Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

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WO DAS HERZ SCHLÄGT


Ana Kraš verbindet mit Tischen besondere Geschichten und Kindheits-


erinnerungen. Hier zeigt sie die liebsten Stücke aus ihrem Familien-


und Freundeskreis – und die Besitzer erzählen, was ihren Tisch so einzig-


artig macht


Die Wohnung in Belgrad, in der ich aufgewachsen bin, ist sehr
klein – nur 42 Quadratmeter. Darin lebten wir damals als vier-


köpfige Familie. Meine elf Jahre ältere Adoptivschwester musste
mit mir ihr Zimmer teilen. Es gab damals keinen Raum, in dem


Platz für ein Sofa oder so gewesen wäre. Also war die Wohnküche
das Zentrum des Lebens. In ihrer Mitte steht bis heute ein runder


Tisch (er ist auf Seite 44 zu sehen). Da saß ich immer. Ich malte
oder spielte mit Legosteinen. Malen und Lego, das sind zentrale


Begriffe meiner Kindheit. Ich war besessen von Legosteinen. Die-
ses Geräusch, wenn man alle Legosteine aus einer Kiste auf dem


Tisch ausschüttete, das ist mir sehr vertraut. Der Tisch ist einfach
verarbeitet, er ist nicht einmal aus Massivholz gemacht, sondern


mit Furnier beschichtet. Ganz genau erinnere ich mich an die
Tischdecke, ein Wachstuch. Es war grün, mit einem weihnacht-


lichen Rentier-Norwegermuster, meine Eltern hatten es von einer
Reise mitgebracht. Der Anblick hat sich mir eingebrannt, jahre-


lang habe ich das Muster beim Essen betrachtet. An der Wohnung
meiner Eltern fand ich immer sympathisch, dass alle Möbel zum


Gebrauch da waren. Nichts war nur repräsentativ, nichts muss-
te geschont werden, keine Ecke war perfekt eingerichtet. Tische
sind für mich sehr wichtig. Ich habe selbst mehrere entworfen;
besonders mag ich runde. Dort sitzen sich alle gegenüber, und
man kann fast unbegrenzt Gäste daran unterbringen, es ist immer
noch für einen mehr Platz. Außerdem haben runde Formen eine
besondere Energie. Ein großer Tisch ist das Herz einer Wohnung,
ein Ort der Gastlichkeit, den jeder ansteuert. Gastfreundschaft ist
sehr wichtig in meiner Heimat. Serbien ist vom Lebensgefühl her
kein ost euro päi sches, eher ein mediterranes Land, vergleichbar mit
Griechenland. Die Menschen sind sehr herzlich. Man ist ein an der
so verbunden, dass man innerhalb einer Familie nicht »Bitte« und
»Danke« sagt. Das gilt sogar als Beleidigung: Wenn ich jemanden
bitten muss, dann setze ich voraus, dass der andere mir so fremd
ist, dass es für ihn keine Selbstverständlichkeit ist, mir einen Gefal-
len zu tun. In New York hört man immerzu Freundlichkeits-For-
meln, aber sie bedeuten nichts. Oft vermisse ich hier die Wärme,
die man an einem beliebigen serbischen Tisch spüren kann.

Fotos ANA KRAŠ

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