Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

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58 2. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15


Die Liste


A


Von Clemens J. Setz


Das Dekameron-Projekt / Folge 2


Als im 14. Jahrhundert in Europa die Pest wütete, schrieb der italienische Schriftsteller Giovanni Boccaccio seine
Novellensammlung »Das Dekameron«, eines der berühmtesten Werke der Weltliteratur. Zehn junge Edelleute
fliehen vor der Seuche in ein Landhaus bei Florenz und vertreiben sich die Zeit, indem sie einander Geschichten erzählen.

Wir haben zehn Autorinnen und Autoren um eine zeitgenössische Neuauflage gebeten. Während der kommenden
Wochen werden sie uns Geschichten erzählen, die um die großen Dinge des Lebens kreisen:
Liebe und Tod, Freundschaft und Macht. Die zweite Folge stammt von Clemens J. Setz. Sein Thema: Sorge.

Es schreiben: Nora Bossong, Theresia Enzensberger, Nora Gantenbrink, Karen Köhler,
Eva Menasse, Tilman Rammstedt, Leif Randt, Ingo Schulze, Clemens J. Setz, Jackie Thomae

Illustration: Felix Eckhardt für DIE ZEIT

lbert erzählt mir in der Mittagspause, dass
sein Sohn operiert werden muss. Der Junge
hat ein sogenanntes Akustikus-Neurinom.
Das ist ein gutartiger Hirntumor, der
Schwindelgefühle und sogar lästige, an Be-
trunkenheit erinnernde Zustände verursa-
chen kann, darüber hinaus Sehfeldein-
schränkungen und ganz besonders Verän-
derungen des Hörsinns. Auf dem rechten
Ohr hört der Junge schon seit längerer Zeit
kaum etwas. Als dann auch seine Leistun-
gen in der Schule dahinzuschwinden be-
gannen, wurden die Eltern besorgt.
Gutartig. Immerhin das. Aber das Wort
bedeutet nicht viel, wenn das Ding in der
Nähe des Gehirns wächst. Es muss auf je-
den Fall operiert werden. Und da besteht,
wie Albert erklärt, wiederum die Gefahr,
dass der Gesichtsnerv beschädigt wird und
dauerhaft gelähmt bleibt. Der Lage des
Tumors nach zu urteilen, ist das sogar recht
wahrscheinlich.
»Dann hätte er ein schiefes Gesicht.«
»Ich verstehe.«
»Und vielleicht sein Leben lang so einen
komischen Ausdruck. Stell dir vor, was sie
dann mit ihm machen.«

Draußen vorm Fenster die im Föhnwetter
schwebenden Gebäude. Die zur Säule auf-
gestellte Schranke auf dem Parkplatz. Und
in der Ferne der Storchschnabel-Dialog
eini ger Baukräne, oben am neu entstehen-
den Nordbahnviertel.
Ein wenig erstaunt es mich, dass wir in
der Darstellung des Falls so schnell an die-
sem Punkt angekommen sind: bei der
möglichen Rache von Mitschülern für das
veränderte Aussehen des Jungen nach der
Operation.
Man muss natürlich alles durchdenken.
Aber ich kann irgendwie nichts darauf ant-
worten. Am Fenster bewegt sich etwas un-
erhört Nahes vorbei, aber es ist nur ein sehr
heller Haarschopf.
Albert erzählt weiter. Details über die
Untersuchungen, die noch anstehen.
Er wirkt nicht wirklich verzweifelt. Aber
ich nehme an, er hat einige der Phasen bereits
hinter sich. Die mit Verdrängung und die mit
Auflehnung und so weiter. Ich hab vergessen,
welche als letzte kommt. Akzeptanz, glaub
ich? Wobei mir nie klar war, was passiert,
wenn die bereits als erste kam.
Ich halte während der Unterhaltung
einen Plastikbecher in der Hand. Hin und
wieder, wenn irgendetwas total Sinn ergibt,
tippe ich mir mit dem Becherrand ans
Kinn und sage Ja oder Genau.
»Also auf jeden Fall keine Gefahr für
das Gehirn.«
»Ja, genau«, sage ich. »Das ist das Wich-
tigste.«
»Zwei Untersuchungen haben wir
noch, aber nichts Zentrales mehr.«
»Ja, knock on wood.«
Ich tippe mit dem Plastikbecher gegen
die Kühlschranktür.
»Das hat der Arzt beim Gespräch wirk-
lich gleich als Erstes klargestellt. Es ist
nichts mit so Lebensgefahr, nichts, wo du
weit aufbohren musst.«
»Genau, keine Lebensgefahr«, sage ich.
Und ich seufze, unabsichtlich.

Das Hauptproblem im Moment, sagt Albert,
sei eher der Begriff Hirntumor. Zu Hause
wurde anfangs versucht, ihn ganz zu ver-
meiden. Aber bei einem Dreizehnjährigen?
Mit Internet? Kannst du vergessen. Das ist
genau dieses ungute Alter, wo sie bereits alle
Informationskanäle der Erwachsenenwelt
kennen, aber noch nicht die innere Festigkeit
besitzen, um zu –
Albert macht so ein Fade- out mit seiner
Stimme, weil jemand reinkommt. Zwei
Frauen aus der Verwaltung. Sie suchen
Zeitungen, glaub ich. Ich grüße.
Jedenfalls das Wort Hirntumor. Darü-
ber redet der Junge nun die ganze Zeit und
steigert sich sehr hinein.
»Ja, genau«, sage ich, »also denkt er, er
ist doch in Lebensgefahr und ihr belügt
ihn nur oder so?«
Albert schüttelt den Kopf.
»Nein, nein. Er denkt nur, er wird alles
vergessen. Weil sein Modell, also das einzige,
das er kennt, wo das Gehirn irgendwie betei-
ligt war, das einzige Erklärmodell, das er im
Augenblick hat – das ist sein Opa, der leider
niemanden mehr erkennt.«
»Ach so«, sage ich. »Ja. Genau. Also
denkt er, er weiß nach der Operation
nichts mehr.«
»Ja.«
»Kinder, hm«, sage ich.
Albert erklärt, sein Sohn habe Angst, dass er
die wichtigsten Dinge in seinem Leben nach
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