Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

nicht, ob ihn das, was gerade geschehe, belaste. Was
sie weiß: Vergangene Woche ging es ihm ganz
schlecht. Er war zu schwach, um aus seinem Sessel
hochzukommen. Da habe sie ihn zum ersten Mal
überhaupt vom Tod reden hören. »Na ja, für jeden ist
halt mal Schluss«, habe er gesagt. Dabei sei es immer
sein erklärtes Ziel gewesen, hundert zu werden.
»Na gut«, sagt der Vater. »Ruf mal an, wenn’s wie-
der was Neues gibt.«
»Mach ich.« Um 8.59 Uhr legt Brigitte Rominger
auf. Sie sagt, sie verdränge den Gedanken, ihren Vater
vielleicht nie wiederzusehen.


Ein paar Stunden nach dem Telefonat zwischen Toch-
ter und Vater klopft Corinna Sauter an die Tür von
Hans-Joachim Falz. Sie hat ein Paket unter den Arm
geklemmt, in der Hand hält sie wieder ihr Handy, da-
mit wir dabei sein können. Hans-Joachim Falz sitzt in
seinem Fernsehsessel, mit Kissen und Decken gepols-
tert, die Füße hochgelegt. Der Fernseher läuft. Der
Ton ist bis zum Anschlag aufgedreht. Das schlechte
Gehör. Die SWR-Nachrichten schreien ins Zimmer:
Zahl der Corona-Toten in Italien auf neuen Rekord
gestiegen.
Europol geht gegen Handel mit gefälschten Atem-
schutzmasken vor.
Die europäische Wirtschaft wird in diesem Jahr auf-
grund des Coronavirus-Ausbruchs um acht Prozent oder
mehr schrumpfen.
»Ich hab Ihnen was mitgebracht, Herr Falz!«, ruft
Corinna Sauter durch den Lärm. Er nimmt das Päck-
chen, reißt es auf und wühlt sich durch mehrere La-
gen Luftpolsterfolie, bis ein Kopfhörer zum Vorschein
kommt. »Aha«, sagt er.
Die Nachbarn aus den Zimmern nebenan haben
sich über die Lautstärke des Fernsehers beschwert.
Deshalb haben ihm die Pflegerinnen die Kopfhörer
bestellt. Am liebsten, sagt Falz in Sauters Handy,
schaue er Tiersendungen. »Keine Krimis, kein Mord
und Totschlag.« Seit Wochen drehe sich ja alles nur
noch um Krankheit und Tod, Corona hier, Corona
dort. Egal, wohin er schalte, das Virus sei immer
schon da. In den Abendnachrichten hat er gehört,
dass es in Deutschland nicht genug Beatmungsgeräte
gibt. Dass bald Tausende alte Menschen ersticken
könnten. Menschen wie er.
Hans-Joachim Falz leidet seit Längerem unter star-
ken Schluckbeschwerden, eine Erkrankung der Speise-
röhre. Manchmal konnte er deswegen kaum essen. Sein
Kreislauf schwächelte, und Corinna Sauter musste ihn
mehrmals mit einem Notarzt ins Krankenhaus schi-
cken, wo er eine Infusion erhielt. Kam er nach Tagen
wieder zurück ins Heim, ging es ihm meist viel besser.
Seitdem sich auch das Krankenhaus von Albstadt
auf den Ansturm der Corona-Kranken vorbereitet,
müssen sich Sauter und ihre Kolleginnen ohne die
Hilfe der Krankenhausmedizin um Hans-Joachim
Falz kümmern, vor allem müssen sie aufpassen, dass
er trotz der Schluckbeschwerden genug zu sich
nimmt. Das Krankenhaus versorgt nur noch die drin-
gendsten Fälle. Die anderen versucht es schnellstmög-
lich loszuwerden.
Am nächsten Morgen biegt ein Rettungswagen in
die Einfahrt des Altenheimes ein. Zwei Sanitäterin-
nen mit Atemschutzmasken öffnen die Hecktür und
ziehen eine Trage aus dem Wagen. Auf der Trage liegt
eine dünne Frau, sie ist eingewickelt in eine dicke
Decke. Nur ihr schmaler Kopf schaut heraus.
Am Eingang nimmt Corinna Sauter die Frau in Emp-
fang. Sie war wegen eines Oberschenkelhalsbruches im
Krankenhaus. Normalerweise wäre sie noch länger ge-
blieben, damit der Knochen weiter heilen kann, doch
man musste die Betten leeren. Die Klinik rief Sauter an
und fragte, ob sie noch freie Zimmer habe.
Wenn ein Bewohner stirbt im Haus Raichberg, zün-
den die Pflegerinnen eine Kerze an und stellen sie ins
Zimmer des Toten. Die Angehörigen kommen, nehmen
die Bilder von der Wand und holen die Möbel und an-
dere Habseligkeiten ab. Der Hausmeister streicht die
Wände frisch und tauscht die Vorhänge aus. Die anderen
Bewohner setzen sich zusammen, um gemeinsam Ab-
schied zu nehmen, sie beten, trinken Kaffee, erzählen
sich Geschichten über den Verstorbenen. Erst dann zieht
ein neuer Bewohner ein. Eigentlich.
Nun aber muss alles ganz schnell gehen. Für Ab-
schiedsgespräche ist keine Zeit mehr.
Corinna Sauter muss dafür sorgen, dass die Frau
aus dem Krankenhaus für die nächsten 14 Tage unter
Einzelquarantäne gestellt wird. Es gab in der Klinik
von Albstadt zu diesem Zeitpunkt schon mehr als 60
Corona-Fälle, und Sauter weiß nicht, ob sich die Frau
dort mit dem Virus angesteckt hat.
Für die Pflegerinnen bedeutet Einzelquarantäne
Extraarbeit. Sie dürfen das Zimmer nur mit Schutz-
kleidung betreten. Alles, was sie aus dem Raum tra-
gen, müssen sie gründlich desinfizieren und in einem
Spezialbehälter aufbewahren, jede Kaffeetasse, jede
Sprudelflasche, jedes benutzte Handtuch. Normaler-
weise dauert die Grundpflege eines Bewohners, wa-
schen, Zähne putzen, Wäsche wechseln, rund 30 Mi-
nuten. Für die Frau in Einzelquarantäne werden sie
nun jedes Mal über zwei Stunden brauchen.
Kurz danach, so erzählt es Corinna Sauter später,
ruft wieder das Krankenhaus an. Man müsse morgen
drei weitere Patienten im Heim unterbringen.
Sauter hat in den vergangenen Wochen mitbe-
kommen, dass in vielen deutschen Städten die Leute
jeden Abend auf ihre Balkone heraustreten und klat-
schen für Menschen wie sie. Der Bundespräsident hat
ihr und ihren Kolleginnen seine »Hochachtung« ge-
zollt. Die Kanzlerin sprach ihnen in ihrer Rede an die
Nation »von ganzem Herzen« ihren Dank aus. Co-
rinna Sauter gilt jetzt als systemrelevant.
Doch Sauter hat vorher genauso mitbekommen,
wie ebenjenes System kaputtgespart wurde. Die Löh-
ne, die den meisten Pflegern in Deutschland gezahlt
werden, sind schlecht, die Arbeitsbedingungen oft
noch schlechter. Zehntausende Fachkräfte fehlen. Es
ist eine gewaltige und lebensbedrohliche Lücke, die
die Bundesregierung zuletzt mit Anwerbekampagnen
im Ausland zu füllen versuchte. Nun haben viele Pfle-
ger aus Polen und Rumänien aus Angst vor einer In-
fektion und der Sorge, ihre Familien nicht mehr zu
sehen, das Land verlassen. Das System droht zusam-
menzubrechen.


HINTER DER GESCHICHTE

Ausgangsfrage: Ein Altenheim in der
Corona-Krise – was bedeutet das konkret für
die Pflegekräfte, die Bewohner und deren
Angehörige?

Bedingungen der Recherche: Eigentlich ist
das Betreten der meisten Altenheime derzeit
strikt verboten. Das örtliche Gesundheitsamt
und der private Heimbetreiber fanden eine
Bericht erstattung aber so wichtig, dass sie der
ZEIT erlaubten, das Haus Raichberg für ein
paar Stunden zu besuchen. Den beiden
Autoren wurde vor Betreten des Heimes
Fieber gemessen. Dann durften sie sich, in
Schutzkleidung gehüllt und unter strenger
Einhaltung des Sicherheitsabstandes, einen
kurzen Eindruck vom Heim machen. In den
darauffolgenden Tagen ließ die Heimleiterin
Corinna Sauter sie über Videoanrufe an ihrer
Arbeit teilhaben. Das Geschehen vor dem
Heim, etwa die Einlieferung der Patientin mit
der Oberschenkelfraktur, haben sie von
draußen verfolgt. Die Reporter haben alle
Angehörigen persönlich besucht.

Drinnen


Draußen


Der Hausmeister spielt jetzt
besonders oft für die Bewohner
auf dem Akkordeon

Bernadette Sauter, die Tochter von
Theresia Steinbinder, die auf der ersten
Seite zu sehen ist

Der Verband für häusliche Betreuung und
Pflege hat gerade verkündet, man schätze, dass etwa
200.000 alte und kranke Menschen, die bisher zu
Hause versorgt wurden, um Ostern herum keine
Pflegekraft mehr haben werden.
Damit der Betrieb in den Heimen nicht kol-
labiert, hat Gesundheitsminister Jens Spahn von
der CDU bestimmt, die ohnehin niedrigen Be-
treuungsschlüssel weiter herunterzusetzen. Noch
weniger Pfleger sollen sich nun also um noch
mehr alte und kranke Menschen kümmern.
Und es könnten weitere hinzukommen. Der
Präsident der Bundesärztekammer hat gerade in
einem Zeitungsinterview gefordert, Senioren
abzuschotten und sie statt in ihren Wohnungen
in Altenheimen unterzubringen. Niedersachsen
wiederum hat für Pflegeheime einen weitgehen-
den Aufnahmestopp verhängt.
Am Abend, kurz bevor Corinna Sauter nach
Hause fährt, läuft ihr eine Pflegerin über den
Weg. »Geh mal nach Hause«, sagt Sauter zu ihr.
»Kümmer dich um deine Kids.« Die Frau hat
zwei kleine Kinder. Ihr Mann ist Lkw-Fahrer,
auch er macht angesichts der Krise unzählige
Überstunden. Obwohl beide als systemrelevant
gelten, haben sie die vom Staat versprochene
Hilfe bei der Kinderbetreuung bislang nicht be-
kommen. Die Großeltern, Risikopatienten auch
sie, müssen nun tagsüber die Enkel versorgen.
So oder so ähnlich, sagt Sauter, sei es bei fast
all ihren Mitarbeitern. Bislang hätten sie es im-
mer geschafft, sich gegenseitig zu helfen und für-
ein an der einzuspringen. Jetzt fragt sie sich, wie
lange ihre Kollegen noch durchhalten.

Bernadette Sauter und Theresia Steinbinder,
Distanz: 208 Kilometer

Anfangs sei sie sich vorgekommen wie eine Ver-
räterin, sagt Bernadette Sauter, die mit Corinna
Sauter nicht verwandt ist. Die eigene Mutter ins
Heim stecken. Sie versuchte, es so lange wie mög-
lich hinauszuzögern. Sie stellte eine private Pflege-
rin nach der anderen ein. Aber irgendwann ging es
nicht mehr. Die Mutter ist 94, und Demenz ist
unaufhaltsam.
Vor vier Wochen brachte Bernadette Sauter
ihre Mutter ins Haus Raichberg. Es fiel ihr
wahnsinnig schwer. Mittlerweile ist sie froh über
die Entscheidung. »Das Heim, die Mitarbeiter,
das ist alles ganz fantastisch«, sagt sie.
Am Samstag, dem 14. März, wollte sie ihre
Mutter besuchen. Sie wollte bei ihr sein, damit sich
die Mutter leichter an die neue Umgebung ge-
wöhnt. Bernadette Sauter wohnt in Hofheim,
Hessen, nach Albstadt dauert es mit dem Auto drei
Stunden. Als sie mittags dort angekommen war,
im Ort ihrer Kindheit, steuerte sie ihren Wagen
direkt zum Heim. Sie hatte Blumen dabei.
Am Eingang erfuhr sie, den Strauß in der Hand,
vom gerade ausgesprochenen Besuchsverbot.
Zwölf Tage später, abends um kurz nach
sechs, hält sich Bernadette Sauter in ihrer Praxis
für Naturheilkunde ein Handy vors Gesicht. Es
klingelt lange. Dann erscheint auf dem Bild-
schirm das Bild einer Frau mit weißen Haaren

und dunklen Augenbrauen. Es ist das erste Mal
seit Wochen, dass Mutter und Tochter sich se-
hen. Die meisten Menschen erkennt die Mutter
nicht mehr, ihre Tochter schon, auch jetzt, bei
dem ersten Videoanruf ihres Lebens.
Am Bildschirmrand sieht Bernadette Sauter
nun auch Corinna Sauter, die in die Kamera ih-
res Smart phones winkt. Sie hat ihr Mobiltelefon
zur Verfügung gestellt, damit die beiden sich se-
hen können. Bald sollen generell Skype- An ru fe
im Heim möglich sein, aber dafür muss noch
einiges organisiert werden – bisher gibt es nicht
einmal WLAN. »So, Frau Steinbinder, jetzt kön-
nen Sie mit Ihrer Tochter reden«, sagt Corinna
Sauter. Die Heimleiterin tritt beiseite, hält nur
noch das Handy und lässt Mutter und Tochter
mit ein an der sprechen.
»Hallo, Bernadette.«
»Hallo, Mama. Bist du gut versorgt?«
»Ja, alles gut.«
Die Stimmen stocken. Mutter und Tochter
fangen fast zeitgleich an zu weinen.
»Bernadette, es ist so schwer!«, ruft die Mutter.
»Ja, Mama, ich weiß«, sagt die Tochter und
schnieft.
»Ich fühle mich so allein, Bernadette.«
Die Tochter bekommt kaum mehr ein Wort
raus, starrt mit nassen Augen auf den kleinen
Bildschirm. Sie sagt mit zitternder Stimme:
»Alles wird gut, Mama.«

Am Donnerstagmorgen kann man von draußen
beobachten, wie drei vermummte Gestalten vor
der Eingangstür von Haus Raichberg stehen.
Ein Mann und zwei Frauen. Sie tragen Mund-
schutz und Gummihandschuhe, die Handschuhe
haben sie mit grauem Klebeband an ihren wei-
ßen Schutzanzügen befestigt. Ihre Haare stecken
unter grünen Plastikhauben. Sie kommen vom
Roten Kreuz und schieben auf einem Rollwagen
einen großen Karton ins Heim. In dem Karton
sind die Corona-Testkits.
Corinna Sauter begrüßt die drei Sanitäter
und verschwindet mit ihnen in Richtung des
oberen Stockwerks, wo die Mitarbeiter getestet
werden sollen. Als die Bewohner dran sind,
schaltet sie uns über ihr Handy dazu. Sie geht
mit den Sanitätern auf die Station, die unter
Quarantäne steht. Manche der Bewohner sind
erleichtert. Einige haben Angst vor den ver-
mummten Fremden.
Corinna Sauter steht neben einer Bewohne-
rin, die den Kopf störrisch zur Seite dreht. »Den
Mund auf, ja?«, sagt Sauter. »Nein!«, schreit die
alte Dame. Sie ist dement.
Sauter streichelt der Frau über die Hand.
»Was man jetzt alles aushalten muss«, sagt sie
mit ruhiger Stimme zu ihr.
Einer der Sanitäter beugt sich in seinem
weißen Schutzanzug über die Dame und ver-
sucht, ihr ein Wattestäbchen in den Mund zu
schieben. Die Frau schreit. Sie verschluckt
sich, sie hustet.
Sauter nickt einer Pflegerin zu, die dabeisteht
und sich nun der Dame von hinten nähert und
ihr mit festem Griff das Kinn nach unten zieht.

Der Sanitäter schiebt schnell ein Wattestäbchen
in den Mund der Frau und lässt es in einer
durchsichtigen Röhre verschwinden.
»Alles gut«, sagt Corinna Sauter zu der Be-
wohnerin. Kurz zuvor hat sie die Angehörigen
abtelefoniert und sich von jedem Einzelnen die
Erlaubnis eingeholt, den Test auch gegen Wi-
derstand durchzuführen. Alle Angehörigen ha-
ben ihr Okay gegeben.
Während in Albstadt die Bewohner von
Haus Raichberg auf das Coronavirus getestet
werden, entbrennt gut 700 Kilometer entfernt,
im Regierungsviertel von Berlin, eine Debatte
über die Frage, was in den kommenden Mona-
ten mit den alten Menschen im Land geschehen
soll. Dass man sie schützen müsse, darin sind
sich alle einig. Einige Politiker aber werfen ein,
dass die ökonomischen Kosten des Shutdowns
die gesundheitlichen Schäden der Seuche weit
übersteigen könnten.
Der FDP-Chef Christian Lindner fordert,
eine »Exit-Strategie« zu entwickeln, um mög-
lichst schnell zum normalen Alltag zurückkeh-
ren zu können.
Der Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann
schlägt vor, die Wirtschaft »spätestens nach Os-
tern« schrittweise wieder hochzufahren.
Und der Kanzleramtsminister Helge Braun
von der CDU sagt dem Spiegel: »Irgendwann
kommt dann der Zeitpunkt, an dem man zur
sogenannten Umkehrisolation übergeht. Die
jüngere, gesunde Bevölkerung kann dann wie-
der zu einem tendenziell normalen Leben
übergehen. Aber die älteren und vorerkrank-
ten Patienten werden auch dann weiter mit
Einschränkungen leben müssen.«
Fragt man Corinna Sauter, wie sie diesen
Vorschlag findet, sagt sie nur ein Wort:
»Schrecklich.« Dann stellt sie Fragen: Ab
wann ist man alt? Wie lange soll das gehen?
Und ist es mit der Würde der Alten und Kran-
ken vereinbar, diese Gruppe als einzige einfach
wegzuschließen? »Dieser Vorschlag entspricht
total dem Klischee, das wir von alten Men-
schen haben: Die sitzen im Pflegeheim und
sabbern vor sich hin.« Natürlich sei es wichtig,
dass die Wirtschaft irgendwann wieder in die
Gänge komme, sagt sie. »Aber die Leute, die
wir jetzt wegsperren wollen, die haben diese
Wirtschaft aufgebaut.«
Viele Heime, erzählt sie, hätten schon vor Wo-
chen begonnen, die Bewohner vorsorglich in ihren
Zimmern zu isolieren. »Einzelhaft« nennt Corinna
Sauter das. »Jemanden in sein Zimmer zu sperren,
das ist eine freiheitsentziehende Maßnahme.« So
etwas sei nur vertretbar, wenn jemand wirklich
infiziert sei oder wenn man einen begründeten Ver-
dacht habe, dass er es sein könnte.

Herbert Weiss und Margarete Lindner,
Distanz: Zwei Meter

Draußen: Sein Auto hat er so geparkt, dass er direkt
auf Margaretes Fenster blicken kann. Ihr Fenster
ist gekippt, erster Stock, das dritte von links. Her-
bert Weiss sitzt hinter dem Lenkrad seines silber-

nen Kleinwagens, den Motor hat er ausgeschaltet. Im
Fach in der Beifahrertür reihen sich CDs, Herzblatt,
Hitparade, Die Herzen der Volksmusik. Er ist ein kleiner
Mann, eingepackt in einen dicken Strickpullover, auf
dem Kopf trägt er eine Schildmütze. Herbert Weiss ist
88 Jahre alt und Optimist. Er steigt aus seinem Auto und
stellt sich unter Margaretes Fenster. »Margareti!«, ruft er
nach oben. »Margareti!«
Er sieht, wie sich hinter dem Vorhang etwas tut,
sieht ihre weißen Haare, ihre Hände, ihr Zittern. Par-
kinson. Margarete Lindner ist 85 Jahre alt und meist
nicht ganz so zuversichtlich wie ihr Freund.
»Kommst runter?«, fragt er.
Drinnen: Es klopft im Zimmer von Margarete
Lindner. Die Tür geht auf, und Corinna Sauter tritt
ein. Sie hat die Kamera ihres Mobiltelefons einge-
schaltet. »Hallo, Frau Lindner«, sagt sie. »Kommen
Sie, ich bringe Sie runter zu Ihrem Freund.«
Margarete Lindner hat sich schick gemacht. Sie
hat sich ihre geblümte Bluse angezogen, rote Rosen
auf schwarzem Stoff, ihr kurzes weißes Haar ist sorg-
sam frisiert.
Sie lernten sich im Reisebüro kennen, Frühjahr
1998, beide verwitwet. Sie wollte in die Dominikani-
sche Republik, er nach Caorle, Italien. Es sei Sym-
pathie auf den ersten Blick gewesen, sagt er. Deshalb
sprach er sie in tiefstem Schwäbisch an: »Wo gange
Sie nach?« Sie antwortete. Er staunte: »Mensch, das
ist aber weit weg von daheim.« Und er fragte nach
ihrer Nummer.
Draußen: Herbert Weiss wartet. Er steht jetzt
vor dem Eingang und schaut durch die gläserne
Tür. Er wohnt zwei Kilometer entfernt, in einem
Häuschen am Waldrand, er hat es selbst gebaut,
1970, da war er noch im Außendienst tätig, als Ver-
treter für »Meica macht das Würstchen«. In dem
Haus hat er sie gepflegt, bis es nicht mehr ging.
Für sie, glaubt er, sei die derzeitige Situation viel
schwieriger als für ihn. Sie habe Angst vor Corona, er
nicht. »Ich habe zu ihr gesagt: Ich habe mein Leben
gelebt.« Margarete habe geantwortet: »Ich würde
eigentlich schon noch gerne ein bisschen da sein.«
Drinnen: Margarete Lindner stützt sich auf ih-
ren Rollator. Corinna Sauter führt sie zum Aufzug.
Gemeinsam fahren sie hinunter ins Erdgeschoss.
Bevor sie das Virus getrennt habe, sagt Margarete
Lindner, habe ihr Lebensgefährte sie jeden Morgen
abgeholt und sie zu einem Spaziergang ausgeführt.
»Das fehlt mir.«
Die Tür des Fahrstuhls öffnet sich. Unsicher setzt
Margarete Lindner einen Fuß vor den anderen. Vor
der Eingangstür bleibt sie stehen und sinkt auf die
Sitzfläche ihres Rollators. Hinter der Scheibe, im Ge-
genlicht, sieht sie ihn. Er sagt etwas, aber seine Stim-
me dringt nicht durch.
Draußen: »Ach, Margareti!«, ruft Herbert Weiss
nach drinnen. »Komm doch her!«
Sie darf nicht. Sie sitzt auf ihrem Rollator und
schaut zu ihm. Er tätschelt mit der Hand gegen die
Scheibe, tritt unsicher zurück und wieder vor. »Das ist
doch blöd, so ohne Anfassen«, sagt er.
Sie ist nur zwei Meter von ihm entfernt, und doch
ist sie viel zu weit weg.
Drinnen: Corinna Sauter hilft Margarete Lindner
wieder auf die Beine. »Gehen wir zurück aufs Zim-
mer, ja?« Sie winken Herbert Weiss zu und sehen, wie
er zurückwinkt. Ganz langsam entfernen sie sich wie-
der vom Eingang.
Draußen: Als sie im Fahrstuhl verschwunden
sind, sagt Herbert Weiss, er habe keine Angst, seine
Margarete nie mehr berühren zu können. Er sei ja,
wie gesagt, Optimist. Und sollte das Virus seine
Margarete doch treffen, würde er dafür sorgen, dass
er sich auch anstecke. »Denn dann legen sie uns in
ein Doppelgrab. Und dann sind wir wenigstens wie-
der zusammen.«

Am Dienstag, kurz vor Redaktionsschluss, ruft uns
Corinna Sauter noch einmal an. Sie steht in ihrem
Büro und schaut in die Kamera, sie hat die Atem-
maske unters Kinn geschoben. Sie sagt, die letzten
Tage seien die Hölle gewesen. Sie hat erfahren, dass
die Bewohnerin, die in der vergangenen Woche ge-
storben war, keine Bronchitis hatte. Die Frau hatte
sich mit dem Coronavirus infiziert.
Danach war im Haus Raichberg nichts wie zu-
vor. Corinna Sauter musste nicht mehr nur die
Heimbewohner beruhigen, sondern auch ihre Mit-
arbeiter. Viele von ihnen haben Angst vor dem
Virus. Heute aber sei ein guter Tag, sagt sie. »Heute
ist niemand gestorben.« Und noch etwas: Von den
147 Tests, die bei den Bewohnern und Mitarbeitern
vorgenommen wurden, seien bisher 135 ausgewer-
tet. Corinna Sauter kann es kaum glauben: Alle 135
sind negativ.


  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15 DOSSIER 15

Free download pdf