Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 POLITIK 9


Nach neun Jahren wird Mosallam K. seinen mutmaßlichen Peiniger wiedersehen

Höllenqualen


Mosallam K. wurde wie Tausende Syrer im Auftrag des Assad-Regimes gefoltert.


Jetzt könnte er Gerechtigkeit erfahren, sein mutmaßlicher Peiniger kommt vor Gericht – in Koblenz


VON MOHAMED AMJAHID UND HOLGER STARK

A


ls die Autos der Geheimpolizei
heranpreschten, hatten sich die
Demonstrantinnen im Stadt-
zentrum von Damaskus gerade
auf den Weg gemacht. Mehrere
Männer sprangen heraus und
zerrten Mosallam K. in einen
Bus. K. hatte die Mitglieder einer Frauenorganisa-
tion gefilmt, die gegen Staatspräsident Baschar al-
Assad protestierten, im Demozug lief auch die
Frau von K. mit.
Die Agenten nahmen K. das Handy ab und
fuhren ihn und einige andere Gefangene in den
Nordwesten von Damaskus, zum Gefängnis des
Allgemeinen Syrischen Geheimdienstes, wo die
Wärter sie schon erwarteten. Mosallam K. wusste,
wohin man ihn verschleppt hatte: Der Gebäude-
komplex in der Bagdadstraße befindet sich nur ein
paar Häuser entfernt vom Haus seiner Eltern.
Die Wärter brachten Mosallam K. in den Keller
des Gefängnisses, in den Tagen danach schlugen sie
ihn mit Elektrokabeln auf den Rücken und auf die
Füße, bis die so angeschwollen waren, dass er nicht
mehr laufen konnte, so erzählt er es heute, Jahre
später, der ZEIT. Am Ende der ersten Woche jagten
sie ihm Stromstöße durch den nackten Körper, über-
gossen ihn mit kaltem Wasser und schalteten den
Strom erneut ein, Wasser leitet Elektrizität besonders
gut. Einmal führten ihn die Wärter in den ersten
Stock. Dort hatte der Mann sein Büro, der offenbar
all die Qualen verantwortete: Anwar R., der Kom-
mandant des Gefängnisses. Das war 2011.
Neun Jahre später werden Mosallam K. und
Anwar R. erneut aufeinandertreffen. Aber diesmal
ist es Anwar R., 57, der im Gefängnis sitzt, in der
Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit. Ende April
soll vor dem Oberlandesgericht Koblenz der Pro-
zess gegen ihn und einen weiteren ehemaligen
Geheimdienstmann beginnen. Die Bundesan-
waltschaft wirft R. vor, für den Tod von 58 Men-
schen und die Folterung von mindestens 4000
Häftlingen verantwortlich zu sein. Mosallam K.,
der zu rund einem Dutzend Betroffener zählt, mit
denen die ZEIT sprechen konnte, wird als Zeuge
auftreten.
Der Prozess soll den Opfern Gerechtigkeit
bringen. Aber er ist auch ein Signal an den syri-
schen Machthaber Baschar al-Assad und an andere
Diktatoren, dass die Welt nicht vergisst. Und dass
der deutsche Rechtsstaat nicht ohnmächtig ist,
wenn er von Taten wie jenen im Foltergefängnis
von Damaskus erfährt.
Seit 2002 können Verbrechen gegen die
Menschlichkeit von der deutschen Justiz auch
dann verfolgt werden, wenn sie weder in Deutsch-
land begangen wurden noch Deutsche unter den
Tätern oder Opfern sind. »Gerade dieses Verfah-
ren gegen Mitglieder des Assad-Regimes zeigt, dass
wir in Deutschland gewillt sind, solche Straftaten
auch künftig konsequent zu verfolgen«, sagt Ge-
neralbundesanwalt Peter Frank der ZEIT. »Wir
dürfen kein sicherer Hafen für Kriegsverbrecher
oder Völkermörder werden.«
Die Ermittlungen gegen Anwar R. führen in Ab-
gründe menschlichen Verhaltens. Sie führen aber
auch in den zwielichtigen Alltag einer Diktatur, in
dem es nicht immer nur richtig oder falsch gibt.
Denn Anwar R., 57, geboren in Homs, sieben
Kinder, ist nicht nur ein mutmaßlicher Täter. Ob-
wohl er dem Assad-Regime jahrelang treu gedient
hatte, war er auch der erste prominente Deserteur,
der sich aus Syrien absetzte und zur Opposition
überlief. Er verfolgte nicht nur, er wurde auch ver-
folgt. Als er im Sommer 2014 nach Deutschland
kam, beantragte er politisches Asyl; auf die Frage,
was ihm in Syrien drohe, fuhr er sich mit der fla-
chen Hand über den Hals und sagte: »Tod.« Aber
lässt das seine mutmaßliche Verwicklung in Ver-
brechen in anderem Licht erscheinen?
Anwar R. durchlief in Syrien die Bilderbuch-
karriere eines linientreuen Beamten, Ausbildung
an der Universität Damaskus, Polizeiakademie,
Schichtdienst im Passamt von Aleppo, Streifen-
gänge an der Grenze zur Türkei. Schließlich rekru-
tierte ihn der Allgemeine Geheimdienst, einer von
rund einem Dutzend syrischer Nachrichtendiens-
te. Russische Ausbilder trainierten ihn, bevor er in
die »Abteilung 251« des Dienstes in Damaskus
eintrat, die zuständig ist für die innere Sicherheit
des Landes und die das Gefängnis an der Bagdad-
straße betreibt. Zwischendurch wechselte er inner-
halb des Dienstes, ehe er im Jahr 2008 die Unter-
abteilung »Ermittlungen« der Abteilung 251 über-
nahm. Er war jetzt für die Ausforschung der syri-
schen Opposition zuständig, ein Rad im Getriebe
von Assads Unterdrückungsmaschinerie.
In jedem totalitären Staat gibt es Männer wie
Anwar R., die Befehle von oben bekommen und
doch selbst genug Macht haben, um über Leben
und Tod zu entscheiden. Männer, ohne die kein
totalitäres System überleben kann. Männer, die für
ihre Treue belohnt werden. Anfang 2011 wurde
Anwar R. zum Oberst befördert, jetzt war er einer
von jenen Männern.
Kurz darauf begann der syrische Aufstand.
Im März 2011 zogen die Syrer zu Tausenden
auf die Straßen, zunächst nur in der Kleinstadt
Dara, dann überall, ein Hauch von Freiheit wehte
durch das unterdrückte Land.
In Damaskus rief Staatspräsident Baschar al-
Assad die Chefs der Geheimdienste, der Polizei
und der Armee zusammen. Am 20. April 2011
entschied die Runde, den Aufstand mit Gewalt
niederzuschlagen.
Kurz darauf versammelten sich in Duma, nord-
östlich von Damaskus, Schätzungen zufolge zwischen
3000 und 6000 Menschen zu einer Demonstration
an der großen Moschee, Menschen, sie tanzten auf
der Straße und riefen »Baschar, hau ab!«, so haben es
die deutschen Ermittler rekonstruiert.
Irgendwann fuhr ein dunkler Mercedes vor, er-
zählt der zweite Angeklagte in diesem Verfahren,
Anwar R.s ehemaliger Kollege Ejad A., der damals
dabei war. Dem Mercedes entstieg Hafis Machluf,


Assads Cousin, der in der Abteilung 251 eine eige-
ne Truppe anführte, die berüchtigt für ihre Bruta-
lität war. In der Hand hatte er eine Maschinenpis-
tole oder eine halb automatische Waffe, so genau
weiß Ejad A. das nicht mehr, jedenfalls feuerte
Assads Cousin in die Menge und rief: »Wer den
Präsidenten liebt, soll auf die Verräter schießen.«
Panik brach aus. Fünf der Demonstranten
sackten tödlich getroffen zusammen, Assads Hä-
scher jagten die Menschen durch die Straßen und
nahmen diejenigen fest, die nicht rechtzeitig ent-
kommen konnten. Die Gefangenen wurden in
Busse gescheucht und in das Gefängnis an der
Bagdadstraße gefahren.

D


ie Haftanstalt besteht aus mehreren
Gebäuden, die hinter einer hohen
Mauer liegen und miteinander ver-
bunden sind. Das Büro von Anwar
R. befand sich im ersten Stock, im
Erdgeschoss schoben rund 30 Wärter Dienst, eine
Treppe führt ins Untergeschoss, wo die Zellen lie-
gen, so schildern es ehemalige Gefangene. Ausge-
legt ist der Komplex für hundert Insassen. Aber
nach dem Beginn des Arabischen Frühlings schos-
sen die Häftlingszahlen in die Höhe, sodass sich im
Verlies im Untergeschoss zeitweise mehr als 400
Menschen drängten. Manche der Zellen waren
derart überfüllt, dass die Häftlinge im Stehen
schlafen mussten, Toilettengänge waren nur ein-
mal am Tag erlaubt, die hygienischen Bedingun-
gen katastrophal. In der Abteilung 251 habe es
praktisch kein Verhör gegeben, bei dem nicht ge-
foltert wurde, heißt es in der Anklageschrift.
Manchmal wendeten die Vernehmer eine Me-
thode namens »Dulab« an, bei der die Häftlinge
in einen Autoreifen gezwängt und geschlagen und
getreten werden. Bei einer anderen Foltermetho-
de, dem »Fliegenden Teppich«, werden die Ge-
fangenen an ein Brett gebunden und malträtiert;
ein Scharnier erlaubt es, den Unterkörper nach
hinten abzuspreizen, bis die Gefangenen vor

Sondergesandten der Vereinten Nationen, er trägt
Anzug und Krawatte. Das Gefängnis an der Bag-
dadstraße scheint jetzt sehr weit weg.
Doch nicht alle glauben an die wundersame
Wandlung des Assad-Dieners zum Systemgegner.
Der Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni etwa,
der zeitweilig selbst im Gefängnis an der Bagdad-
straße misshandelt wurde, behauptet: »In ganz
Damaskus war bekannt, dass Anwar R. der bru-
talste Folterer des Regimes ist.«
Im Sommer 2014 zieht Anwar R. mit seiner
Familie nach Deutschland, stellt einen Antrag auf
Asyl und erhält eine Aufenthaltserlaubnis. Im
Nordosten Berlins finden er und seine Familie eine
Wohnung in einer ruhigen Neubausiedlung. Ein
schneeweißer Plüschhund lächelt vom Fenster-
brett jeden Besucher freundlich an. Größer könnte
der Kontrast zum Bürgerkrieg kaum sein.
Allerdings hat der Konflikt Spuren hinterlas-
sen. R. leidet seit einigen Jahren unter Bluthoch-
druck. Im Februar 2015 sucht er deshalb die Pra-
xis eines syrischen Arztes in Berlin-Tempelhof auf.
Als Anwar R. im Wartezimmer sitzt, schaut er aus
dem Fenster. Auf der Straße glaubt er zwei Män-
ner zu erkennen, die auf- und abgehen und ver-
dächtig oft in Richtung der Praxis starren. Als er
die Räume des Arztes verlässt, sind die Männer
noch immer da, erst als R. sich ihnen nähert,
springen sie in ein Auto und fahren davon. Haben
sie Anwar R. beobachtet?

E


in paar Tage später besucht R. einen
Zahnarzt. Als er am späten Vormittag
aus der Praxis tritt, stehen erneut zwei
arabisch aussehende Männer im Weg
und starren ihn an, so wird er es später
zu Protokoll geben. R. ist jetzt überzeugt davon,
dass der syrische Geheimdienst ihn observiert. Er
erstattet Anzeige bei der Polizei. Und beginnt zu
erzählen, seine Aussage wird aufgenommen. Die
Vernehmungsprotokolle lesen sich, als ob R. vor
allem deshalb mit den Polizisten spricht, um deut-
lich zu machen, warum das syrische Regime ihn
nun sucht. Er erzählt von seiner Zeit in Syrien.
Vom Geheimdienst. Und von der Abteilung 251.
Was R. nicht weiß: Für Ermittlungen wegen
des Verdachts der Spionage ist in Deutschland der
Generalbundesanwalt zuständig. Und für Ermitt-
lungen gegen Kriegsverbrecher auch.
Die Bundesanwälte in Karlsruhe prüfen die
Anzeige, die ihnen das Landeskriminalamt Berlin
weitergeleitet hat. Eine Übernahme der Ermitt-
lungen wegen des Spionageverdachts lehnen sie
ab: Der Verdacht ist zu vage.
Aber als Anwar R. in einer zweiten Befragung
erneut detailliert über seine Zeit in Syrien berich-
tet, leitet der Generalbundesanwalt ein anderes
Ermittlungsverfahren ein – gegen Anwar R.
selbst, wegen möglicher Verbrechen gegen die
Menschlichkeit.
Nach monatelangen Ermittlungen wird er am


  1. Februar 2019 festgenommen. Der Mann, der
    so lange dem syrischen Geheimdienst diente, der
    sein Büro in einem Foltergefängnis hatte und sich
    nun von Assads Männern bedroht fühlt, hat
    Schutz bei der deutschen Polizei gesucht – und
    landet selbst im Gefängnis.
    Auf den Fotos, die die deutschen Ermittler von
    ihm nach der Festnahme gemacht haben, guckt
    Anwar R. nicht unfreundlich, eher etwas über-
    rascht. War er nicht nach Deutschland geflohen,
    um sich vom Regime abzusetzen? Anfangs hat er
    sich noch zu erklären versucht. Hunderte Verneh-
    mungen hätten in seinem Gefängnis täglich statt-
    gefunden, sagte Anwar R. den deutschen Ermitt-
    lern, da habe man »nicht immer höflich« bleiben
    können. Wenn jemand einer bewaffneten Opposi-
    tionsgruppe angehört habe, seien »strenge Ver-
    nehmungen« durchgeführt worden. Aber es habe
    keinen Befehl gegeben, Gewalt anzuwenden. Seine
    Leute hätten friedlich bleiben wollen.
    Wenn Anwar R. über sich und das Gefängnis an
    der Bagdadstraße redet, klingt er kaum anders als sein
    einstiger Präsident. Als Baschar al-Assad von einem
    Reporter eines russischen Fernsehsenders im Novem-
    ber 2019 auf Anwar R.s Festnahme angesprochen
    und nach den Ermittlungen der deutschen Justiz
    gefragt wird, sagt der Diktator: »Wir praktizieren
    keine Folter. Warum sollten wir die Menschen fol-
    tern? Das ist nicht unsere Politik.«
    Der ehemalige Häftling Mossallam K. schreckt
    bis heute nachts hoch und wähnt sich im Folter-
    knast von Damaskus. Nach einiger Zeit wurde er
    damals in ein anderes Gefängnis verlegt und einige
    Tage später entlassen, 2013 floh er über den Liba-
    non nach Deutschland; heute lebt er in Nord-
    rhein-Westfalen. Er lernt Deutsch und macht sei-
    nen Führerschein, er hofft, bald wieder arbeiten zu
    können. Sein Haus und sein Unternehmen haben
    Assads Männer zerstört. »Ich habe im Krieg alles
    verloren«, sagt er.
    Anders als viele der Folteropfer, mit denen die
    ZEIT gesprochen hat, sagt Mossallam K., er sei
    froh darüber, persönlich an dem Prozess teilneh-
    men zu dürfen. Vor der Begegnung mit Anwar R.
    habe er keine Furcht. »Dass dieses Verfahren über-
    haupt stattfinden kann, ist für mich eine Form von
    Gerechtigkeit, für die ich Deutschland danke«,
    sagt Mossallam K. Die Anwälte von Anwar R. und
    Ejad A. wollen sich zu der Anklage der Bundes-
    anwaltschaft nicht äußern.
    Generalbundesanwalt Peter Frank, der auch
    Haftbefehle gegen mehrere weitere hochrangige
    syrische Geheimdienstler erlassen hat, wirft Anwar
    R. vor, sich aus »niederen Beweggründen« des
    Mordes und der Folter schuldig gemacht zu ha-
    ben. Folgt das Gericht der Anklage, droht R. eine
    lebenslange Freiheitsstrafe, womöglich sogar mit
    anschließender Sicherungsverwahrung. Er müsste
    dann den Rest seines Lebens in einem deutschen
    Gefängnis verbringen.
    Im Gefängnis an der Bagdadstraße, berichten
    Menschenrechtsorganisationen, wird derweil ge-
    foltert wie eh und je.


Foto: Dominik Asbach für DIE ZEIT

Schmerz brüllen. Und dann war da noch der
»Deutsche Stuhl«, bei dem die Hände hinter einem
beweglichen Metallstuhl gefesselt sind und die
Wirbelsäule so weit nach hinten überstreckt wird,
bis die Wirbel herausspringen – oder das Rück-
grat bricht.
Dem Gefangenen Mosallam K., der die Frauen-
demonstration in Damaskus gefilmt hatte, widme-
ten die Wärter besondere Aufmerksamkeit: K.
stammt aus einer berühmten Familie, sein Groß-
vater war in den 1940er- und 1950er-Jahren Teil
der syrischen Regierung. K. selbst führte im Um-
land von Damaskus bis zu seiner Verhaftung ein
Kosmetikunternehmen, seine Handcremes wur-
den in viele arabische Länder exportiert.
Als die Wärter K. zur Vernehmung abholten,
gab ihm ein älterer Mithäftling einen Rat: »In die-
ser Situation hat man nur zwei Möglichkeiten:
Entweder die Zähne zusammenzubeißen und
Stärke zeigen. Oder die ganze Zeit schreien.« Mos-
sallam K. sagt: »Ich habe geschrien wie nie zuvor in
meinem Leben.«
Im Gefängnis gab es zwei Arten von Geheim-
dienstmitarbeitern. Die Wärter, die auf die Gefange-
nen aufpassten und sie auf Anweisung misshandelten.
Und die Vernehmer, die mit den Folterwerkzeugen
hantierten wie ein Fleischermeister mit seinen Haken.
»Sie haben dabei oft gelacht«, sagt Mossallam K., »sie
haben es genossen.« Es habe nichts gegeben, was man
nicht mit den Gefangenen gemacht habe, sagt Ma-
hamad A., 37, der als Wachmann im Gefängnis
diente und irgendwann desertierte, weil er die Grau-
samkeiten nicht mehr aushielt.
Die Folter sei erst beendet worden, wenn der
Gefangene in Ohnmacht gefallen sei, erinnert sich
Ejad A., 43, der zweite Angeklagte, der 16 Jahre
lang in verschiedenen Geheimdienst-Abteilungen
diente, ehe er nach Deutschland floh.
Die Leichen ließen die Wärter nachts abtrans-
portieren, eingehüllt in Decken; sie wurden zu einer
Deponie 40 Kilometer südlich von Damaskus ge-
bracht und in ausgeschachtete Gräber geworfen.

Mindestens 58 Menschen seien zwischen dem
Beginn des Arabischen Frühlings und Anwar R.s
Flucht im September 2012 im Gefängnis von Al-
Chatib umgebracht worden, heißt es in der Anklage-
schrift der Bundesanwaltschaft. Die Staatsanwälte
haben bei ihren Ermittlungen in ganz Europa
rund hundert Zeugen befragt, ehemalige Bürger-
rechtler und Folteropfer ebenso wie Überläufer.
Sie stützen sich zudem auf die gerichtsmedizini-
sche Untersuchung von rund 28.000 Aufnahmen
eines ehemaligen syrischen Militärfotografen mit
dem Decknamen »Caesar«, dessen Aufgabe es war,
die Leichen zu fotografieren, und der die Bilder
außer Landes schmuggelte – darunter auch viele
Fotos von Toten aus Anwar R.s Gefängnis.
Über Jahrzehnte hatte R. den Assads treu ge-
dient, doch nach dem Beginn des Aufstands im
Frühling 2011 hatte sich die Lage verändert. Er sei
von zwei Seiten unter Druck geraten, erzählte er
später den deutschen Behörden, von seinen Ver-
wandten, die teilweise im Widerstand aktiv gewe-
sen seien – und vom Regime selbst.
Mehrfach habe er das Gespräch mit seinen Vor-
gesetzten gesucht, behauptet R., er habe argumen-
tiert, der Staat dürfe kein Interesse daran haben,
willkürlich Menschen zu verhaften. Aber niemand
habe ihm geantwortet.
Kurz vor Weihnachten 2012 setzt sich Anwar
R. mit seiner Frau und fünf seiner Kinder nach
Jordanien ab – und vollzieht eine erstaunliche
Wende: Er berät jetzt den syrischen Widerstand
gegen Assad. Anwar R. sei sogar zum militärischen
Sprecher der Exilopposition ernannt worden, sagt
Kefa Ali Deeb, die in jener Zeit der Führung des
Widerstands angehörte. Auch das Auswärtige Amt
in Berlin bestätigt »eine aktive und sichtbare Rolle
des Herrn R. innerhalb der syrischen Opposition«.
Der Bundesnachrichtendienst attestiert, R. habe
sein Insiderwissen aus seinen 18 Jahren beim Ge-
heimdienst der Opposition preisgegeben.
Anwar R. fliegt nach Genf und nach Istanbul,
zu den internationalen Friedensgesprächen des
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