Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

A


m zehnten Tag des Besuchsver-
bots sackt Corinna Sauter er-
schöpft auf einem Stuhl zu-
sammen, sie streift ihren Mund-
schutz ab und wischt sich Trä-
nen aus den Augen. Sie sagt:
»Ich kann nicht mehr.«
Unten im Erdgeschoss ist vor wenigen Stunden
eine Bewohnerin gestorben. Eine schwere Bron-
chitis. Das war die Dia gno se, die der Hausarzt vor
einigen Wochen stellte. Jetzt ist sich Corinna Sau-
ter nicht mehr so sicher.
Es ist der Dienstagabend der vergangenen
Woche. Corinna Sauter sitzt im Dachgeschoss des
Altenheimes »Haus Raichberg« in Albstadt,


46.000 Einwohner, mitten auf der Schwäbischen
Alb, eine Autostunde südlich von Stuttgart. Es ist
ruhig, der große Raum ist leer, ganz anders als
sonst. Nur wir Reporter sind für einen kurzen Be-
such da, damit wir uns einen Eindruck von Co-
rinna Sauters Heim verschaffen können. Wir sind
in Schutzanzüge gehüllt.
Das Dachgeschoss dient eigentlich als Gemein-
schaftsraum, aber schon seit Tagen findet hier nichts
mehr statt. Nicht das gemeinsame Singen und nicht
die gemeinsame Stuhlgymnastik. Nicht der gemein-
same Kinoabend, den die Bewohner so lieben, keine
Sissi-Filme, keine Heimatfilme von Luis Trenker.
Corinna Sauter ist 46 Jahre alt und Altenpflegerin.
Sie leitet das Haus Raichberg. 84 Mitarbeiter, 78 Be-

wohner und zwei Hunde, Käthe und Max. Sie ist eine
große Frau, schlank, das Haar trägt sie kurz und rot
gefärbt, ihre Hände sind trocken und rissig vom vielen
Desinfizieren. Sie hat selten so viel gearbeitet wie in
den vergangenen Wochen. Draußen dämmert es.
Corinna Sauters Heim liegt in einer der Re-
gionen Deutschlands, in denen bisher die meisten
Corona-Infizierten gezählt wurden. Auf den Kar-
ten des Robert Koch-Instituts ist Sauters Land-
kreis, der Zollernalbkreis, ein dunkelroter Fleck.
Vor dem örtlichen Krankenhaus wurde neulich
ein riesiges Zelt aufgestellt, für die Behandlung der
Corona-Patienten. Der Bestatter von Albstadt hat
Corinna Sauter erzählt, die Klinik habe bei ihm an-
gerufen. Sie wollte wissen, ob er genügend Kapazitä-

ten vorhalte für all die Leichen, die womöglich bald
zu beerdigen sind. Und in den Nachrichten hat Sau-
ter von dem Pflegeheim in Würzburg gehört, in dem
zu dem Zeitpunkt, als wir mit ihr in dem verwaisten
Gemeinschaftsraum sitzen, 44 Bewohner und 32 Mit-
arbeiter positiv auf Corona getestet wurden. Eine
Woche später werden 16 der Bewohner gestorben sein.
Schon seit Langem kommt es Sauter so vor, als
ob das Virus ihrem Heim näher und näher rückt.
Nun fragt sie sich, ob es womöglich längst zuge-
schlagen hat. Ob die Frau, die gerade gestorben ist,
vielleicht doch keine Bronchitis hatte.
Sie sagt: »Was, wenn das die Seuche war?«
Normalerweise versteht es Corinna Sauter als
ihre Aufgabe, den Menschen, die ihr anvertraut

sind, die Bürden des Alters erträglich zu machen.
Wer schwach ist, dem kocht sie Hühnersuppe.
Wer Schmerzen hat, dem reibt sie den Rücken
mit Salbe oder Franzbranntwein ein. Seit ein
paar Wochen aber, seitdem das Coronavirus um
sich greift und die Alten und Kranken bedroht,
kann plötzlich fast alles, was Sauter tut, den
Heimbewohnern schaden – und sie im Zweifel
das Leben kosten.
Schirmt Sauter sie von der Außenwelt ab, sind sie
zwar vor dem Virus geschützt, aber der Einsamkeit
ausgesetzt, die alte Menschen krank machen kann.
Und bei denen, die dem Ende schon sehr nahe sind,

Fortsetzung auf S. 14

Bedroht


Einsam


Alt


Ein Seniorenheim auf der Schwäbischen Alb. Das Virus hat die Bewohner von der Welt abgeschnitten. Nähe geben ihnen nur noch die Pflegerinnen, während die Angehörigen


draußen kaum etwas tun können. Alle quält die Frage: Ist die Seuche vielleicht schon da? VON MORITZ AISSLINGER UND CATERINA LOBENSTEIN; FOTOS: EVELYN DRAGAN


Besuch verboten: Aushang am
Eingang des Altenheims

Die Bewohner dürfen das
Haus Raichberg nicht mehr verlassen –
zu ihrem eigenen Schutz

Corinna Sauter, die Heimleiterin,
trägt so viel Verantwortung
wie nie zuvor

Theresia Steinbinder, 94, hat vor Kurzem
zum ersten Mal per Video telefoniert


  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 DOSSIER


TITELTHEMA: WIE SCHÜTZEN WIR DIE SCHWACHEN?


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