Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 POLITIK 3


K


ein Mensch kann mit der gan­
zen Wahrheit über sich selbst
leben, wahrscheinlich nicht ein­
mal mit der halben. Noch weni­
ger kann es eine Gesellschaft,
stets müssen Teile der Wirklich­
keit abgedunkelt, weich gezeich­
net werden, damit die öffentliche Debatte nicht
explodiert und die letzte Adresse für Klagen und
Defizite nicht überstrapaziert wird, also die Politik.
Katastrophen jedoch treiben Wahrheiten her­
vor, die sich dann nicht mehr so leicht moderieren
lassen. Insofern bringt Corona auch eine mentale
Erschütterung mit sich, eine intellektuelle, eine
emotionale. Zu viel Wirklichkeit in zu wenig Zeit.
Plötzlich werden gut behütete Skandale gewisser­
maßen fällig, hervorgebracht durch neue Begriffe.
Zum Beispiel »systemrelevant«. Virologen und
Ärzte, auf die jetzt die Öffentlichkeit starrt, passen
noch ganz gut zu dem Bild, das man sich schon in
der vorcoronaischen Gesellschaft von den Wichti­
gen, den Leistungsträgern machte. Aber Pflegerin­
nen, Verkäuferinnen, Paketboten, Polizisten,
Erzieherinnen, Lastwagenfahrer? Sieh an: Die Elite
sitzt also unten.
Das sind also die, auf die es ankommt, wenn
es ernst wird. Gewöhnlich finden sie aber nur
Beachtung, wenn sie streiken oder – das wirksa­
mere Mittel – AfD wählen. Sie sind zugleich
auch die, deren Arbeit für sie selbst besonders
gesundheitsgefährdend ist und besonders schlecht
bezahlt wird.


Große Gesten, kleines Geld


Die Wichtigsten kriegen also am wenigsten? Wie
kann das sein? Schnell soll die Sache mit Gesten
und ein wenig Geld wieder zum Verschwinden ge­
bracht werden. In den Stuckdeckenvierteln der
Republik tritt man allabendlich aus dem Home­
office, um jenen zu applaudieren, die den Laden,
wie man jetzt sagt, am Laufen halten. Die den Müll
abholen, die Kranken pflegen, die Kinder der Ärz­
tinnen und Ärzte hüten. Nun ist Gratissolidarität
erst einmal besser als keine Solidarität. Aber nach
wie vielen Tagen Ausnahmezustand klingt der Bei­
fall nicht mehr freundlich, sondern höhnisch? Was
genau rechtfertigt, dass ich selbst das Vielfache des
Gehalts derer verdiene, die ich beklatsche? Die
Rechnung »fünf Jahre Studium gleich fünffacher
Verdienst, und das ein ganzes Leben lang« scheint
an irgendeiner Stelle nicht mehr plausibel zu sein.
Was an den Verhältnissen ist gerecht und was nur
Gewohnheit? Schnell kann man auf seinem Balkon
ins Grübeln kommen.
Die Supermarktketten, deren Umsätze in die­
sen Tagen zwar nicht exponentiell, aber beträcht­
lich wachsen, versuchen die neuen Fragen in
Wohltätigkeit zu wattieren. Real hat seinen Mit­
arbeitern versprochen, dass sie an Ostern für 100
Euro einkaufen können, bei Lidl – wo sonst Regal­


auffüllern auch mal gekündigt wird, wenn sie auf
die Idee kommen, einen Betriebsrat zu gründen –
sind es 250 Euro. Und der Discounter Kaufland
wirbt mit »Sonderzahlungen für Superhelden«.
Milde Gaben, immerhin steuerfrei.
Der Katastrophenfall, das kann man nun häufig
hören, sei nicht der richtige Zeitpunkt für Vertei­
lungsdebatten. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt,
wenn nicht jetzt, da die Krise den existenziellen Cha­
rakter der Ungleichheit für alle erkennbar offenlegt?
Der Status quo jedenfalls stützt sich in diesen Tagen
auf Applaus plus Warengutscheine.

Das Virus ist doch wählerisch

»Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch«, hat
der Soziologe Ulrich Beck einmal über die Wir­
kung von Naturkatastrophen geschrieben. Ist Sars­
CoV­2 also am Ende ein Gleichmacher, Sozialis­
mus durch Tröpfcheninfektion? Oder ist es viel­
mehr umgekehrt, wird das Biologische durch das
Soziale überformt? Wählt das Virus doch aus?
Einen ungewohnten Begriff musste die Öffent­
lichkeit nun lernen: Vorerkrankung. Ein nüchter­
nes Wort, um die nicht altersbedingte Risikogrup­
pe zu beschreiben. Dazu einige Befunde aus jünge­
ren Studien des Robert Koch­Instituts:
Ein mittelalter Mann mit niedriger Berufsqua­
lifikation hat ein achtmal höheres Risiko, auf­
grund einer Herz­Kreislauf­Erkrankung frühver­
rentet zu werden, als ein hoch qualifizierter Mann
im selben Alter.
Frauen aus dem unteren Drittel der Gesell­
schaft haben ein rund dreimal höheres Risiko, an
einer chronischen Bronchitis zu leiden, als Frauen
aus dem oberen Drittel.
13 Prozent der Menschen mit niedrigem Ein­
kommen bewerten ihre eigene Gesundheit als
»sehr schlecht oder schlecht«. Bei hohen Einkom­
men liegt dieser Wert bei zwei Prozent.
Ein Busfahrer muss sich im Jahr siebenmal häu­
figer krankschreiben lassen als ein Professor, eine
Altenpflegerin viermal häufiger als eine Ärztin.
Männer mit geringem Einkommen sterben im
Schnitt 8,6 Jahre früher als Gutverdiener.
Die Chance, die Pandemie zu überleben, steigt
mit dem Einkommen. Wer dagegen weniger wohl­
habend ist (also tendenziell systemrelevant), zählt
mit größerer Wahrscheinlichkeit zur Covid­ 19 ­
Risikogruppe. Das Virus ist nicht egalitär, es ist
selektiv: Es trifft Supermarktkassiererinnen mit
einer höheren Wahrscheinlichkeit als Software­
Entwickler, Hauptschüler eher als Abiturienten.
Die Gegensätze liegen in diesen Tagen offen. Die
soziale Frage der sozialen Distanzierung lautet: Ist
das eigene Zuhause ein Ort von Privatheit, eine
Rückzugsmöglichkeit, oder im Gegenteil gefährlich
und deprimierend? Distanz war seit je ein Privileg
des Bürgertums. In Ruhe gelassen werden, sich
besinnen, zu sich kommen – man muss es sich
leisten können.

Wer schützt die Schwachen? Die Antwort lau­
tet im Wesentlichen: die Schwachen.

Ausbeutung der Frauen – durch Frauen

Diejenigen, die in dieser durch ein Virus kenntlich
werdenden Gesellschaft systemrelevant, schlecht
bezahlt und besonders gesundheitsgefährdet sind,
haben mit hoher Wahrscheinlichkeit noch eine
weitere Eigenschaft: Es sind ganz überwiegend
Frauen.
In den vergangenen Jahren konnte der Eindruck
entstehen, die öffentliche Auseinandersetzung über
Frauen und Männer und die Gerechtigkeit zwischen
ihnen sei ohne Relevanz in der Wirklichkeit, eine Art
Debattierclub: Wer hat die schärfere Zunge? Wer
kann dem anderen ein Argument im Mund verdre­
hen? Die FAZ nannte Feministinnen zum Beispiel
rhetorisch durchaus kunstvoll »Opferentrepreneure«,
denen durch die abnehmende Ungleichbehandlung
die Geschäftsgrundlage entzogen werde. Es werde ja
immer schwieriger, Diskriminierungen auszumachen.
Vielleicht ist es unfair, einen einzelnen Artikel
aus der FAZ zu zitieren, denn die Vorstellung, dass
man Benachteiligungen mit der Lupe suchen müss­
te, ist weit verbreitet, unabhängig von Milieu und
politischer Einstellung. Das Patriarchat ist zu einer
Legende geworden, viel hat man davon gehört,
manches vielleicht gelesen, aber lange her, weit weg.
Jetzt erst fällt es auf: Der Frauenanteil in system­
relevanten Berufen liegt bei 75 Prozent. Noch höher
ist er in systemrelevanten Berufen, die wenig angese­
hen sind und in denen niedrige Löhne gezahlt werden.
Krankenpflegerinnen, Hilfen in Arztpraxen, Reini­
gungskräfte (das sind die, die nun dreimal am Tag
durch die Büros laufen und alles desinfizieren), Ver­
käuferinnen in Supermärkten und Drogerien – laut
der sogenannten Magnitude­Prestigeskala, basierend
auf repräsentativen Befragungen durch das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), liegt das
Ansehen dieser Berufe unter dem Durchschnitt.
Berufsgruppen dagegen, die als Männerberufe
klassifiziert werden (das heißt, in denen weniger
als 30 Prozent Frauen arbeiten), machen nur einen
kleinen Teil der systemrelevanten Jobs aus. Und sie
genießen durchaus Ansehen, das gilt für IT­Berufe
ebenso wie für die Beschäftigten der Luftfahrt.
Ohne Übertreibung kann man wahrscheinlich er­
gänzen, dass Männer es vermögen, den Krisen in
ihren typischen Berufen Gehör zu verschaffen, ob
systemrelevant oder nicht: Kohlekumpel, Ange­
stellte in der Automobil­ und Zuliefererindustrie,
Geld verarbeitendes Gewerbe.
Offenbar gibt es eine Korrelation zwischen
Frau und schlecht bezahlt, nicht anerkannt, nicht
gesehen, unentbehrlich. Ist das vielleicht dieses
Patriarchat?
Paradoxerweise liegt gerade in der Unverzichtbar­
keit ein Grund für die geringe Anerkennung. Die
Arbeit, die Frauen leisten, ist so grundlegend, dass
man sie nicht wahrnimmt. Die Böden wischen im

Krankenhaus, Äpfelchen für Kita­Kinder schneiden,
den Alten die Füße waschen – was soll daran beson­
ders sein? Bricht nicht gerade eine Pandemie aus,
erscheint es als selbstverständlich, dass diese Dinge
erledigt sind. So wie die Sonne morgens auf­ und
abends wieder untergeht. Zumal viele der Tätigkeiten
denen ähneln, die Frauen zu Hause auch unbezahlt
und scheinbar nebenbei erledigen: putzen, kochen,
waschen, spülen, kümmern, sorgen, pflegen.
Allerdings muss man einschränkend sagen: nur
bestimmte Frauen. Den anderen drängt sich jetzt
vielleicht, da die Kinder den ganzen Tag zu Hause
sind und die Putzfrauen, Babysitter und 24­Stun­
den­Altenpflegerinnen nicht mehr kommen, ein
höchst unangenehmer Gedanke auf: Beruht meine
relative Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt
eigentlich darauf, dass ich andere Frauen ausbeute?
Viele bleiben nämlich jetzt auf einem Haufen
Care­Arbeit sitzen und merken, dass die Mühen des
häuslichen Alltags gar nicht zwischen den Geschlech­
tern aufgeteilt ist. Sie wird einfach von bessergestell­
ten Frauen an weniger glückliche Frauen weiter­
gereicht. Sich aus dem Patriarchat herauskaufen,
nennt das die Autorin Jessa Crispin.
Verwerflich ist das vielleicht nicht unbedingt,
Männer lassen sich schließlich erst recht bedienen.
Aber man kann es auch nicht Feminismus nennen,
wenn Frauen insgeheim darauf setzen, dass andere
Frauen schlecht bezahlt werden und in unsicheren
Verhältnissen ohne Aufstiegsmöglichkeiten arbeiten.
Würde Care­Arbeit angemessen entlohnt, hätten die
Männer bald wieder deutlich weniger Konkurrenz in
den Büros. Nun kann man besichtigen, was vorher
eine Ahnung war: Der Frieden zwischen den
Geschlechtern ist prekär.

Nie war Ungerechtigkeit ineffizienter

Und Effizienz und Gerechtigkeit scheinen doch
enger, ja fundamentaler zusammenzuhängen als ge­
dacht. Die Lieferketten – auch die medizinischen –
global zu organisieren, um die Produkte billig zu
machen und die Profite groß, das scheint ja nun gi­
gantische Kosten nach sich zu ziehen, von den Men­
schenleben ganz zu schweigen. Nach Berechnungen
des Ifo­Instituts kostet das derzeitige Herunterfahren
der Wirtschaft die Deutschen 31 Milliarden Euro.
Jede Woche. Was bedeutet, dass schon nach drei
Monaten Corona­Shutdown das gesamte Jahres­
budget für Gesundheit noch einmal verbraucht ist.
War irgendetwas in der Geschichte der Mensch­
heit schon mal so teuer wie die heute fehlende Pfle­
gerin für das Bett auf einer Intensivstation, derent­
wegen nun ganze Volkswirtschaften drastisch herun­
tergebremst werden müssen? So rächt sich – und zwar
ökonomisch –, dass die Löhne in der Pflege so nied­
rig sind und dass es infolgedessen auch nicht genug
Menschen gibt, die sich das in Kombination mit
immenser Arbeitsbelastung antun wollen.
Diejenigen, die den Job trotzdem machen, haben
ein zu großes Herz, oder sie sehen sich aufgrund

ihrer Situation als Einwanderer dazu gezwungen.
Viele steigen entkräftet lange vor der Rente aus. Auch
die gegenwärtige Bundesregierung hat nicht vor, den
Pflegeberuf dramatisch aufzuwerten, sondern sucht
nach Ersatz im nahen und vor allem fernen Ausland,
wo diese Kräfte dann wiederum fehlen werden, denn
auch dort wütet die Pandemie. Man gebe den Mi­
grantinnen doch eine Chance, sagen die einen. Aber
es ließe sich auch ganz anders formulieren: Man
macht die grundlegende Versorgung der eigenen
Bevölkerung von der Dysfunktionalität bestimmter
Länder abhängig und von der Verzweiflung ihrer
Einwohnerinnen. Sozial nachhaltig ist die Strategie
nicht. Der Verband für häusliche Betreuung und
Pflege warnt jetzt, dass 100.000 bis 200.000 Men­
schen schrittweise nicht mehr versorgt werden kön­
nen, allein bleiben oder in die ohnehin überfüllten
Kliniken gebracht werden müssen, weil nach den
Grenzschließungen die Pflegerinnen zurück in ihre
Heimatländer wollen. Globale Care­Ketten zerreißen
dann, wenn es darauf ankommt.

Systemrelevante gegen Systemvirtuose

Die Kluft zwischen Gleichheit vor dem Gesetz
und Ungleichheit in der Wirklichkeit füllte bis­
lang das unschuldige Wort Leistung. Dass es ein
gerechtes Unten und Oben gibt, wurde mit »Leis­
tungsunterschieden« begründet. Doch wenn das
Land noch länger Mut, Disziplin und Selbstlosig­
keit an den Supermarktkassen und in Polizeiautos
lobt, lässt sich bald nur noch schwer behaupten,
dass ein geringer Lohn das gerechte Produkt
geringer Leistung sei.
Was gestern noch halbwegs logisch klang, wirkt
heute ungewollt zynisch. Leistung muss sich wieder
lohnen? Jaja, aber doch bitte nicht so und nicht jetzt.
Etwas war zwischen den Systemrelevanten und den
Systemvirtuosen, zwischen den Wohlhabenden und
dem gehobenen Mittelstand einerseits und dem Heer
ihrer schlecht bezahlten Dienstleister andererseits
schon länger aus der Balance geraten.
Welche Gesellschaft aber kann es sich leisten, dass
alle angemessen entlohnt werden? Wer muss ver­
zichten, wenn andere mehr verdienen? Mit ein biss­
chen Beitragserhöhung etwa im Gesundheitssystem
wird es ja wahrscheinlich nicht getan sein. Eher
schon steht der ganze Kreislauf infrage: die systemi­
sche Ausbeutung in unseliger Kom bi na tion mit
Selbstausbeutung, die für andere die Gewinne in die
Höhe treibt. Die verborgenen Kosten der Privatisie­
rung treten nun in Gestalt von überlasteten Mitarbei­
tern und unterversorgten Patienten zutage. Kann
sich diese Gesellschaft Profite im Gesundheitswesen
noch leisten?
Es scheint so, als könne sie, wenn diese Krise
irgendwann vorbei ist, jedenfalls nicht einfach zu
einer Normalität zurückkehren, die zu diesem Aus­
nahmezustand beigetragen hat.

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Plötzlich Elite


In der Krise offenbart sich: Systemrelevant sind die Unterbezahlten. Wie das Virus die soziale Frage neu aufwirft VON ROBERT PAUSCH, ELISABETH RAETHER UND BERND ULRICH


Foto: Antonio Calanni/AP/dpa

Eine Krankenschwester am Ende ihrer Schicht, porträtiert vom Fotografen Antonio Calanni im italienischen Bergamo am 27. März

TITELTHEMA: WIE SCHÜTZEN WIR DIE SCHWACHEN?

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