Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

8 POLITIK 2. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15


Was in Israel gerade los ist, bezeichnete
die Journalistin Noa Landau in Ab-
wandlung eines legendären Fußball-Zi-
tats so: Politik ist ein Spiel, das 90 Mi-
nuten dauert – und am Ende gewinnt
immer Benjamin Netanjahu.
In drei Wahlen binnen eines Jahres
haben nahezu alle Oppositionskräfte
versucht, den Premierminister, dem
wegen Korruption und Bestechlichkeit
der Prozess gemacht werden soll, loszu-
werden. Das ist vor allem deshalb be-
merkenswert, weil die Parteien sonst
nicht viel eint. Wichtigste Kraft in die-
sem Anti-Netanjahu-Projekt ist die
Zentrumspartei »Blau-Weiß« mit ihrem
Anführer Benny Gantz. Seinem Ver-
sprechen, »Bibi« Netanjahu abzulösen,
kam Gantz nie so nah wie vor wenigen
Tagen, als die Mehrheit der Knesset-
Abgeordneten Präsident Reuven Rivlin
empfahl, ihn, Gantz, mit der Regie-
rungsbildung zu beauftragen. Mit dem

Ergebnis, dass Bibi nun wieder Premier
wird. Will man auf eine Formel brin-
gen, was passiert ist, so lautet die: Coro-
na-Krise plus politisches Genius gleich
Machterhalt.
Zunächst hat Netanjahu dafür ge-
sorgt, dass der alte Parlamentspräsident
die erste Sitzung der neuen Knesset vor-
zeitig beendete, sodass ein Gesetz nicht
verabschiedet werden konnte, wonach
kein Angeklagter Premierminister wer-
den dürfe. Eine Lex Bibi. Dem Macht-
taktiker Netanjahu verschaffte das Zeit,
um Gantz mürbezuverhandeln (und

ganz nebenbei Blau-Weiß zu spalten). Als
ehemaliger Generalstabschef ist Gantz
mehr Soldat und Patriot als Politiker.
Netanjahu machte ihm ein Angebot, das
Patrioten nicht ablehnen können – Wahl-
versprechen hin oder her. In Zeiten von
Corona eine Regierung zu haben ist
wichtiger, als selbst sofort Premier zu
werden. Also willigte Gantz ein: Die ers-
ten 18 Monate führt Netanjahu die Re-
gierungsgeschäfte, danach übernimmt
Gantz. Dessen Partei bekommt zusätz-
lich Schlüsselministerien wie Verteidi-
gung und Justiz (damit es auch wirklich
irgendwann zum Prozess gegen Netanja-
hu kommen kann) und womöglich auch
das nun wichtige Gesundheitsressort.
Warum Bibi das macht? Nun, 18
Monate sind eine sehr lange Zeit in der
israelischen Politik. Zeit genug jeden-
falls für einen politischen Überlebens-
künstler wie Netanjahu, neue Pläne zu
schmieden. ÖZLEM TOPÇU

Alle kennen Greta, aber wer sind Vanessa und
Makenna? Mit ihrem Schulstreik für das Klima
hatte die schwedische Schülerin Greta Thun-
berg 2018 die Jugendbewegung Fridays for
Future losgetreten – und ist zum Weltstar ge-
worden. Kaum bekannt sind dagegen Klima-
Aktivistinnen in Afrika, dem Kontinent, der
am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen
hat, aber schon jetzt am schlimmsten davon be-
troffen ist – durch Sturmkatastrophen, immer
längere Dürren und zunehmend unberechen-
bare Regenzeiten: »Wir spüren die Folgen in
Kenia schon jetzt«, sagt Makenna Muigai, eine
17-jährige Schülerin aus der kenianischen
Hauptstadt Nairobi, in einem Interview der
Nachrichtenagentur Reuters. »Mehr Armut,
mehr Krankheiten, mehr Konflikte.« Vor eini-
gen Wochen hat sie ihr erstes YouTube-Video

über die Klimakrise ins Netz gestellt. Muigai
mobilisiert gegen Plastikmüll und für den
Schutz des Regenwalds im Kongo-Becken,
dem zweitgrößten nach dem Amazonas. Ne-
benbei erklärt sie, warum Schulstreiks für das
Klima in afrikanischen Ländern nicht so popu-
lär sind. »Weil Bildung hier so kostbar ist, dass
man nicht einfach den Unterricht schwänzt.«
Aufklärung über die Klimakrise beginnt für
Muigai im Klassenzimmer, nicht auf der Stra-
ße. Nur sind auch in Kenia die Schulen inzwi-
schen wegen der Corona-Pandemie geschlos-
sen. Muigai setzt ihr Umweltengagement folg-
lich in den sozialen Medien fort – ebenso wie
Vanessa Nakate.
Die 23-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin
aus Uganda erlangte unlängst internationale
Bekanntheit – auf bittere Weise. Im Januar

machte ein Fotograf der Nachrichtenagentur
AP beim Weltwirtschaftsforum in Davos ein
Gruppenbild von Thunberg, Nakate und ande-
ren Aktivistinnen der Klimabewegung. Veröf-
fentlich wurde ein Foto, das nur Thunberg und
drei weiße Klimaschützerinnen zeigte. Nakate,
die einzige Schwarze, war herausgeschnitten
worden. Der folgende Proteststurm hatte sein
Gutes: Mehr Aufmerksamkeit für Nakates »Rise
Up Movement«, eine Plattform für junge afri-
kanische Umwelt-Aktivisten, und für ihre Pro-
jekte: Sonnenkollektoren für Schulen, Aufklä-
rung über Abholzungen im Kongo-Becken.
Sie hat jetzt einen Podcast gestartet und
twittert ununterbrochen. Neben Hashtags wie
#climatechange oder #KeepMamaAfricaGreen
sind jetzt auch #StayAtHome und #COVID19
dazugekommen. ANDREA BÖHM

Lange seien in der AfD keine wichtigen Ent-
scheidungen getroffen worden, denn immer
habe man Rücksicht auf die nächste Wahl
nehmen müssen. Zuletzt auf die in Thürin-
gen, in Brandenburg, in Sachsen. Da habe
man eben versucht, öffentlichen Streit zu
vermeiden, um die Wähler nicht zu vergrau-
len. So ist es aus dem AfD-Bundesvorstand
zu hören. Für eine Partei, die vorgibt, anders
sein zu wollen als die vermeintlich stets
machttaktisch agierende Konkurrenz, ist das
ein bemerkenswertes Eingeständnis, ein be-
merkenswert peinliches.
Die nächste Wahl steht erst in einem
Jahr an. Zeit also für den internen Früh-
jahrsputz. Begonnen hat er mit der Auflö-
sung der rechtsextremen Flügel-Bewegung
von Björn Höcke – sofern man auflösen
kann, was nie fest verbunden war. An die-
sem Dienstag folgten die nächsten Schritte.
Zunächst verkündete das Landesschieds-
gericht Baden-Württemberg den Rauswurf
des Landtagsabgeordneten Stefan Räpple,
der selbst im AfD-Kosmos als radikaler
Spinner gilt. Kurz darauf setzten die Par-
teichefs dann den Landesvorstand im Saar-
land ab. Wegen »schwerwiegender Verstöße
gegen die Grundsätze der Partei«, wie es im
Beschlusspapier heißt. Landeschef Josef
Dörr und sein Vorstand sollen offenbar die
Aufnahme ihnen unliebsamer Antragsteller
verzögert und einen Kreisverband gezielt
benachteiligt haben.
Die AfD versucht offenbar, ihre Altlasten
loszuwerden: Lange Zeit hat der Bundesvor-
stand weggeschaut, sodass die Extremisten
und Quertreiber in der Partei keine Konse-
quenzen fürchten mussten. Ein Ausschluss-
verfahren gegen Räpple ist seit Längerem
Thema, erst jetzt wurde es entschieden. Und
auch die Probleme im Saarland sind nicht
neu. Die AfD hatte vor vier Jahren unter der
damaligen Parteichefin Frauke Petry sogar
den gesamten Landesverband aufgelöst.
Der neue AfD-Bundesvorstand, seit
Ende vergangenen Jahres im Amt, feiert
sich jetzt als konsequenter Reinemacher.
Nur eines hört man kaum: eine Abgren-
zung zu den inhaltlichen Positionen der Ex-
tremen. PAUL MIDDELHOFF

Als Ursula von der Leyen im September vergan-
genen Jahres ihre Mannschaft vorstellte, sagte sie:
»Meine Kommission wird eine geopolitische
Kommission sein.« Das klang ziemlich großspurig
für eine Institution, die weder über ein Außen-
ministerium noch über eine eigene Armee verfügt
und die in fast allen Fragen völlig abhängig ist
vom Goodwill der 27 Mitgliedsstaaten.
Wie stark diese Abhängigkeit ist, musste von
der Leyen schnell erfahren. Beim EU-Gipfel im
Oktober stand die Aufnahme von Beitritts-
gesprächen mit Nordmazedonien und Albanien
auf dem Programm. Doch der französische Prä-
sident Emmanuel Macron legte sein Veto ein.
Das löste bei vielen einen Schock aus. Die EU
schien sich ausgerechnet in dem Moment von
der Geopolitik zu verabschieden, in dem von der
Leyen sich dazu bekannte. Und ausgerechnet der
Mann, der die Welt gern daran teilnehmen lässt,
wie er immerzu in großen Zusammenhängen
denkt, hatte das zu verantworten. In der südöst-
lichen Nachbarschaft machen sich derweil die
Konkurrenten der EU breit, in den Warteraum
Europas vorzustoßen: China, Russland und die
Türkei. Die Chinesen bauen Autobahnen und
treiben Länder in die Schuldknechtschaft, etwa
Montenegro. Die Türkei ist im Bildungswesen
anderer Staaten sehr aktiv. Und Russland gibt
Störfeuer mit allerlei Geheimdienstaktivitäten.
Auch wegen dieser Vorfälle drängte die Kom-
mission weiterhin auf Beitrittsgespräche. Doch
Macron blieb eisern. Sein Argument: Die EU sei
schon mit 27 Mitgliedern kaum handlungsfä-
hig, wie sollte sie es mit 29 oder gar 32 Mit-
gliedern sein? Der Westbalkan hat insgesamt
sechs Beitrittskandidaten: Nordmazedonien, Al-
banien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo,
Montenegro.
Doch die EU ist ein zähes Wesen, sie lässt sich
nicht so schnell abbringen von ihrem Ziel. Ver-
gangene Woche einigten sich die Außenminister
darauf, nun doch mit Mazedonien und Albanien
zu verhandeln. Und Macron? Der ist besänftigt,
weil die Aufnahmebedingungen noch mal ver-
schärft wurden. Das dürfte beim französischen
Präsidenten die Gewissheit nähren, dass die Bei-
trittsverhandlungen sich sehr, sehr lange hinzie-
hen werden. Geopolitik ist zwar das Denken in
großen Räumen – oft aber auch in langen Zeit-
spannen. ULRICH LADURNER

Wer immer sich diesen Namen ausge-
dacht hat, besitzt Galgenhumor. »Irini«


  • »Frieden« auf Griechisch – heißt die
    neue Libyen-Mission der EU im Mit-
    telmeer. Nur nimmt der Krieg in Li-
    byen gerade so richtig Fahrt auf. Ope-
    ration Irini soll zu Wasser und aus der
    Luft das Waffenembargo überwachen,
    das seit 2011 mit Einschränkungen für
    Libyen in Kraft ist und von den auslän-
    dischen Verbündeten der Kriegsparteien
    schamlos missachtet wird. Aufseiten der
    offiziell anerkannten Regierung in Tri-
    polis ist das vor allem die Türkei, auf-
    seiten ihres Gegners, des Generals
    Chalifa Haftar, sind es die Vereinigten
    Arabischen Emirate (VAE), Ägypten,
    Russland.
    Zur Überwachung des Embargos
    hatte sich die EU auf dem Berliner Li-
    byen-Gipfel im vergangenen Januar ver-
    pflichtet. Dort hatten die Konfliktpar-
    teien eine Waffenruhe und ihre interna-


tionalen Unterstützer einen Stopp der
Rüstungslieferungen vereinbart – bei
vielen, das kann man nun erkennen,
ohne die geringste Absicht, sich daran
zu halten.
Dass sich die 27 EU-Staaten erst jetzt
auf die Mission einigen konnten, lag vor
allem an Österreich und Ungarn. Beide
Länder wollen partout vermeiden, dass
Irini-Schiffe Flüchtlinge in Seenot ret-
ten müssen. Aus diesem Grund war die
vorherige Mission, Operation Sophia,
gestoppt worden. Also sollen sich die
EU-Schiffe nun abseits der Fluchtrou-

ten aufhalten, im östlichen Mittelmeer.
»Von da kommen die Waffen auch her«,
sagt der EU-Außenbeauftragte Josep
Borrell.
Was stimmt, aber nur die halbe
Wahrheit ist. Im östlichen Mittelmeer
kann Irini Nachschublieferungen der
Türkei abfangen, die die Regierung in
Tripolis mit Panzerfahrzeugen, Haubit-
zen und Drohnen versorgt – und mit
Kämpfern aus dem syrischen Bürger-
krieg, die auf der Soldliste Ankaras ste-
hen. Chalifa Haftar hingegen wird von
den VAE mit Militärgerät vor allem aus
der Luft beliefert. Deren eklatante Brü-
che des Embargos kann Operation Irini
allenfalls dokumentieren, was weder
den starken Mann des Golfstaates, Mo-
hammed bin Sajed, noch seinen
Schützling Chalifa Haftar beeindru-
cken wird. Haftar sieht nun offenbar
die Gelegenheit, den Krieg für sich zu
entscheiden. ANDREA BÖHM

DI E W E LT


JENSEITS DES VIRUS


Deutschland:


Rechts räumt auf


Libyen: Mission


»Bitte nicht retten!«


Israel: Macht teilen,


um Macht zu behalten


EU: Und sie


erweitert sich doch


Afrika: Die Gretas für das


Kongo-Becken


Die Aktivistin Vanessa Nakate kämpft
in Uganda für den Klimaschutz

Fotos: Simon Dawson/Bloomberg/Getty Images (gr.); kl. Fotos: imago (o. l.); Reiner Zensen/imago (o. r.); Artur Widak/NurPhoto/dpa (u. l.); Esam Omran Al-Fetori/Reuters (u. r.)

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