wer
das ist, muss diesen Text erst gar nicht lesen
oder sollte es ganz unbedingt tun.
Da, die Titelmelodie, diese Streicherfan-
fare, die urplötzlich umbricht in eine selige
Mundharmonikaweise, Drama und Heime-
ligkeit, in ihrer Wiedererkennbarkeit nur vom
Tatort getoppt. Hatte Sachs die mal als Klin-
gelton? Nee, nie. Er erzählt, dass er auch nie
Mer chan dise gesammelt hat, jedenfalls bis vor
Kurzem. Dann springt er auf, wir drücken
Pause, und kommt mit einer Lindenstraßen-
Kappe aus seinem Wintergarten, zeigt die
Lindenstraßen-Kaffeetasse, und ach ja, diese
Couch sei übrigens die der Angelina Dressler
aus der Lindenstraße. Er hat sie gekauft, als der
Cast den Fundus flöhen durfte. Manche
sammeln in einer Beziehung Dinge an und
entsorgen sie nach deren Ende, um zu ver-
gessen. Sachs klaubt nun zusammen, was er
kriegen kann, um sich zu erinnern.
Weiter? Weiter. Rückblende nach dem
Intro. Was bisher geschah: Anna Ziegler, die
Mutter Beimer einst ihren Hans ausgespannt
hatte, will sich von ihrem aktuellen Liebhaber,
dem sympathischen Bauunternehmer Wolf

Lohmaier, trennen. Allerdings macht der ihr
im selben Moment einen Antrag. Das Treffen
auf der Baustelle eskaliert, Lohmaier stürzt in
den Tod, was wiederum Helga Beimer eben-
so heimlich beobachtet wie Angelina Dressler,
die unsympathische Luxusfrau, die sich einst
von Dr. Ludwig Dressler adoptieren ließ. Sie
kommen noch mit?
Natürlich ist schon die Rückblende völlig
wahnwitzig, allerdings ist darin auch alles
enthalten, was das Format seit 1985 in die
Wohnzimmer getragen hat: Liebe, Hass, Tod
und Eifersucht, die ganze Bandbreite einer
kaputt-heilen Vor abend welt, in der sich alles
immer zum Besten oder eben zum Schlech-
testen wenden konnte. »Bah!«, ruft Sachs auf
seiner Angelina-Couch, im Sog der ihm wohl-
bekannten, deshalb aber nicht minder wir-
kungsvollen Eskalationslogik gefangen.
Rückblende ins Leben von diesem Moritz
Sachs. Was bisher geschah: Er ist fünf Jahre
alt, als ihn ein Scout auf einem Kölner Spiel-
platz entdeckt. Man kann das nachlesen in
seinem Buch, das Ende März erschienen ist:
Ich war Klaus Beimer – Mein Leben in der
Lindenstraße. Damals ließen sich die Fernseh-
sender noch an einer Hand abzählen. Das
erste Casting ließ Moritz für einen Kinder-
geburtstag sausen, beim zweiten bekam er die
Rolle. Als seine Eltern den Vertrag unter-
schrieben, sagte Hans W. Geißendörfer,
Schöpfer der Serie, zur Mutter: »Kaufen Sie
sich von der Gage Ihres Jungen aber bitte
keinen Pelzmantel.« Die erboste Mutter ließ
den Vertrag deshalb fast platzen.
Die erste Soap der Republik ging durch
die Decke, elf Millionen Zuschauer, kon-
stant. Familien versammelten sich sonntags
vor dem Fernseher, Punkbands beschrien
die Serie in Songs, die LGBT-Community
bekam den ersten schwulen Fernsehserien-
kuss. Alle schauten zu, auch die, die sagten,
sie schauten auf keinen Fall. Damals konn-
te Sachs kaum aus dem Haus, ohne von
Groupies in die Enge geliebt zu werden.
Einmal brauchte er bei einem Schulausflug
für die 100 Meter vom Kölner Dom ins
Römisch-Germanische Museum zwei Stun-
den, weil Fans ihn umringten.
Sachs hat sein Leben im Takt der Linden-
straße gelebt. Hat Zivildienst geleistet und ein
Studium abgebrochen, ist dick geworden und
dünn und wieder dick und noch mal dünn,
hat Höhen und Tiefen im Privaten erlebt und
ist über diese unfassbar lange Zeit immer auch
Klaus Beimer geblieben. Es besteht die Gefahr,
dass er ihn selbst nach dem Serien-Aus nicht
loswird. Er sieht ihm einfach zu ähnlich.
Weiter bitte! Anna Ziegler hat auf der
Polizeistelle falsch ausgesagt, berichtet sie ei-
ner Vertrauten, großartigerweise noch in
derselben Polizeistation sitzend. Dann weint
sie, und Sachs ooocht mit, offenbar ohne das
allzu ironisch zu meinen. Wann taucht er end-

lich selbst auf? Da, Auftritt Klaus, wie er an
seiner Serientochter Mila die Rede übt, die er
zum 80. Geburtstag von Mutter Helga halten
will. Das ist der Spannungsbogen fürs Finale:
ein runder Geburtstag, zu dem alle noch mal
zusammenkommen. Ein bisschen mehr wäre
schon gegangen, denkt man sich, fragt man
ihn. Wie in Folge 565, als die radikale Tier-
schützerin Julia ihren Klausi zum Vegetaris-
mus bekehrt, dann aber leider an einer Toll-
wutinfektion stirbt. Oder Folge 121, als Alt-
nazi Franz dem jungen Klausi beibringt, mit
dem Luftgewehr aus dem Zimmer auf ein
Straßenschild zu schießen, nur dass Klausi
dann den vorbeifahrenden Stefan Nossek ins
Gesicht trifft, der erblindet und vor ein Auto
läuft, woraufhin sich der traumatisierte Klau-
si wochenlang blind stellt. Das ist die eta blier-
te Problemschwere, an der man das Finale
misst. Aber das größte Drama ist diesmal eben
das Ende der Serie selbst. »Ich finde es ei-
gentlich schön so«, sagt Sachs, »die Szenen
waren sowieso schon unfassbar schwer zu
drehen, jede einzelne war ein Abschied.«
Wo man ihn nun quasi in einer Doppel-
belichtung hat, im TV und hier im Haus,
merkt man: Klaus spricht, wie Sachs spricht,
Klaus guckt, wie Sachs guckt, der aber anders
geht als Klaus, was daran liegt, dass Klaus in
der ewigen Drinnenwelt der Lindenstraße oft
Schlappen trug. Nie wurde die Untrennbar-
keit der beiden allerdings so deutlich wie in
den Jahren, als Sachs mit seinem Gewicht
kämpfte. Essgestört hatte er sich damals auf
120 Kilo gefuttert, später mehr als 40 Kilo
abgenommen. Im Drehbuch vorgesehen war
das nicht, und weil Szenen nicht chronolo-
gisch gedreht werden, sah man bisweilen Klaus
in der Lindenstraße mit 120 Kilo aus der Tür
gehen, auf der Straße mit 105 Kilo ankom-
men und im griechischen Restaurant Akro-
polis mit 95 Kilo sitzen. So eine Rolle kann
einen tragen. Aber man trägt auch an ihr.
Zweimal hätte Sachs sich fast verabschie-
det. Nach dem Abitur wollte er auf Weltreise.
Die Produktion kam ihm entgegen, verschob
seine Drehzeiten und ließ ihn einmal einflie-
gen. Auf dieser Reise beschloss Sachs, Regie
führen zu wollen. Er hospitierte und assistier-
te, fernab der Lindenstraße. Er fing wieder ganz
unten an. Seitdem hat er etliche Jobs nebenher
gemacht, Produktionen betreut, sich etwas
aufgebaut. »Es ist ja nicht so, dass ich mir mit
der Schauspielerei einen Traum erfüllt habe.
Ich wurde Schauspieler, bevor ich den Traum
hätte haben können.« Einmal hätte er eine
Regieassistenz bei einer internationalen Kino-
großproduktion machen sollen. Auch da ging
er nicht, obwohl es knapp war. Und er sagt
jetzt, fast beiläufig: »Ich werde immer Klaus
Beimer bleiben. Dass ich noch mal etwas
mache, was das überlagert, ist fast unmöglich.«
Um das zu verdauen, bitte weiterlaufen
lassen. Wo sind wir? Ah, im Hausflur, Linden-

straße 3, okay. In der allerletzten Folge ziehen
tatsächlich noch mal neue Leute ein, denen
Mutter Beimer erklärt: »Sie müssen wissen,
wir sind eine ganz besondere Hausgemein-
schaft, hier kennt jeder jeden, und wir haben
so viel mit ein an der durchgemacht.« Auf
seiner Couch nickt Sachs in sich hinein, Pause
bitte: Wann war er am durchsten?
Sachs: »Als ich das mit den Fehlgeburten
spielen musste und wir das selbst gerade privat
erlebt hatten. Das Gefühl vergesse ich nicht.«
Schweigen in Köln-Merkenich. Dass Klaus
Beimer mehrere Fehlgeburten erlebt, mit
Nina, mit Neyla, das wusste man. Dass Mo-
ritz Sachs drei Fehlgeburten erlebt hat mit
seiner Frau Sabine, das wusste man nicht.
Auch nicht die Drehbuchautoren, und Sachs
hat ihnen nichts gesagt. »Aber mit jedem Satz,
mit jedem Blick kam das hoch«, erinnert er
sich. Er hat damit gehadert, wie die Szenen
geschrieben waren. »Ich habe mich unendlich
einsam gefühlt beim Frauenarzt. Es wird
leider oft vergessen, dass auch die Männer
leiden. Es heißt dann: Ihr tragt das Kind ja
nicht in euch. Als ob das eine Erklärung dafür
wäre, dass man ein totes Kind nicht betrauern
darf.« Das Lindenstraßen-Drehbuch sah vor,
dass Klaus sein eigener Schmerz gar nicht
kümmert. Man könnte sagen: Dass Klaus
nicht richtig traurig sein durfte, hat Sachs, der
sehr getrauert hat, verstört.
Wie jetzt weiter? Helga Beimer würde ein
Ei in die Pfanne schlagen. Das hat sie immer
getan, wenn es unaussprechlich tragisch, intim
oder dramatisch wurde. Und auf dem Bild-
schirm schlägt Helga Beimer auch jetzt wieder
ein Ei in die Pfanne, man ahnt: Es wird ernst
in der finalen Folge. Aha, sie spricht die ewige
Rivalin Anna Ziegler bei der Polizei frei.
Mutige, maßlos integre Helga Beimer.
Man hätte es natürlich jetzt schon gern,
wenn sich Sachs noch mal richtig aufregen
würde über den WDR, der ihm da einfach
ein Dreiviertelstück seiner Biografie raus-
gebrochen hat. Den Gefallen tut er einem
aber nicht. Als ungerecht empfunden habe
er nicht das Ende an sich, sondern dass man
ihm kündigen konnte, nach 34 Jahren Fest-
anstellung. Und den Kollegen auch. »Mach
das mal bei Ford. Bei Rossmann. Niemand
hat davon gesprochen, dass Arbeits plätze
verloren gehen. Es ging in der Öffentlich-
keit nur um die Serie.«
Sachs hat viel verdient, viel weggelegt
hat er nicht. Was auch daran liegt, dass er
2014 mit einer Musical-GmbH pleiteging
und die Schulden dieser Privatinsolvenz bis
heute tilgt. Irgendwann fuhr er folglich, wie
die meisten aus dem Cast, zum Arbeitsamt.
Für ihn eine völlig neue Situation, für freie
Filmschaffende aber eigentlich total nor-
mal. Sachs holt Erfahrungen nach, die fast
alle, die nicht Klaus Beimer waren, längst
gemacht haben. Vielleicht gehört dazu

auch: ein bisschen Existenzangst. Als Regie-
assistent und Produktionsleiter fühlt er sich
gut aufgestellt. »Es kann aber auch sein,
dass gar nichts reinkommt, besonders we-
gen Corona.« Sachs sagt, Dauerserien-
darsteller gewesen zu sein habe für die Ar-
beit hinter der Kamera keinen Wert an sich.
Bisschen traurig: Jetzt hat dieser Mann
deutsche Fernsehgeschichte mitgeschrieben


  • und darf damit nicht mal kokettieren.
    Was bleibt von seinem Klaus? Er war Neo-
    nazi, Soziologe, Journalist und arbeitslos, zwei
    Scheidungen, zwei uneheliche Kinder, er hat
    mit seiner Stiefschwester geschlafen und
    wurde von seiner Ex vergewaltigt, um mal ein
    paar der schillerndsten Eckpunkte zu nennen.
    Da wurden mehrere Leben zu einem ver-
    dichtet, und trotzdem ist vieles davon Klaus
    nur passiert. Er sich selbst eigentlich auch.
    Man muss sich ihn ja nur angucken, wie
    er jetzt wieder dasteht, der Klaus im Fernse-
    hen, alles ist fürs Finale bereitet: Hemdkragen
    bisschen zu eng, Anzug bisschen zu weit.
    Lackschuhe zur Geburtstagsnervosität. Bei-
    mer war immer der Typ Durchschnittsdeut-
    scher, der man selbst nie werden wollte, von
    dem man zugleich aber schon dumpf ahnte,
    dass man es längst war. »Ja, ein Lieber, den
    kann man mögen«, ruft Sachs, Pausen-Taste
    drückend. »Klaus war meist angepasst, eher
    ein Mitläufer. Ich würde mich freuen, wenn
    man ihn nicht nur als kleinen Klausi ohne
    Rückgrat erinnert, sondern auch als gestan-
    denen Mann und guten Vater. Klaus wollte
    immer gemocht werden. Ich gönne ihm das.«
    Play, tolles Timing, ein Nachbar fegt ins Bild
    und ruft, Beimer sichtlich mögend: »Na,
    Klausi, wie isses?«
    Moritz Sachs hat viermal verschlafen in
    34 Jahren. Er ist in der Schule verprügelt
    worden für diese Rolle. Er hat auch im Winter
    die Drehbücher im Garten gelernt, im Ski-
    anzug dann. Seit 1985 war er nicht mehr beim
    Friseur. Sachs besitzt nicht mal einen Rasier-
    apparat. Jetzt kann er sich einen Bart wachsen
    lassen, über seine Erscheinung frei entschei-
    den, es gibt dafür kein Drehbuch mehr.
    Auf der erwähnten Kantinenkarte steht,
    ganz unten, ganz klein: plus/minus null. Ein
    wenig mehr ist von den Jahren geblieben.
    Das merkt man letztgültig nun, als im Fern-
    seher die Streicher losstreichen, die Gäste von
    Helga Beimer eintrudeln und er, Klaus Bei-
    mer, sie begrüßt, küsst und ins Akropolis
    schickt. Auf Nimmerwiedersehen. Jack
    Aichinger, Georg Eschweiler, Gung Pham
    Kien und viele mehr. Dann verlässt Klaus
    Beimer die Lindenstraße und geht, nein,
    schlurft für immer davon. Und in Köln-
    Merkenich sitzt Moritz Sachs auf seiner
    Angelina-Couch und weint ganz stumm, die
    Hand vorm Gesicht. Und vielleicht muss so
    auch dieser Text enden. Mit einem Mann,
    der von sich selbst Abschied nimmt.


34 Jahre lang spielte Moritz Sachs den Klaus Beimer. Bis zum Ende der »Lindenstraße«. Und jetzt? VON MORITZ HERRMANN


897


150 Meter

ist die

Lindenstraße lang
8 bis 12 Wochen

wurden

die Folgen im Voraus gedreht

Hans Beimer stirbt
2018 an Parkinson

Moritz Sachs zu Beginn und am Ende der Dreharbeiten

Benny Beimer

kommt 1995 bei

einem Busunglück ums Leben

Helga Beimer

war wie ihr Sohn

Klaus von Folge 1 an dabei


Marion Beimer
zieht 2006 weg

56 Todesfälle


gab es in der Lindenstraße


21 Kinder

wurden in der Serie geboren

ENTDECKEN


Stunden Sendezeit umfassen
alle Folgen am Stück

Fotos: Julia Sellmann für DIE ZEIT; kl. Fotos: action press

1995:
6,7 Mio.

1985:
14,3 Mio.

2005:
4,5 Mio.

2015:
2,5 Mio.

2020:
2,3 Mio.

Zuschauerzahl
Jahresdurchschnitt

Quelle: WDR
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