Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

Ein sonniger Februartag in Sant Just Desvern, einem Vorort


von Barcelona. Hier wohnt und arbeitet der katalanische Ar-
chitekt Ricardo Bofill, ein kleiner, schlanker Mann, der sein


langes graues Haar ordentlich über den Hinterkopf kämmt.
Der 80-Jährige entwarf mehr als 1000 Bauprojekte in über 30


Ländern: gläserne Wolkenkratzer in Chicago, einen minimalis-
tischen, terrakottafarbenen Universitätscampus im marokka-


nischen Ben Guerir, eine Ferienanlage mit pinkfarbenen und
poolblauen Fassaden in Alicante, von der oft Bilder auf In sta-


gram gepostet werden.
»Wegen seiner Vielseitigkeit ist er mein Lieblingsarchitekt«, sagt


Ana Kraš, die ihn heute mit interviewen und fotografieren wird.
»Und wegen seines unglaublichen Gespürs für Farben! Wer


kombiniert schon gelbe oder rote Kacheln mit Terrakotta?«
In den Siebzigerjahren baute Bofill eine ehemalige Zement-


fabrik zu seinem Büro und Wohnhaus um, hier arbeitet er
heute mit 75 Angestellten, darunter seine beiden Söhne, und er


lebt hier mit seiner Partnerin. La Fabrica, wie der Gebäudekom-
plex bezeichnet wird, gilt als Ikone der modernen Architektur.


Es gibt riesige Räume mit kathedralenhaft hohen Decken, Bo-
fills Schlaf- und Lesezimmer sind dagegen klein. In den Beton


hat er überall hohe Rundbogenfenster eingefräst, die für Licht
und Wärme sorgen und zugleich die Ruhe einer Kirche verbrei-


ten. Lange weiße Vorhänge hängen an den Fenstern von Bofills
Büro, das er auf tropische Temperaturen heizt. Außen wachsen


Kletterpflanzen die Fassaden hoch, vor dem Gebäude stehen
Palmen und Eukalyptusbäume. Die 3000 Quadratmeter große


Zementfabrik ist in ihrer Umwandlung un voll endet, das soll
auch so sein: Der Architekt möchte, dass die Transformation als


konstanter, natürlicher Prozess verstanden wird.
Aufgrund der Coronavirus-Pandemie wird auch die spanische


Regierung kurz nach dem Interviewtermin soziale Kontakte
massiv einschränken, doch an diesem Vormittag sitzt noch ein


Dolmetscher dicht neben dem Architekten und übersetzt seine
spanischen Sätze ins Englische. Bofills Augen sind wach und


funkeln vor Neugier.


Herr Bofill, wussten Sie schon immer, dass Sie Architekt
werden möchten?


Nein, erst als ich mich für ein Studium entscheiden sollte
Mitte der Fünfzigerjahre. Meine Mutter wollte eigentlich,
dass ich Pianist werde. Leider war ich nicht behände ge-
nug zum Klavierspielen. Mein Vater, der aus dem illus-
tren katalanischen Bürgertum stammte, hatte eine Baufir-
ma in Barcelona. Meine Mutter war jüdisch und kam aus

Venedig. Sie waren beide liberal und weltoffen, und wir
hatten häufig Gäste bei uns zu Hause. Es wurde über al-
les Mög liche diskutiert, über Philosophie, Politik, Musik,
auch Architektur. Die Atmosphäre in meinem Elternhaus
bildete einen starken Kontrast zu der Stimmung auf den
Straßen in den Vierziger- und Fünfzigerjahren. Es waren
dunkle Zeiten in Francos Spanien. Meinungsfreiheit gab
es nicht. Die Leute mussten sich wegducken.
Woran erinnern Sie sich in Ihrem Elternhaus? Was waren
Ihre liebsten Gegenstände?
Unser großer rechteckiger Esstisch. Bis zu zwölf Leute
konnten daran sitzen, dort kam die Familie zusammen
und aß und diskutierte. Meine Mutter stellte mich unseren
Gästen als Genie vor – weil ich anscheinend ungewöhn-
lich früh sprechen und laufen lernte. Ich wusste, sie hatte
hohe Erwartungen an mich. Als ich elf Jahre alt war, starb
mein Bruder an Tuberkulose. Zur gleichen Zeit kam mein
Cousin, der auch bei uns wohnte, bei einem Fahrradunfall
ums Leben. Ich sehe meine Mutter noch genau vor mir,
wie sie damals am Tisch saß und weinte. Mein Vater wurde
depressiv. Eines Tages, ich muss zwölf gewesen sein, sagte
er zu mir: Nun bist du für die Familie verantwortlich. Vor
dem Tod meines Bruders genoss ich die Narrenfreiheit des
Zweitgeborenen, aber durch seinen Tod änderte sich die Si-
tuation dramatisch. Ich war nun das zukünftige Fa mi lien-
ober haupt und sollte mich dementsprechend benehmen.
Wie ging es Ihnen damit?
Das musste ich erst mal verdauen. Ich habe mich dann in
der Schule danebenbenommen, störte den Unterricht und
wurde vom Schuldirektor verwarnt. Daraufhin wurde ich
zu meinem Onkel geschickt, der von Beruf Psychiater war.
Er versuchte mir meine rebellenhafte Seite auszutreiben,
aber es waren eher Geschäftsprobleme des Vaters, die mich
zum Umdenken zwangen.
Was war passiert?
Mein Vater hatte zwei Geschäftspartner, mit denen er
sich nicht verstand. Doch aufgrund seiner depressiven
Verfassung konnte er sich nicht von ihnen lösen. Ich war


  1. Meine Mutter fuhr mich zu den beiden Herren. Dort
    setzte ich mich mit ihnen an einen Tisch und sagte: »Wir
    müssen innerhalb von drei Tagen eine Lösung finden, wie
    mein Vater und Sie sich geschäftlich trennen können.« Es
    funktionierte!
    Sie kamen gerade in die Pubertät und sollten sich gleich-
    zeitig um die Familienprobleme kümmern? Wieso trauten
    Ihre Eltern Ihnen das zu?
    In unserem Elternhaus wurde wirklich über alles geredet.
    Lügen oder Verschwiegenheit gab es nicht. Und wegen
    dieser Ehrlichkeit hatten wir auch ein sehr starkes gegen-
    seitiges Vertrauen.
    Was haben Sie aus Ihrer bewegten Kindheit für Ihren Beruf
    mitgenommen?
    Manche sagen, dass ich ein Wunderkind war. Mit 16 schloss
    ich die Schule ab. Dann fing ich mit dem Studium in Bar-
    celona an. Erst wusste ich nicht, was ich studieren sollte, es


Von JOHANNES DUDZIAK und ANA KRAŠ Fotos ANA KRAŠ


Ricardo Bofill, 80, ist einer bedeutendsten zeitgenös­
sischen Architekten. 19 63 gründete er in Barcelona
sein Büro Taller de Arquitectura, in dem er mit
Ingenieuren, Stadtplanern und Soziologen seine
Ideen realisiert. »Ricardo Bofill: Visions of Archi­
tecture« ist 2 019 im Die Gestalten Verlag erschienen
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