Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1
Geografisch mag ich Extreme, das zeigte sich schon in den beiden Träumen, die ich als Kind oft hatte: Bei einem bin ich in einer Großstadt und kann fliegen, überall sind hohe Tür-me und kleine Lichter. Ich bin weit oben, kann alles sehen. Ich fühle mich völlig frei.Der andere ist ein Albtraum, in dem mein Bruder ertrinkt. Wir sind in einem Boot auf einem See, plötzlich fällt er von Bord und geht unter. Ich tauche hinterher, aber finde ihn nicht mehr, es ist zu dunkel, und überall schwimmen gruselige Fische.Bis heute mag ich Höhen und Tiefen, im Urlaub will ich immer nur in die Berge – aber ich finde auch die Tiefsee richtig geil. Alle denken immer über Aliens nach, dabei sind noch nicht mal fünf Prozent der Tiefsee erforscht. Vielleicht wohnen da noch Urzeitwesen! Wahrscheinlich ist es besser, dass wir dort noch nicht gut forschen können, wir zerstören doch alles, was wir anfassen. Ich konnte allerdings noch nie nachvollziehen, dass Leute in ihren Ferien ans Meer wollen, um dann auf diese Mitte zwischen hoch und tief zu schauen. Ich fühle dabei nichts, bin eher genervt. Ich will draußen ent-weder nach ganz oben oder ganz unten.In meinen zwischenmenschlichen Beziehungen will ich hin-gegen keine Extreme, da mag ich Verlässlichkeit und Stabili





tät. Menschen, die viele Extreme in sich tragen, strengen mich auf Dauer an. Ich finde es schwierig genug, mit Depression

und ADHS zu leben, deshalb suche ich Leute, die verlässlich und stabil sind. Ich mag kein Drama.Seit einem Jahr habe ich keinen 40-Stunden-Job mehr und verbringe die meiste Zeit zu Hause beim Schreiben inmitten meiner unendlich vielen Pflanzen und Tiere – zum Beispiel Asseln, Fische, Schnecken, ein Hund und eine Gottesanbe-terin. Wenn man meine Wohnung betritt, meint man, dass gleich ein Papagei hochfliegen oder ein Äffchen sich von der Seite hereinschwingen müsste.Ich stelle mir meine Depression vor wie die Tiefsee. Da unten lastet auf einem Quadratzentimeter eine Tonne Druck. Man ist isoliert, es gibt keine Geräusche mehr, kein Licht. Man weiß zwar, oben ist etwas, aber man kommt nicht dran.In unserer Gesellschaft redet man ungern über Depressionen, weil das mit Schwäche assoziiert wird, dabei sind Depressio-nen eine Volkskrankheit. Die meisten Leute haben in ihrem Leben mindestens einmal eine depressive Phase, und doch wird das Thema weggeekelt und stigmatisiert. Für die Betrof-fenen ist das doppelt schlimm – sie fühlen sich sowieso schon elend und müssen sich gleichzeitig auch noch schämen.Als Kind hatte ich viele Albträume, heute kann ich mich nur noch selten an meine Träume erinnern. Das ist wohl bei Er-wachsenen öfter so. Mein Hirn macht eben all die Sachen, die Hirne machen, wenn sie älter werden. Auch sonst ver-

ändere ich mich ständig. Ich wollte früher in verschiedenen Reihenfolgen Tierforscherin, Malerin, Schriftstellerin und Journalistin werden – versehentlich bin ich irgendwie alles mal geworden. Das ist lustig, weil ich mit Anfang 20 von ganz anderen Dingen geträumt habe. Da habe ich Bio stu-diert und dachte, ich würde mein Leben lang forschen, doch dann ist alles anders gekommen. Und es fühlt sich gut an! Ich glaube, ich habe mir die richtigen Träume erfüllt.

»Ich suche Leute, die verlässlich und stabil sind. Ich mag kein Drama«


Jasmin Schreiber, 32, ist in Frankfurt am Main geboren und aufgewachsen, in Marburg und Wien hat sie Foto Lucas ChristiansenAufgezeichnet von Robert HofmannZu hören unter http://www.zeit.de/audio
Biologie studiert. Für ihre Texte über ihre ehrenamtliche Arbeit als Sterbebegleiterin wurde sie 2 019 als
»Bloggerin des Jahres« ausgezeichnet. Ende Februar erschien ihr erster Roman, »Marianengraben« (Eichborn)
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