Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

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die als Kostümbildnerin arbeitet, und seine Tochter Hana,


die ebenfalls Grafikerin ist, sitzen rauchend im Wohnzim­
mer, es gibt Tee und eine Art Apfelstrudel. »Als ich klein


war, war das hier das ungewöhnlichste Haus, das ich je ge­
sehen hatte«, sagt Ana Kraš. »Es fühlte sich so offen und frei


an, und es war voller interessanter Sachen. Bata und Svet­
lana waren ständig damit beschäftigt, irgendwelche Dinge


zu gestalten.« Im Atelier im Keller des Hauses zeigt uns Bata
Knežević Arbeitstische und Regale, die er selbst mit feinen


Farbspritzern verziert hat, Siebdruckposter, die er für Thea­
ter und Museen entwarf, und die Früchte seiner neuesten


Leidenschaft, der Malerei: grellbunte Gemälde von Spie­
geleiern, Wassermelonen und Atompilzen. Dass man sich


nicht auf eine Kunstform konzentrieren muss, sondern sehr
gut alles durch ein an der machen kann – das konnte Ana


Kraš sich auch bei ihrem Patenonkel abschauen.
Am Tag darauf unternehmen wir eine Spazierfahrt durch


Neu­Belgrad, den Bezirk, der von der Altstadt durch die
Save getrennt ist. Nach dem Vorbild der Stadtplanungen


des französischen Architekten Le Corbusier entstand dort
nach dem Zweiten Weltkrieg ein modernes Wohngebiet:


Bauten im brutalistischen Stil, angelegt auf nummerierten
Blocks, dazwischen Spielplätze und Parks. Nach dem Zer­


fall Jugoslawiens und der Privatisierung von Wohnungen
wurden viele Gebäude und Plätze aus Geldmangel ver­


nachlässigt. Trotzdem ist die Architektur von Neu­Belgrad
immer noch eindrucksvoll. Hier steht auch ein Wahrzei­


chen der Stadt, der 115 Meter hohe Genex­Turm aus zwei
Hochhäusern, die wie zwei Vorderzähne mit Lücke in den


Himmel ragen.
Ana Kraš möchte aber woandershin: zum SIV­Gebäude,


einem flachen, sandfarbenen Komplex in H­Form, der
1962 als Regierungsgebäude Jugoslawiens fertiggestellt


wurde (SIV, kurz für Savezno izvršno veće, Bundesexekutiv­
rat, bezeichnete die Bundesregierung Jugoslawiens). Rings­


um liegen gepflegte grüne Wiesen, vor dem Hauptein­
gang erstreckt sich ein gigantischer Vorplatz. Eine erhabene


Stille umgibt den Bau. Kraš macht ein paar Fotos aus dem
fahrenden Auto; als sie sich mit der Kamera in der Hand


zu Fuß dem Gebäude nähert, wird sie von Wächtern ver­
trieben. Sie dreht sich achselzuckend um und macht statt­


dessen ein Bild von einem nahe gelegenen Hochhaus mit
Coca­Cola­Schriftzug auf dem Dach.


Seit 2006 wird das SIV­Gebäude »Palast Serbiens« genannt,
eine Bezeichnung, die Ana Kraš heute zum ersten Mal hört.


Für viele Bauten der Stadt haben die Belgrader ihre eigenen
Spitznamen. Die riesigen grauen Wohnblocks mit terrassen­


artigen Stufen nennen sie »Treppen«. Ein anderes Gebäude
heißt im Volksmund »TV­Haus«, weil die Fenster an seiner


Fassade aussehen wie alte Fernsehgeräte. Ana Kraš hingegen
nennt es »Zug«, weil es so lang ist. Als Kind war sie fas­


ziniert von dem Zug­Haus. »Ich weiß noch, wie ich jeman­
den kennengelernt habe, der da drin wohnte – das war für


mich, als würde ich einen Promi treffen!« Wir fahren durch
eine Straße, in der kugelrunde rote Poller wie übergroße


Tomaten auf dem Bürgersteig liegen. An einem Wohnhaus
sind einige Außenwände mit Ziegelsteinen in unterschied­
lichen Rottönen verkleidet. »Das hier ist für mich wie eine
Kunstausstellung!«, sagt Ana Kraš. Tatsächlich erinnern die
Wände ein bisschen an verpixelte Rothko­Gemälde. Es ist
interessant: Nach nur ein paar Stunden an ihrer Seite sieht
man selbst plötzlich Dinge, die man vorher nie als aufre­
gend oder gar ästhetisch wahrgenommen hätte.
Ana Kraš hat aber nicht nur einen wachsamen Blick. Sie
arbeitet auch schnell und weiß genau, wonach sie sucht.
Am späten Nachmittag, als die Sonne schon untergegan­
gen ist, entdeckt sie in einem dunklen Garten ein winziges
Stiefmütterchenbeet. Auf einem Spielplatz steigt sie auf ein
Klettergerüst, um das gegenüberliegende Hochhaus besser
fotografieren zu können. Nachdem das Bild im Kasten ist,
nimmt sie die Rutsche nach unten. Einerseits ist sie von
einem unbändigen Ehrgeiz getrieben, alles festzuhalten,
was ihr ins Auge fällt. Gleichzeitig sieht sie nie aus, als
würde sie arbeiten. Ihre Produktivität hat etwas Spieleri­
sches, Instinktives und dabei sehr Gelassenes an sich.
Am Abend gehen wir in ein traditionelles serbisches Res­
taurant namens Vuk, »wo alle Politiker essen«, sagt Kraš.
Sie bestellt Rakija, einen Obstschnaps, als Aperitif, danach
Tomatensalat, gebackene Kartoffeln, Lammwürstchen. Mit
dem Fotografieren kann sie auch beim Dessert nicht auf­
hören: Kastaniencreme mit Sahnehäubchen, in einem hell­
blauen Eisbecher. Was steckt hinter ihrer Unermüdlichkeit?
»Meine Neugier«, sagt sie. »Ich kann kaum eine Straße run­
tergehen, ohne Dinge zu sehen, die ich interessant finde. Und
ich versuche immer, Spaß an meiner Arbeit zu haben. Wenn
man Spaß hat, zweifelt man nicht. Man zweifelt nur, wenn
man krampfhaft versucht, ein State ment zu machen.«
Als wir zwei Monate später noch einmal telefonieren, ist
Ana Kraš allein in ihrem Loft in New York, das Coronavi­
rus hat die Stadt fest im Griff. Kraš ist besorgt, die Isolation
stört sie aber nicht groß. Sie sei ohnehin eine Eigenbröt­
lerin. »Ich bin für die Quarantäne gemacht«, sagt sie. »Ich
habe mich noch nie gelangweilt.« Sie tanze jetzt viel in der
Wohnung, arbeite an einem neuen Bildband, boxe auf der
Terrasse und fahre Fahrrad.
Es ist dieses Freie und Unverkopfte, was Ana Kraš auch in
ihrem Design, ihrer Fotografie, in allem, was sie gestaltet, so
außergewöhnlich und aufrichtig macht. Und ihr Mangel an
Eitelkeit, den sie wohl ihrer Herkunft zu verdanken hat. Vie­
le Künstler und Designer nähmen ihre Arbeit unglaublich
ernst, sagt sie. Sie wollten immer den weltbesten Entwurf
machen. Ana Kraš aber, die ohne viele Möglichkeiten aufge­
wachsen ist, die nicht aus einem Milieu kommt, in dem man
schon als Kind den Druck verspürt, besser sein zu müssen als
alle anderen, glaubt gar nicht, dass sie mit dem, was sie tut,
die Welt verändern wird. »Wenn ich einen Tisch entwerfe,
dann mache ich das nicht, um etwas Unglaubliches und Iko­
nisches zu erschaffen«, sagt sie. »So zu denken wäre für mich
lähmend. Ich tue, was ich tue, weil es mich interessiert. Es
bedeutet nicht die Welt. Es steht für einen Moment.«

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