Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

TITELTHEMA: WIE SCHÜTZEN WIR DIE SCHWACHEN?


Ach, was waren das doch für Zeiten, als die Men-
schen zur Begrüßung noch beherzt »Guten Tag«
sagten und nicht ein besorgt-verzagtes »Wie geht’s
dir denn?« herauswimmerten. Und beim Abschied
ein hoffnungsfrohes »Auf Wiedersehen!« erklingen
ließen und kein verzagt-besorgtes »Bleiben Sie ge-
sund!« wünschten. Sie fangen an, mir auf die Nerven
zu gehen, diese Wie-geht’s-denn-Bemutterer und
Bleiben-Sie-gesund-Beter. Mit jedem Tag, an dem
Corona-Sondersendungen und -Brennpunkte ein
bisschen mehr zum ARD-ZDF-Standardprogramm
mutieren, steigen die Guten-Tag-/Auf-Wiedersehen-

Konventionalisten in meinem An sehen. Als die letz-
ten Verteidiger der Normalität.
Mit den Guten-Tag-Sagern und Auf- Wie der sehen-
Be wah rern, so meine Erfahrung, muss man auch
nicht schon wieder über das reden, worüber nun alle
reden. Ob die Kontaktsperre verlängert wird, wie
lange die Wirtschaft den Shutdown aushalten kann,
warum man nicht genügend Schutzkleidung für
Ärzte, nicht genügend Beatmungsgeräte für Patienten
und nicht genügend Testmaterial für verunsicherte
Bürger herstellen kann – kein Wort darüber. Warum
die Briten ihren National Health Service so verehren,

der beim ersten Husten regelmäßig kollabiert; wieso
die USA, das wirtschaftlich stärkste Land der Erde,
sich nun als gesundheitspolitisches Burkina Faso er-
weisen; weshalb Südkorea, Taiwan, Japan so viel bes-
ser klarkommen mit dem Virus als Italien, Spanien,
Frankreich – egal. Wann die Bundesliga wieder
startet, ob Ursula von der Leyen ihren Krisenhaushalt
hinbekommt, wann Jürgen Drews endlich wieder
nach Mallorca darf – piepenhagen. Ob Dax-
Konzerne ihren Aktionären noch Dividende auszah-
len, warum man keine Adidas-Schuhe mehr kaufen
sollte, wann Eric Clapton wieder Konzerte geben

LIEBE


Schluss mit »Bleiben Sie gesund«: Was wir den letzten Verteidigern der Normalität verdanken VON PETER DAUSEND


Peter Dausend
ist Politischer
Korrespondent
im Hauptstadt-
büro der ZEIT

Die Autorin
Antje Joel
absolviert an der
Universität in
Worcester, UK,
den Masterstu-
diengang »Under-
standing Domestic
Violence and
Sexual Assault«

60
ZEILEN
...

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kann – schnuppe. Ob der Deutsche Sachbuchpreis
nicht doch vergeben werden sollte, ob Videochats nun
das Lagerfeuer der Moderne sind, ob Donald Trump
oder Jair Bolsonaro nun der größte Corona-Trottel ist,
den Sars-CoV-2 je ge sehen hat – einerlei.
Den Verteidigern der Normalität ist nichts der Rede
wert, worüber alle reden. Telefonate mit ihnen – per-
sönlich treffen darf man sie in diesen Tagen und Wo-
chen, womöglich Monaten nicht – erweisen sich als
Oasen der Erholung. Sie sagen »Guten Tag« und nach
etwa einer Viertel-, manchmal auch nach einer halben
Stunde »Auf Wiedersehen«. Der Rest ist Schweigen.


  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 STREIT 11


Eingeschlossen


mit dem Peiniger


Wenn die häusliche Gewalt in den kommenden Wochen explodiert,


wird die Bestürzung groß sein. Was für eine Heuchelei VON ANTJE JOEL


etzt also sorgen sie sich, die Politiker. Und strampeln.
Plötzlich wollen sie alles daransetzen, Frauen zu hel-
fen, deren Männer eine Bedrohung für sie sind. Leer
stehende Hotels könnten angemietet werden, um
temporär mehr Frauenhausplätze zu schaffen, schla-
gen die einen vor. Von einer »Ausnahmesituation«
sprechen einige Medien. Die durch die Corona-Pan-
demie verursachte Unsicherheit, die Isolation und der
damit verbundene Druck führen zu vermehrter Ge-
walt in den Familien. Plötzlich gibt es nicht einmal
mehr stundenweises Entkommen für die Frauen,
plötzlich können ihre Peiniger permanent kontrollie-
ren, ob sie am Telefon um Hilfe bitten. In Frankreich
haben Frauenrechtlerinnen schon ein Codewort ent-
wickelt: Wenn Frauen in Apotheken nach »Maske
Nummer 19« fragen, soll die Polizei alarmiert werden.
In China stieg die Gewalt in der Isolation um das
Dreifache. Spanien meldet ähnliche Zahlen. In Eng-
land gingen bei den Frauennotrufen schon in den
Wochen vor der Isolation »deutlich mehr« Hilferufe
ein als an normalen Tagen. Hier ein Maßstab, was
»deutlich mehr« ungefähr bedeutet: An normalen
Tagen fährt die britische Polizei alle 30 Sekunden zu
einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt.
Ausnahmesituation? Die ist für Millionen Frauen
in Deutschland Alltag.
Ich nenne sie hier noch mal schnell, die langweiligen
Fakten: Jede dritte Frau auf der Welt erfährt wenigstens
einmal in ihrem Leben Gewalt von ihrem Partner oder
Ex-Partner. Das sind in Deutschland zwölf Millionen
Frauen. Jeden Tag versucht hier ein Mann, seine Ex-
oder aktuelle Partnerin zu ermorden. Jeden dritten Tag
ist einer erfolgreich. Das haben wir mittlerweile tausend-
undeinmal gelesen und gehört. Und trotzdem scheint
die Mehrheit noch nicht alarmiert zu sein. Nachdem
die ZEIT im Dezember jede der 122 im Vorjahr von
ihrem Ex- oder Lebenspartner ermordeten Frauen do-
kumentiert hatte, kommentierte ein Leser unter dem
Artikel: »Wir reden hier über 122 Taten bei 80 Mio.
Einwohnern. Das ist eine absolute Nischenzahl, die
keinerlei Aussagekraft über das männliche Geschlecht
hat. (...) Warum so ein Männerhass?«
Ich denke: Besser bringt man die dominierende
Haltung in Gesellschaft und Politik nicht auf den
Punkt. Und wenn es nun »die paar mehr« Frauen durch
die Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Krise er-
wischen wird, wird Politiker wohl vor allem die Sorge
um sich selbst treiben: Jetzt, wo die Frauen auf staatliche
Anweisung ihrem Peiniger in heimischer Isolation aus-

geliefert sind, könnte ja jemand auf die Idee kommen,
die Politiker seien mit schuld.
Es sterben mehr Männer als Frauen an den unmit-
telbaren Folgen des Virus, so viel ist wahr. In jeder an-
deren Hinsicht stehen Frauen auch hier weltweit an der
Front. Sie stellen in deutschen Krankenhäusern gut 70
Prozent des Pflegepersonals. Sie übernehmen die häus-
liche Pflege alter oder kranker Familienmitglieder – da
sie meist eh weniger verdienen als die Männer. Sie
kümmern sich nach Schließung der Schulen und Kitas
öfter um die Betreuung der Kinder. Die Behauptung,
dass die Pandemie Männer schlimmer treffe als Frauen,
ist so falsch wie die immer wiedergekäute Behauptung,
dass Männer auf dieselbe Art Opfer von häuslicher Ge-
walt werden (oder werden könnten) wie Frauen.
Es geht nicht darum, männlichen Gewaltopfern Hilfe
zu versagen. Aber der oft fast reflexhafte Verweis aus
Gerichten, Presse, Politik, dass Männern »so etwas auch
passiert«, entschuldigt und fördert damit Gewalt gegen
Frauen. Sie ist nicht zu entschuldigen. Nicht mit der
Arbeitslosigkeit der Täter, nicht mit Stress und auch
nicht mit der Angst davor, dass Corona Männern die
wirtschaftliche Existenz rauben könnte. Und nicht mit
Ausgangssperren und steigendem Alkoholkonsum.

F


rauen grundsätzlich die Fähigkeit zur Ge-
walt abzusprechen ist falsch. Frauen brül-
len. Beleidigen. Sie werfen mit Tassen und
Tellern. Sie schlagen. Das bestätigen meh-
rere Studien. Teilweise ziehen diese – Kri-
minalstatistiken zum Trotz (laut Bundeskriminalamt
waren im vergangenen Jahr 81 Prozent der Opfer
häuslicher Gewalt Frauen) – daraus den Schluss, die
Gewalt in Beziehungen sei gleichwertig verteilt. Un-
populär, aber wahr ist: Es gibt eine Hierarchie der
Gewalt. Es gibt einen Unterschied zwischen einer
Ohrfeige und dem Auf-die-Intensivstation-Prügeln.
Es gibt einen Unterschied zwischen Beleidigungen
und systematischen Erniedrigungen, die zum Ziel
haben, den anderen zunichtezumachen.
Wer die Gewalt in Beziehungen messen will, muss
Ungleiches unterscheiden, sagt der US-Forensiker Evan
Stark. Er forscht seit mehr als 30 Jahren dazu, wie Män-
ner im täglichen Leben Frauen als Geiseln nehmen. Die
Beziehungsgewalt, die von Frauen ausgeht, ist dem-
gegen über vor allem situativ. Sie ist meist ein auf den
Augenblick bezogener, fehlgeleiteter Versuch der »Pro-
blemlösung«. Beispielsweise, wenn ein Mann sagt: »Ich
habe dich betrogen«, und die Frau schlägt im Affekt zu.

Männergewalt gegen die Partnerin (beziehungsweise die
Form der Gewalt, die der Begriff »häusliche Gewalt«
gemeinhin umschreibt) hingegen ist systematisch. Ihr
Ziel ist Kontrolle, ist Macht.
Der englische Begriff coercive control, »Zwangskon-
trolle«, beschreibt die systematische Unterwerfung eines
anderen. Anfänglich oft mittels langsam gesteigerter
psychischer Gewalt, wie Erniedrigungen, Demütigun-
gen und finanzieller oder sozialer Isolation. Social Dis-
tancing beispielsweise gehörte schon vor der Corona-
Krise zum Regelwerk des Gewalttäters. Und das Sich-
zurechtbiegen und Sichzunutzemachen bestehender
Sitten, Regeln und Umstände. Bei einer Notrufstelle in
New York meldete sich eine Frau, deren Partner ihr
wiederholt drohte, sie auf die Straße zu setzen, damit
sie sich mit dem Coronavirus infiziere.
Evan Stark sagt auch, dass er in seinen mehr als 30
Forschungsjahren auf dem Gebiet nie einem Fall be-
gegnet sei, in dem die Frau auf die gleiche Art, mit dem
gleichen persönlichkeitsvernichtenden Effekt Gewalt
über ihren Mann ausgeübt habe. Eine britische Studie,
die Männer befragte, die sich als Opfer häuslicher Ge-
walt erlebt hatten, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis:
In maximal ein bis zwei Prozent der untersuchten Fälle
könne man von Zwangskontrolle sprechen. Die For-
scher machten noch eine Entdeckung: So zurückhaltend
die Männer waren, ihre eigenen Übergriffe als Gewalt
zu werten, so schnell fühlten sie sich selbst als Opfer.
In England wurde Zwangskontrolle als »zielgerich-
tetes Muster von Vorfällen über den Lauf der Zeit, damit
eine Person Macht, Kontrolle oder Zwang über einen
anderen ausüben kann«, 2015 unter Strafe gestellt.
Zweieinhalb Jahre später offenbarte sich dieses Gesetz
als leere Geste. Von 7034 Festnahmen in England und
Wales waren nur 1157 Täter vor Gericht gestellt und
235 verurteilt worden. In den USA schaffte die Trump-
Regierung den Straftatbestand der Zwangskontrolle
2018 ab. In Deutschland war diese niemals strafbar.
Ich hätte die Bundesministerin für Familie und
Frauen Franziska Giffey (SPD) – oder irgendeinen
anderen verantwortlichen Politiker – gern gefragt: Wa-
rum sehen Sie dem tatenlos zu? Warum tun Politiker
auch hierzulande so, als sei häusliche Gewalt in erster
Linie ein privates Problem, eine Kabbelei zwischen zwei
Menschen, die es halt nicht gebacken kriegen? Als
könnten wir alle, wenn überhaupt, nur die Symptome
der Gewalt bekämpfen: Frauenhäuser bauen, Notrufe
einrichten, ein bisschen Tätertherapie betreiben. Warum
interessieren sich die Politiker nicht für die Ursachen?

Die Fallzahlen sind nahezu unverändert, seit 40
Jahren. Laut Bundeskriminalamt sind sie in den ver-
gangenen drei Jahren um zehn Prozent gewachsen.
An dem akuten Anstieg, so liest man, sei die Corona-
Krise schuld. Als sei es das Virus, das zuschlägt. Als
seien es nicht Männer. Keine Frage: Mehr Frauen-
hausplätze werden dringend gebraucht. Deutschland
hat sich verpflichtet, sie zur Verfügung zu stellen.
Laut Istanbuler Konvention, jenem Vertrag, mit dem
sich die Unterzeichnenden zum Kampf gegen Ge-
walt gegen Frauen verpflichten, muss die Bundesre-
gierung umgerechnet auf ihre Gesamtbürgerzahl
21.400 Plätze anbieten. Es gibt, auch zwei Jahre nach
Deutschlands später, sehr später Ratifizierung des
Vertrages, gerade mal 6800 Plätze.

D


ie Bundesfamilienministerin hat
jüngst 120 Millionen Euro für neue
Frauenhäuser und Beratungsstellen
versprochen. Bevor jemand das für
den Durchbruch hält: Den 120 Mil-
lionen gegenüber stehen 3,8 Mil liar den Euro, die
häusliche Gewalt und ihre Folgen Jahr für Jahr
unsere Gesellschaft kosten. Mit einem Mangel an
Geld lässt sich die offenkundige Trägheit nicht
begründen.
Die Weltgesundheitsorganisation hat die Ursache
für die Gewalt schon vor Jahren benannt: Gewalt gegen
Frauen sei Ausdruck der historisch ungleichen Macht-
verhältnisse zwischen den Geschlechtern, die zur Vor-
herrschaft von Männern und Diskriminierung von
Frauen durch Männer und zur Verhinderung des vollen
Fortschritts von Frauen geführt haben.
Häusliche Gewalt ist nur eine Form dieser Ge-
walt. Experten nennen sie ein staatliches Verbrechen.
Darüber hätte ich gern mit Frau Giffey gesprochen.
Oder mit sonst einem Verantwortlichen. Die ZEIT
hatte gleich ein paar von ihnen zum Gespräch ein-
geladen, zum Beispiel auch die Bundesjustizministe-
rin. Alle antworteten sinngemäß: Ist nicht unser Bier.
Fragen Sie anderswo. Auch Frau Giffey ließ ausrich-
ten, dass sie so einem Gespräch »leider nicht zusagen
kann«. Sie bat um Verständnis. Auch das noch.

Von Antje Joel erschien im Januar bei Rowohlt
das Buch »Prügel. Eine ganz normale Geschichte
häuslicher Gewalt« (336 S., 12,– €), in dem
die Autorin unter anderem über die Gewalt schreibt,
die sie selbst über Jahre in zwei Ehen erlebt hat

Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT; kl. Fotos: Marta Faye; Urban Zintel für DIE ZEIT (u.)
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