Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

  1. APRIL 2020 DIE ZEIT No 15


WIRTSCHAFT 19


Passanten in Seoul in der vergangenen Woche – die Bevölkerung Südkoreas ging schon vor den offiziellen Warnungen auf Abstand

AFP/Getty Images

Wo ist hier


der Ausgang?


Wenn die Nationen ihre Macht und ihr Geld geschickt einsetzen, halten sie den Corona-Schrecken in Grenzen VON UWE JEAN HEUSER UND FELIX LILL


R


aus aus dem Lockdown!
Die Wirtschaft nicht op-
fern! Gefährdete isolieren!
Wieder arbeiten gehen,
wenn man nicht zu den
Gefährdeten gehört!! An
Wortmeldungen zum »Exit«
aus dem wegen der Coro-
na-Krise verordneten Still-
stand ist kein Mangel. Das Problem: All diese
Forderungen spielen an auf einen angeblichen
Gegensatz zwischen Menschenleben und Wohl-
stand. Dieser Konflikt kann aber eine Gesellschaft
sprengen und so am Ende auch der Wirtschaft die
Grundlage entziehen.
Die wahrhaft ökonomische Frage ist daher
eine andere. Es ist die nach mehr Effizienz im
Umgang mit Corona. Sie lautet: Wie lässt sich
dieser angebliche Gegensatz zwischen Menschen-
leben und Wohlstand lindern, wenn nicht gar
heilen?
Nimmt man die Frage ernst, muss man nach
»Best Prac tice« suchen, wie Wirtschaftsleute sagen,
und herausfinden: Wer beschützt die Menschen und
sichert zugleich den Wohlstand am ehesten?
Die erste Antwort findet sich in einem fernöst-
lichen Industrieland mit fast so vielen Einwohnern
wie Italien. Es ist Südkorea.
In dieses Land können derzeit weder Touris-
ten noch Reporter einreisen, ohne sich in Qua-
rantäne zu begeben. Aber man kann Unterneh-
mer wie Shin Sung Hee anrufen. Um 25 Prozent
seien seine Erlöse im vergangenen Monat einge-
brochen, berichtet der Gastronom. »Mein Café
liegt genau neben der Stadtbibliothek von Seoul.
Seit die zur Verhinderung von Menschenan-
sammlungen geschlossen wurde, kommen zu mir
deutlich weniger Kunden.« Und schon bevor
Südkoreas Regierung den Bewohnern des Landes
riet, sich voneinander fernzuhalten, blieben sie
auf Distanz: »Seit Anfang März setzt sich kaum
einer mehr hin, alle kaufen ihren Kaffee zum
Mitnehmen. Für mein Geschäft ist das eher
schlecht«, sagt Shin.
Gemessen an den Gastronomen des Westens,
klagt Shin Sung Hee auf hohem Niveau. Weil es
keine Ausgangssperre gibt, dürfen die Gäste kom-
men. Und sie tun es. Shin erzielt noch drei Viertel
seiner üblichen Einnahmen.
Auch insgesamt ist Südkoreas Wirtschaft bisher
glimpflich davongekommen. Zwar bieten Schulen
derzeit nur Online-Unterricht an, und Bürojobs
werden möglichst aus dem Homeoffice erledigt.
Aber die allermeisten Geschäfte sind offen. Ebenso
laufen die Bänder der Fabriken weiter, Halbleiter,
Handys und Autos werden produziert. Das Volu-


men der Exporte fiel in den ersten 20 Märztagen
nicht etwa, es stieg gegenüber dem Vorjahr um rund
zehn Prozent an.
Südkorea hat dafür niemanden zusätzlich dem
Corona-Tod überantwortet – genauso wenig wie
die Taiwaner oder Singapurer. Sie haben früh auf
intelligente Abwehr geschaltet, auch weil sie aus
Erfahrungen mit tödlichen Viren klüger geworden
sind. Das Ergebnis: Vergangenen Sonntag, dem 29.
März, meldeten die koreanischen Behörden nur
noch 105 neue Fälle – und das in dem Land, das
Anfang März nach China die am zweitstärksten
betroffene Na tion weltweit war.
Das Krisenmanagement ist wirksam. Die Be-
völkerung macht mit. Wenn die Regierung bit-
tet, Ansammlungen zu meiden, bleiben Men-
schenmassen aus. Statt Hamsterkäufen gibt es
private Spendenaktionen, um Atemmasken für
Bedürftige zu finanzieren.

Kontrollieren, isolieren, Big Data nutzen:
So antworten Länder mit Erfahrung

Das liegt auch an einem Vorbeben. Als im Jahr 2015
ein früheres Coronavirus namens Mers grassierte,
starben in Südkorea von nur 186 Infizierten 38 Per-
sonen an der Atemwegserkrankung. Angesichts des
tödlichen Virus waren knapp 17.000 Menschen für
zwei Wochen in Quarantäne versetzt worden. Beim
zweiten Mal sind solch gravierende Maßnahmen
fast schon Routine, und das System der Infektions-
bekämpfung steht bereit. Öffentliche Plätze werden
desinfiziert, jede Person mit Symptomen sowie
deren enge Kontaktpersonen werden getestet, an
Grenzen und Kontrollpunkten wird Fieber gemes-
sen. Hinzu kommt, dass die Menschen darüber
informiert sind, wo sich das Virus gerade aufhält.
Tracking-Apps zur Lokalisierung der Kranken,
Überwachungskameras und Kreditkartentransaktio-
nen speisen anonymisierte Daten in ein System ein,
durch das die Nutzer lernen, ob sich in ihrer Nähe
eine mit Covid-19 infizierte Person befindet.
Niemand muss die Apps nutzen, doch nur damit
könne man sich über Gefahren in der Nachbarschaft
informieren und auch andere schützen, sagt die
Regierung. Also nutzen die meisten diese Smart-
phone-Programme, sogar rund die Hälfte der Men-
schen in Quarantäne.
Den Cafébetreiber Shin Sung Hee besorgt diese
Datensammlung so wenig wie die meisten seiner
Landsleute. »Ich kriege eher Angst, wenn jemand
mit dem Virus meinen Laden betritt«, sagt er. Dann
nämlich droht ihm vorerst tatsächlich die Schlie-
ßung. Die Angst vor Datenmissbrauch ist zudem
gering, weil es kein Kainsmal fürs Leben ist, wenn
doch bekannt wird, dass man infiziert ist. Nach zwei

Wochen ist die Aussätzigkeit vorbei. Das trägt dazu
bei, dass die Bürger – trotz überwundener Militär-
diktatur und einer gewissen Renitenz gegenüber
dem Staat – ihre Gesundheit und das Wohlergehen
der Wirtschaft hoch gewichten.
Der Stolz auf den wirtschaftlichen Erfolg in
einem Land, das in den 1950er-Jahren noch zu den
ärmsten der Welt gehörte, ist riesig. Die meisten
Bürgerinnen und Bürger kennen die aktuellen
Wachstumsraten. Rajiv Biswas, leitender Ökonom
beim Analystenbüro IHS Markit, berichtet sogar
von einer Art Korpsgeist der Verbraucher angesichts
der Herausforderung durch das Virus: »Die Men-
schen bemühen sich, noch relativ viel zu konsumie-
ren, ob im Einzelhandel, in Restaurants oder in
anderen Geschäften.« Weil das nicht reichen wird,
wenn die westlichen Kunden der Handelsnation
länger ausbleiben, will die Regierung künftig Ge-
schenkgutscheine an Bürger verteilen und weitere
Konjunkturmilliarden mobilisieren.
Ja, Südkorea ist eine Halbinsel, das erleichtert
die Abschottung. Der größte Corona-Ausbruch
fand lokal begrenzt bei einer Sekte statt, deren Mit-
glieder gut zu identifizieren waren.
Doch das Land steht auch für den Erfolg meh-
rerer asiatischer Nationen, die gelernt haben, beides
zu schützen: Gesundheit und Wirtschaft. Ihre Ant-
wort: kontrollieren, isolieren und Big Data nutzen,
wo es geht! Je früher ein Land damit anfängt, desto
weniger tief stürzt es anscheinend in eine Krise.
Kann das Virus nicht zurückkehren? Natürlich!
Samt neuen Beschränkungen für Bürger und Wirt-
schaft. Auch dann gilt: Wer das früh erkennt und
entschlossen alle Messmöglichkeiten einsetzt, der
schont die Volksgesundheit und die Konjunktur
gleichermaßen. Der Lockdown ist dann eher ein
Ausdruck des nationalen Scheiterns als der Tatkraft.
Digitalisierung spielt dabei eine wichtige Rolle.
Wenn die Internetverbindung überall steht, wenn
der Umgang mit großen Datenmengen in der Ge-
sellschaft geübt ist, dann hält man das Virus eher
in Schach – auch in Deutschland. Außerdem ist
die Digitalisierung ein strategisches Rezept. Die
Corona- Krise ist wie alle großen Krisen eine Raserei
im Stillstand, Veränderungen kommen im Zeitraf-
fer. Ob Arbeit und Schule übers Netz, Banking
online, vernetzte Roboter in heimischen Fabriken
oder eben der Umgang mit Big Data – vieles davon
kommt nun schneller und geht nie wieder ganz weg.
Der deutsche Wirtschaftsminister hat das ver-
standen und will die heimische Wirtschaft jenseits
von Konjunkturprogrammen »revitalisieren«. Dafür,
so Peter Altmaier in der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung, müsse Europa bei der Digitalisie-
rung aufholen und bei Pharma und Biotech vorn
dabei sein. Demnach gilt es nicht nur, Bestehendes

zu retten, sondern auch, jetzt die Verwaltung zu
digitalisieren, Planungen und Genehmigungen zu
beschleunigen, Leitungen und Netze zu verbessern.
Krisenjahre sind eben Hundejahre; aus einem wer-
den sieben.
Auf diese Weise kann man die Krise vielleicht
managen und sich für die Zeit danach stärken.
Gelöst ist sie damit nicht. Die Suche nach einem
echten »Exit« orchestriert ein Mann, der fest über-
zeugt ist, dass dieser nur in der Wissenschaft gefun-
den wird. Der Brite Jeremy Farrar, gelernter Medi-
ziner und Virenforscher, leitet eine in Corona-Zei-
ten extrem wichtige Organisation: den Wellcome
Trust in London. Gegründet vor mehr als 80 Jahren
vom Pharmamagnaten Henry Wellcome und mit
rund 30 Milliarden Euro Kapital eine der reichsten
Stiftungen überhaupt, finanziert sie Durchbrüche
in der weltweiten Gesundheitsforschung. Zusam-
men mit der bekannteren Gates-Stiftung versuchen
Farrar und seine Leute die Forschung gegen Corona
zu beschleunigen und zu globalisieren, damit alle
Nationen an möglichen Erfolgen teilhaben können.

Billionen für die Wirtschaft und Millionen
für Forschung? Das passt nicht zusammen

Farrars Analyse geht so: Bisher haben die Staaten
Corona ein ums andere Mal unterschätzt. »Jedes
Land«, sagt er beim Telefongespräch mit der ZEIT
am Dienstag, »ist übermäßig optimistisch gewesen.«
Die Mächtigen hätten geglaubt, so schlimm wie in
China könne es nicht werden – bis es schlimmer
wurde. Jetzt gingen viele einfach davon aus, dass die
Infizierten nach überstandener Krankheit lange und
vollständig immun gegen das Virus seien, obwohl
das bei der normalen Erkältung nicht so sei und es
bei Corona keine Garantie dafür gebe. Ganz abge-
sehen davon, dass unklar sei, ob weniger betroffene
Regionen die Ausbreitung nur verzögert oder tat-
sächlich verhindert hätten, wie der Experte warnt.
Außerdem könne das Virus nach einer überstande-
nen ersten Welle zurückkehren. Solange sich nur
ein kleiner Teil der Menschheit infiziert und Anti-
körper gebildet habe, »ist eine zweite Welle sogar
unvermeidlich«, so Farrar. Die Welt brauche »Dia-
gno se, Medikamente, Impfstoffe«.
Bei den Schnelltests macht sie Fortschritte. Aber
zugleich müssten vorbeugende Medikamente und
Impfstoffe gefunden werden, es »muss alles parallel
geschehen«, erklärt Farrar – und das in einer Art
Menschheitsprojekt, das er mitorganisiert. Seine
Logik: Kein Land bleibt verschont, und keiner weiß,
wo wirksame Mittel entstehen. Es sei im aufgeklär-
ten Eigeninteresse aller Nationen, bei einer globalen
Forschungsallianz mitzumachen. »Nationalismus
wäre hier ein Desaster. Corona wird von der Welt

eine Entscheidung verlangen, ob sie global oder na-
tionalistisch sein will«, sagt Farrar bedrohlich.
Der Brite weiß, die Pandemie kommt zur Unzeit,
in der sich große Teile der Erde polarisiert und na-
tionalisiert haben. Dem stemmt er sich entgegen,
sucht Hilfe bei den Staatenzusammenschlüssen G7
und G20, bei Weltbank und Internationalem Wäh-
rungsfonds – und erlebt doch, wie die Zeit verrinnt.
Beim Wellcome Trust hofft man auf die EU samt
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen,
einer gelernten Ärztin. Sie soll zusammen mit Deut-
schen, Briten und anderen auf eine internationale
Geberkonferenz hinwirken. Acht Milliarden Dollar
sind das erste Ziel, um die Entwicklung und die Tests
der möglichen Anti-Corona-Mittel zu unterstützen.
Zwar wirkt es so, als sei die Welt schnell. So
knackten Chinesen den Gencode des Virus schon
im Januar, und gut zwei Monate später bekam die
erste Testperson in Seattle einen Impfstoff. Doch
alles in allem sei die Welt zu langsam, sagt Farrar.
Corona verbreite sich in Stunden und Tagen, wäh-
rend die Nationen sich mit Antworten wochenlang
Zeit ließen. »Wir müssen schneller sein als das Virus,
nicht langsamer«, so der Antreiber der Welt.
Am Ende steht für Farrar eine banale Investiti-
onsrechnung: 15 Impfstoffentwicklungen rund um
den Planeten werden schon heute von einer Anti-
Epidemie-Koalition gefördert. Viele weitere sind in
Arbeit. Dazu kommen die Medikamente. Doch die
Staaten gäben bisher keine Milliarden, sondern nur
Millionen. Das sei »frustrierend«, sagt der Brite. Es
fällt schwer, ihm zu widersprechen. Billionen für
die Rettung der Wirtschaft, aber nur Millionen für
die Exit-Option Medizin – es passt nicht zusammen.
Wer auf der Suche nach dem Ausweg Kosten
und Nutzen vergleicht, der müsste auf die globale
Forschung setzen. Jeremy Farrar hat die Hoffnung,
dass dabei schnell etwas herauskommt. Nicht so
sehr bei den schon vorhandenen Medikamenten,
die eigentlich gegen andere Krankheiten gerichtet
sind und nun auf ihre Wirksamkeit gegen Corona
getestet werden. Wohl aber bei der Entwicklung
von Antikörpern für Medikamente, die Covid-19
per Hightech lindern sollen. Und schließlich auch
bei Impfstoffen, von denen einer oder mehrere sich
als wirksam erweisen und ab Sommer in größerem
Umfang getestet werden könnten.
Zeit für Mensch und Wirtschaft können die
Nationen auf zwei Arten gewinnen: Sie können
radikal testen und digitalisieren wie die Südkorea-
ner – und die medizinische Entwicklung mit aller
Macht vorantreiben wie der Wellcome Trust. Eine
Erfolgsgarantie gibt es nicht. Aber wer beides tut,
schafft echte Hoffnung.

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