Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

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Ana Kraš steht vor einem heruntergekommenen Haus im


Belgrader Stadtteil Braće Jerković. An einigen Fenstern sind
die schmutzig weißen Jalousien heruntergelassen. Der Putz


bröckelt von den Balkonvorsprüngen. Das Haus ist un-
scheinbar, verwahrlost, ein Gebäude, für das sich niemand


mehr interessiert. Aber Ana Kraš hat hier gerade etwas
gesehen, das ihr gefällt: einen hauchdünnen Netzstoff, den


jemand vor ein Fenster gehängt hat und der im Licht der
Mittagssonne schwach schimmert. »Siehst du diesen Stoff


da oben?«, fragt Kraš. »Der könnte auch in einem Show-
room von Margiela sein. Lustig! Und so zart. Das finde ich


wunderschön. Das ist für mich Belgrad.«
Ana Kraš, 1984 geboren, lebt eigentlich in New York. Dort


gilt sie seit einigen Jahren als eine der aufregendsten jungen



  • ja, was eigentlich: Designerinnen? Fotografinnen? Künst-


lerinnen? Ana Kraš entwirft Stühle, Lampen und Tische,
darunter eine Leuchte namens »Bonbon«, deren Schirm


mit bunten Fäden umwickelt ist, und ein Tisch, der auf
dicken runden Säulen steht und »Slon« heißt, Serbisch für


»Elefant«. Sie fotografiert Lookbooks für das New Yorker
Label Maryam Nassir Zadeh und gestaltet Laufstegkulissen


für die Schauen des dänischen Modehauses Ganni. Ge-
legentlich modelt sie. Sie hat Badeanzüge entworfen und


T-Shirts, die mit ihren Fotos bedruckt sind. Sie hat einen
viel beachteten Bildband herausgebracht und ist als Gast-


sängerin mit dem Musiker Devendra Banhart aufgetreten.
Ana Kraš macht von fast allem ein bisschen, sie wechselt


mit Leichtigkeit zwischen den Handwerken, und wenn man
sich ihr Leben in New York anschaut, wo sie in einem Loft


in Chinatown wohnt und arbeitet, mit Mode designern
und Architekten befreundet ist und von der New York


Times und der Vogue als »It-Girl« und »star of the moment«
bezeichnet wird, dann könnte man meinen, sie sei eine


Frau aus einer Welt, in der immer alle Türen offen standen,
durch die sie nur hindurchlaufen musste, um sich von allem


das Beste auszusuchen.
Aber tatsächlich kommt Ana Kraš aus Belgrad. In dieser


Stadt wuchs sie während des Jugoslawien-Kriegs in einer Zwei-
zimmerwohnung in Braće Jerković auf, ihre Eltern waren


Besitzer eines kleinen Copyshops. Dort zeichnete sie als
Kind auf den Rückseiten alter Kopien und bastelte Colla-


gen aus den Papierschnipseln, die aus der Schneidemaschine
fielen. Es ist ungewöhnlich, dass jemandem aus einer Welt


mit so wenig Möglichkeiten der Aufstieg nach ganz oben ge-
lingt, in die kreative High Society einer der einflussreichsten


Städte. Ana Kraš hat es geschafft – und dabei trotzdem nie
vergessen, woher sie kommt. Wie hat Belgrad sie geprägt?


Was hat diese Stadt mit ihrem Erfolg zu tun? Um das zu ver-
stehen, muss man mit Ana Kraš ihre alte Heimat besuchen.


Die Straße, in der sie groß geworden ist und in der ihre
Mutter heute immer noch lebt, heißt Meštrovićeva. Hier


sehen die meisten Häuser aus wie jenes, an dem Ana Kraš
später an diesem Tag den hauchdünnen Netzschleier ent-


decken wird: hellbeige Klötze aus den Sechzigerjahren,
Graffiti, Klimaanlagen an den Fassaden. An einem Spiel-


platz zwischen den Wohnblocks hat jemand Wäsche auf
einer zwischen zwei Bäumen gespannten Leine aufgehängt.
Nur wenige Wochen später wird die Corona-Krise auch
hier die Leute in ihre Wohnungen verbannen, werden auch
hier die Straßen ausgestorben sein, aber an diesem Tag Ende
Januar herrscht in Braće Jerković noch geschäftiger Alltag.
Zwei Männer heben gerade eine Waschmaschine aus einem
Auto. Eine ältere Frau mit Einkaufstüte in der Hand steigt
die Treppe zu einem Haus hinauf. Es ist Mira Kraš, Anas
Mutter. Sie hat gerade Börek fürs Frühstück gekauft.
Oben in der Wohnung sitzt Ana Kraš, ein Bein angewin-
kelt, am Küchentisch, ihre rosa Socken passen zur Lack-
farbe ihrer Fingernägel. Auf den ersten Blick wirkt sie mäd-
chenhaft, aber sie hat auch etwas Androgynes an sich, eine
ungestüme, fast kindliche Art. In New York fährt sie ein
Männerrennrad und boxt, außerdem träumt sie von einem
Schäferhund. Ihre Stimme ist laut, sie redet viel und legt
einem dabei oft mit eindringlichem Blick die Hand auf
den Arm. Zwischendurch wechselt sie ins Serbische, um
etwas zu ihrer Mutter zu sagen, sie klingt dann ein wenig
polternd. »Du denkst wahrscheinlich, wir streiten uns«,
unterbricht sie sich zwischendurch selbst und grinst. »Aber
so klingt ein ganz normales, liebevolles Gespräch auf Ser-
bisch.« Mira Kraš stellt Teller mit dem Gebäck und zwei
Gläser mit einem Joghurtgetränk auf den Tisch. Das ist für
Ana Kraš Zuhause: mit Spinat und Käse gefüllter Filoteig,
die grün- beige gestreifte Tapete im Flur, der Blick in den
Park vor dem Haus. Im Sommer kann man vom Balkon
aus die Blätter an den Bäumen berühren.
Ana Kraš hat bis zu ihrem 27. Lebensjahr in Belgrad ge-
lebt, nach der Schule studierte sie hier Möbeldesign an der
Universität für angewandte Künste. Neben dem Studium
arbeitete sie als Model und entwarf Flyer für Nachtclubs
und Zeitungsanzeigen für Reisebüros. Eines Tages bekam
sie mit, dass eine gemeinnützige Organisation plante, aus-
gewählten serbischen Jungdesignern die Teilnahme an
der für Nachwuchsdesigner reservierten Satellite-Ausstel-
lung des Salone del Mobile zu ermöglichen, der weltweit
wichtigsten Möbelmesse, die einmal im Jahr in Mailand
stattfindet. Interessierte sollten anonym ihre Projekte ein-
reichen. Ana Kraš’ Entwurf für einen Stuhl aus Sperrholz
wurde ausgewählt. Im Jahr darauf, 2010, nahm sie wieder
teil und reichte dieses Mal vier Projekte ein, darunter ihre
»Bonbon«-Lampe. Unter den sechs Projekten, die ausge-
wählt wurden, waren alle vier von Ana Kraš. Dieses Mal
reiste sie nach Mailand zur Ausstellung – und wurde dort
mit Lob überhäuft, vor allem für den »Bonbon«-Entwurf.
»Es war ein totaler Schock«, erinnert sie sich. »Die Leute wa-
ren begeistert von dieser Lampe. Alle wollten sie kaufen oder
produzieren. Ich musste erst mal alle Angebote ablehnen


  • ich hatte ja nur meine Prototypen dabei, die ich selbst von
    Hand gebaut hatte.« Der Idee für »Bonbon« war ursprüng-
    lich ein anderer Entwurf vorausgegangen: eine Lampe mit
    einem nackten Schirmgestell, über das man anstelle eines
    Bezugs Kleidung oder Tücher werfen kann – eine


Von CLAIRE BEERMANN


[^ S.29^ ]

Fotos ANA KRAŠ
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