Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

T


ag für Tag muss ich mich als Mi-
nisterpräsident mit den schmerz-
haften Zahlen meiner Mitbürger
aus ein an der set zen, die an einer
In fek tion mit dem Sars-CoV-2-
Virus sterben.
Vor zwei Tagen haben wir in
Italien den Wert von 10.000 Toten überschritten.
Für mich ist das nicht nur eine Zahl. Das sind Na-
men, Lebensgeschichten, die vor allem die Genera-
tion unserer Eltern, der Groß eltern unserer Kinder,
betreffen. Das ist die Ge ne ra tion, die nach der Dik-
tatur und einem Weltkrieg mit Ausdauer und Krea-
tivität gearbeitet hat, bis Italien seinen Platz im Kreis
der G7 finden konnte.
Italien war zeitlich gesehen das erste europäische
Land, das von dieser Pandemie getroffen wurde. Aber
es zeigt sich leider, dass immer mehr Länder erfasst
werden. Ich denke an Spanien, Frankreich, Deutsch-
land, zuletzt Großbritannien. Wir werden von einem
Tsunami überrollt, der – genau wie ein Krieg – die
Wirtschaft in Trümmern und die Menschen mit
Traumata hinterlässt. Ich denke in diesen Tagen viel
darüber nach, was es bedeutet, 60 Millionen Italiener
dazu zu zwingen, zu Hause zu bleiben, während jeden
Tag im Fernsehen Hunderte von Särgen mit den
Gefallenen dieses Krieges gegen einen unsichtbaren
Feind gezeigt werden. Es ist eine Schreckenssituation,
von der ich mir nie hätte vorstellen können, sie als
Bürger wie als Ministerpräsident erleben zu müssen.
Zu keiner Zeit haben wir in Italien die Gefahr
unterschätzt. Wir waren äußerst vorsichtig und haben
sofort Schutzmaßnahmen ergriffen, die maßvoll und
verhältnismäßig immer weiter verschärft wurden. Ab
dem 22. Januar, lange bevor die WHO die Corona-
Epidemie zu einer »gesundheitlichen Notlage von
internationaler Tragweite« erklärte, haben wir die
ersten Vorkehrungen getroffen. Die Maßnahmen
wurden noch restriktiver, als die Auswirkungen des
Virus mit größter Härte deutlich wurden. Am



  1. März beschlossen wir besonders restriktive Maß-
    nahmen für den reichsten Landesteil Italiens, die
    Lombardei mit ihrer wirtschaftlichen Spitzenstellung
    und herausragenden Produktivität. Unmittelbar
    darauf mussten wir diese und noch strengere Maß-
    nahmen auf das gesamte Land ausdehnen.
    Obwohl das nationale Gesundheitssystem ins-
    gesamt effizient und gut aufgestellt ist, hatte es bald
    Schwierigkeiten, auf einen solchen Gesundheitsnot-
    stand zu reagieren. Sofort begann der Wettlauf um
    den Nachschub der notwendigsten medizinischen
    Ausrüstungsgüter (vor allem Schutzmasken, Ein-
    wegkittel und Beatmungsgeräte). Gleichzeitig befass-
    ten wir uns mit der Ausweitung der Produktionskapa-
    zitäten der wenigen italienischen Unternehmen, die
    diese Güter herstellen, und mit deren Beschaffung
    auf einem internationalen Markt, der mittlerweile
    verzerrt und von einigen wenigen skrupellosen Zwi-
    schenhändlern durchdrungen war.
    Wir haben von vielen Ländern Unterstützung
    erhalten. Deutschland zählt zu den Ländern, die


konkrete Gesten der Solidarität gezeigt haben.
Dafür danke ich der deutschen Regierung und
dem ganzen Volk.
Die Lage in Italien belastet alle Bürger extrem, sie
nehmen viele Opfer auf sich. Ein Großteil der Be-
völkerung lebt de facto in Quarantäne, mit Aus-
nahme der Menschen – und ihnen sind wir besonders
dankbar –, die dem Land sichern, was unverzichtbar
ist. Vor allem dem medizinischen Personal und de-
nen, die für die Lieferungen von Lebensmitteln und
Pharmaprodukten sorgen, sind wir tief verpflichtet.
Ich bin stolz darauf, wie die Italiener auf die
Restriktionen reagieren, die wegen des medizini-
schen Notstandes sogar Grundrechte der Verfas-
sung wie etwa die Bewegungsfreiheit und die un-
ternehmerische Freiheit berühren. Hierbei war mir
jedoch immer klar, dass das einzig wirklich »fun-
damentale« Recht in unserer Verfassung gerade das
Recht auf Gesundheit ist. In einer nationalen ge-
sundheitlichen Notlage hat es letztlich Vorrang vor
den anderen.
Gleichzeitig musste man berücksich-
tigen, dass viele von denen, die diesen
Maßnahmen ausgesetzt waren, nicht auf
Absicherungen zählen können, die ein
industrialisiertes Land wie unseres in der
Regel gewährt. Ich denke an Personen mit
geringem Einkommen, an die vielen Bür-
ger, die von der Hand in den Mund leben.
Deshalb haben wir vor vier Tagen den
Kommunen die notwendigen Mittel zur
Verfügung gestellt, um – und das sage ich
ohne Rhetorik – mithilfe von ehrenamt-
lichen Organisationen das Überleben von
Zehntausenden zu sichern.
Covid-19 ist eine schreckliche Pandemie, die alle
europäischen Länder unausweichlich direkt oder
indirekt trifft. Schauen wir auf unseren Kontinent


  • und wir wissen, dass er nicht allein davon betroffen
    ist –, so ist klar, dass die Pandemie schlimme Aus-
    wirkungen auf den Binnenmarkt, auf unsere wirt-
    schaftliche Verflechtung haben kann und letztlich
    auf unser europäisches Projekt, das uns von der Nach-
    kriegszeit bis heute 75 Jahre Frieden, wirtschaftlichen
    und sozialen Fortschritt gesichert hat.
    Wir stehen keineswegs vor einer Neuauflage der
    Krise von vor zehn Jahren. Die jetzige Krise entsteht
    nicht durch finanzielle oder fiskalische Ungleich-
    gewichte, sie hat ihren Ursprung nicht in falschen
    politischen Entscheidungen. In Europa trifft sie uns
    alle gleichzeitig mit der Wucht einer Naturkatastro-
    phe. Wir sind von einem Tsunami überrollt worden,
    während wir noch mit der Heilung der Wunden des
    Finanzschocks von 2008/09 beschäftigt waren.
    Wie soll unsere Antwort lauten?
    Kurzfristig müssen wir, müssen alle EU-Länder
    schnell, entschlossen und koordiniert handeln, um
    Menschenleben zu retten sowie unsere hart getrof-
    fenen Volkswirtschaften und unsere Arbeitnehmer
    zu schützen. Jede Alltagshandlung eines jeden un-
    serer europäischen Bürger, jede schwierige poli-


tische Entscheidung jeder unserer Regierungen zur
Bekämpfung des Virus kommt allen europäischen
Bürgern und allen europäischen Ländern zugute.
Wer auf einen Teil seiner Freiheit verzichtet und
zu Hause durchhält, führt einen Kampf der Soli-
darität und des Respekts zum Wohle aller. Darun-
ter sind auch Menschen, die ihren Arbeitsplatz
verloren haben oder zu verlieren drohen.
Wenn es Europa aber gelingt, schnell und ent-
schlossen zu reagieren, wird es gestärkt aus dieser
tiefen Krise hervorgehen. An drei Eckpfeilern sollten
wir uns orien tie ren: eine klare Vision der Zukunft
Europas, gemeinsame Ziele, die wir mit vereinten
Kräften erreichen wollen, und die Stärkung der Fähig-
keit der Europäischen Union, weltweit auf Augen-
höhe mit den anderen Großmächten eine führende
Rolle in Wirtschaft und Politik zu spielen.
Wie die Präsidentin der Europäischen Kommis-
sion Ursula von der Leyen kürzlich bemerkte: »Un-
sere wertvollste Ressource ist der Binnenmarkt (...).
Eine Krise ohne Grenzen kann nicht bekämpft
werden, wenn man zwischen uns wieder
Grenzen hochzieht.« Die von der Euro-
päischen Zentralbank und der Kommis-
sion getroffenen Entscheidungen sind
ein Zeichen dafür, dass Europa weiß,
dass es stark sein muss. Aber diese – au-
ßergewöhnlichen – Schritte müssen von
weiteren Maßnahmen begleitet werden,
die unsere fiskalischen Anstrengungen
unterstützen. Diese unternehmen wir,
um die Liquidität unserer Unternehmen
zu sichern und um vorübergehend ar-
beitslose Menschen, um ihr Überleben
kämpfende Familien und die Schwachen in unserer
Bevölkerung zu unterstützen.
Wir müssen dem gemeinsamen Markt einen
tieferen Sinn geben, wir müssen Mauern einrei-
ßen, nicht bauen.
Ich glaube, dass es noch immer Missverständnisse
und Misstrauen gibt, die unseren Ländern eine ge-
meinsame Lösung schwer machen. Die ist jedoch von
grundlegender Bedeutung für unsere Union: Wir
müssen daran arbeiten, dieses Misstrauen zu über-
winden. Die europäischen Volkswirtschaften sind
stark integriert. Weit über die Hälfte der Exporte
Italiens und Deutschlands gehen in den Europäischen
Binnenmarkt, der bilaterale Handel ist sehr umfang-
reich. Beim Handelsaustausch zwischen unseren
Ländern wird das Ausmaß der wirtschaftlichen Ver-
flechtung unterschätzt. Globale Wertschöpfungs-
ketten verbinden unsere Industrien eng mit ein an der,
auch in der Produktion, die auf Drittmärkte ausge-
richtet ist; die Wirtschaftszyklen Italiens und
Deutschlands sind dadurch stark synchronisiert.
Schon das zeigt deutlich, wie unabdingbar eine ge-
meinsame Lösung ist. Wenn hingegen ein EU-Mit-
gliedsstaat zurückbleibt, weil eine angemessene und
solidarische europäische Reaktion ausbleibt, so wird
uns das alle schwächen. Alle europäischen Staaten
müssen jetzt ihren Beitrag leisten, ohne Ausnahme.

Ich glaube zudem, dass gerade die Länder, die am
meisten zum europäischen Projekt beigetragen haben,
so wie Deutschland, diejenigen sind, die eine Haltung
einnehmen können und müssen, die der Heraus-
forderung dieser Zeit auch gerecht wird.
Die Geldpolitik tut alles Nötige, um eine finan-
zielle Fragmentierung der Euro-Zone zu vermeiden
und die gemeinsame Währung zu verteidigen. Aber
zu glauben, Geldpolitik allein könne helfen, wäre ein
schwerer Fehler. Das würde sie unangemessen belas-
ten, denn dadurch würde die Phase negativer Zins-
sätze in der Euro-Zone länger andauern. Wirtschaft-
liche Erholung und nachhaltiges Wachstum wären
aber wiederum nicht gewährleistet, denn diese kön-
nen nur durch entschlossenes und solidarisches euro-
päisches Handeln entstehen. Vielmehr sollten wir
unsere in großen Schwierigkeiten steckenden Volks-
wirtschaften sofort unterstützen. Wir brauchen eine
Strategie des Aufschwungs, die auf eine rasche Er-
holung in den am stärksten von der Pandemie be-
troffenen Bereichen zielt, um die Unternehmen in
dieser schwierigen Zeit vor der Gefahr feindlicher
Übernahmen durch Dritte zu schützen.
Mittelfristig müssen wir die globalen Wertschöp-
fungsketten Europas stärken und Investitionen und
Maßnahmen fortsetzen, um Europa in die Lage zu
versetzen, eine führende globale Rolle bei Innovation
und nachhaltiger Wirtschaft zu spielen.
Jedes europäische Land hat seine Schwächen,
sei es die öffentliche oder die private Verschul-
dung, eine Verzögerung beim Übergang zu einer
nachhaltigen Wirtschaft, seien es Immobilienbla-
sen, unfaire Steuerregelungen oder eine größere
Belastung durch den Klimawandel.
Gleichzeitig darf kein Land diese Krise aus-
nutzen, um Lasten aus der Vergangenheit auf die
Schultern anderer zu legen.
Dies ist sicherlich nicht die Absicht meiner Re-
gierung und derjenigen, die mit mir den Brief an den
EU-Ratspräsidenten Charles Michel unterzeichnet
haben, in dem wir die Notwendigkeit einer solidari-
schen und entschlossenen Reaktion der gesamten EU
vorschlagen. Wie ich bereits mehrfach gegenüber den
anderen europäischen Staats- und Regierungschefs
betont habe, möchte ich auch an dieser Stelle daran
erinnern, dass Italien – im Gegensatz zu dem, was wir
nur allzu oft hören – in den Jahren nach der Staats-
schuldenkrise nicht nur einen schwierigen fiskali-
schen Anpassungsprozess mit systematischen primä-
ren Haushaltsüberschüssen zwischen 2010 und 2019
durchlaufen hat, sondern auch die krisengeschüttel-
ten europäischen Partner sowohl bilateral als auch
durch die Teilnahme an gemeinsamen Programmen
(EFSF, ESM) finanziell unterstützt hat. Dieser Weg
der umsichtigen Verwaltung unserer Finanzen wird
nach der Überwindung der gegenwärtigen Krise
gemäß den gemeinsam festgelegten Regeln fortge-
setzt werden.
Es wäre ungerecht, unseren Weg der Konsoli-
dierung durch die Last einer für uns besonders
schwierigen Naturkatastrophe noch schwerer zu

machen, wenn es doch möglich wäre, dieses Ziel
besser durch eine gemeinsame Bewältigung dieses
Schocks zu erreichen.
Was für uns gilt, gilt auch für viele andere Länder:
Wenn wir eine Union sind, dann ist jetzt der Zeit-
punkt, dies zu beweisen. Unsere Volkswirtschaften
verfügen über ausreichend personelle und materielle
Ressourcen, um die Krise auch aus eigener Kraft zu
überwinden. Aber die Anstrengungen selbst der
stärksten europäischen Volkswirtschaften würden
sehr bescheidene Ergebnisse bringen im Vergleich zu
dem, was wir erreichen können, wenn wir ein an der
unterstützen. Die Mitgliedschaft in unserer Union
muss bedeuten, dass wir ihre Stärke nutzen können,
um den durch diese Pandemie verursachten Schaden
durch eine stabile, langfristige Finanzierung mit den
so garantierten niedrigen Zinssätzen zu bekämpfen.
Diese Solidarität muss in einem gemeinsamen
Plan zum Ausdruck kommen, der durch Transpa-
renz und Strenge allen Beteiligten garantiert, dass
dabei keine »Trans fer union« entsteht.
Es geht jetzt darum, eine außergewöhnliche soli-
darische Anstrengung zu unternehmen, um dem
durch die Pandemie bedingten Notstand und seinen
wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen begeg-
nen zu können. Wir müssen geeignete Instrumente
für eine beispiellose Situation prüfen, und zwar ohne
Vorurteile und ohne a priori eingelegte Vetos, viel-
mehr mit dem Ziel, dass alle gemeinsam so schnell
wie möglich stärker und geschlossener als vorher aus
der Krise hervorgehen.
Vergessen wir nicht, dass wir nach Überwinden
der Krise mit einem komplexen geopolitischen Bild
konfrontiert sein werden, dessen gewaltige Probleme
wir bereits in den letzten Jahren erlebt haben: Krise
des Multilateralismus, ökonomische Spannungen,
Migrationsdruck, Terrorismus. Bei all diesen Proble-
men werden wir entweder als Europa unsere Stimme
erheben oder gar nicht.
Daher stehen wir heute noch mehr vor einer poli-
tischen als vor einer wirtschaftlichen Herausforde-
rung. Aber die Herausforderung wird diese Etappe
Europas prägen, eine Etappe, die ich, ohne zu zögern,
historisch nenne, vergleichbar mit dem Fall der Ber-
liner Mauer 1989 oder mit der Schaffung der Wäh-
rungs union 1999.
Die politische Klasse dieses Kontinents muss sich
bewusst sein, dass es um die Bewältigung einer his-
torischen Aufgabe geht, um nichts anderes. Wir
können die heutige Herausforderung nicht mit der
Brille der Vergangenheit angehen. Wir dürfen auch
nicht glauben, dass alte, für ganz andere Situationen
konzipierte Instrumente die bürokratische Antwort
auf diese epochale Wende sein können. Ich bin zu-
tiefst davon überzeugt, dass Europa aufgrund seiner
Geschichte, seiner Kultur und seiner Menschen das
Zeug dazu hat, diese dramatische Situation zu über-
winden. Die politische Führung Europas wird in den
kommenden Jahren daran gemessen werden, wie gut
sie in der Lage war, sich koordiniert, rechtzeitig und
mutig zu bewegen.

2 POLITIK 2. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15


Eine 88-jährige Covid-19-Patientin im norditalienischen Pradalunga, fotografiert von Fabio Bucciarelli. Ihr Sohn hat entschieden, dass seine Mutter zu Hause und nicht in einem Krankenhaus behandelt wird

Italien an vorderster Front


Der italienische Ministerpräsident GIUSEPPE CONTE schreibt in der ZEIT, was sein Land gerade durchsteht – und wie Europa helfen kann


Giuseppe Conte,
55, ist seit 2018
Regierungschef

Fotos: Fabio Bucciarelli (gr.); Xinhua/Zhang Cheng/laif (kl.)
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