Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1
Greta lag auf dem Sofa und starrte auf ihr Handy. Sie war kom­
plett bewegungslos, nur ein Finger bewegte sich wischend. Greta
war am »Swipen«, so viel hatte ich gelernt. Ihr Smart phone spuckte
alle zwei Sekunden neue Töne aus. Es hörte sich nervig an, so als
würde das Handy immer wieder ansetzen, meine Tochter zu unter­
halten, jeder Versuch aber sofort weggewischt werden. Manchmal
verharrte Greta etwas länger. Aber nie länger als 30 Sekunden. Ich
fragte: »Was machst du da?« Greta antwortete: »Ich guck TikTok,
stör mich nicht!« Ich musste irgendwann doch stören – sonst hätte
Greta Stunden so verharrt.
TikTok ist der Albtraum aller Waldorfpädagogen. Wer schon You­
Tube für ein geistloses Medium hält, für den ist TikTok der Weltun­
tergang. Es ist eine endlose An ein an der rei hung von Minifilmchen.
Keiner dauert länger als eine Minute. Eine Minute! Ist das heute
die erwartbare Aufmerksamkeitsspanne von Jugendlichen? »Was ist
denn deine Lieblingssendung auf TikTok?«, fragte ich Greta. Sie
schaute mich an, als wäre ich gerade aus einem Erdloch gekrochen
und hätte sie gefragt, wie der Zweite Weltkrieg ausgegangen sei.
»Sendung?« Mir fiel ein, dass das Wort »Sendung« heutigen Jugend­
lichen seltsam anmuten muss. Aber Greta kannte sich offenbar aus
mit dem Wortschatz der alten Generation: »Bei TikTok gibt es keine
›Sendungen‹«, erklärte sie mir. »Aber es wird doch irgendeine Form
von Programm geben?« Schon wieder ein Begriff, den Greta un­
passend fand: »Programm? Ich zeig dir das mal«, sagte sie milde.
Sie führte mir TikTok vor. Meist waren auf dem Screen Jugend­
liche zu sehen, die zu einer bestimmten Musik irgendetwas reich­
lich Aufgekratztes trieben. Oft tanzten sie. Ich fragte meine Toch­
ter, was das für Songs seien, denen sie lauschte. »Das sind keine
Songs, das sind Sounds«, sagte Greta. Die Jugendlichen heißen bei
TikTok auch nicht Jugendliche, sie heißen »Creators«. Greta verließ
mich, jetzt swipte ich allein weiter. Die Creators zeigten manchmal
Sketche, bei denen sie wie Figuren aus alten Stummfilmen agier­
ten, dabei kommentierten sie ihr Tun mit lustigen Textzeilen. In den
Sketchen spielten sie alle Charaktere selbst. Wenn die Schüler ihre
Eltern oder Lehrer imitieren wollten, dann trugen sie eine Brille,
immer. Es gab auch sehr kreative Filme. Zum Beispiel filmte ein
Creator Mitmenschen mit einer Wärmekamera und dokumentierte
die Hitzewolken, die ihnen entstiegen, wenn sie pupsten. Das war
ein besonders beliebtes Video. TikTok ist, wie wenn man Gummi­
bärchen isst: Man wird dabei nicht satt und kann aber auch nicht
aufhören. Denn immer wenn man gerade anfangen würde, sich zu
langweilen, geht es schon mit etwas völlig anderem weiter. Es gibt
in diesem Medium nichts Gehaltvolles, und man kann auch nichts
lernen. Auf TikTok kann sich allerdings auch niemand blamieren,
denn auch das, was peinlich ist, ist schnell wieder vorbei. TikTok
ist verschwendete Zeit und gibt nichts anderes vor, als verschwen­
dete Zeit zu sein. Ich fühlte mich daran erinnert, wie ich selbst als
Jugendlicher vor dem Röhrenfernseher saß und auf der Fernbedie­
nung zappte, zappte, zappte. Es war verschwendete Zeit, aber es war
auch angenehm, sie verschwenden zu können. Zeitverschwendung
ist ein Privileg der Jugend, damals wie heute. Nur dass Greta heute
die wesentlich interessantere technische Ausstattung dafür hat. Mich
ergriff Traurigkeit: Ich selbst würde nicht mehr so viel Zeit zum Ver­
plempern haben. Schweren Herzens legte ich das Handy weg.

Prüfers Töchter MEINE 12-JÄHRIGE

Greta ist 12 Jahre alt. Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt
hier im wöchentlichen Wechsel über sie und seine
anderen drei Töchter im Alter von 2 0, 14 und 6 Jahren

»Ich guck TikTok,


stör mich nicht!«


Illustration Aline Zalko

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