Die Zeit - 02.04.2020

(Brent) #1

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u Beginn dieses Jahres habe ich
meine Zuhörerinnen und Zuhö-
rer in Reden und Vorträgen zu
einem Gedankenexperiment auf-
gefordert: Wie würden wir in zehn
Jahren auf das Jahr 2020 schauen?
Ich selbst war überzeugt, dass wir
in einer Zeitenwende leben und erst in einigen
Jahren richtig verstanden haben würden, wie tief
greifend dieser Wandel in Wirklichkeit ist.
Nun legt ein Virus fast die ganze Welt still. Und
plötzlich ändert sich alles noch einmal grundlegend,
viel weitreichender, als wir alle es für möglich gehalten
hätten. Das Miteinander von Staat und Gesellschaft
steht vor einer harten Bewährungsprobe.

Wie wird unser Leben mit Corona aussehen?
Haben wir eine Vorstellung, vielleicht einen his-
torischen Vergleich, wie unser Leben mit der Pan-
demie aussieht? Selbst die Spanische Grippe, die
vor 100 Jahren weltweit mindestens 30 Millionen
Menschenleben gekostet hat, war nicht verbunden
mit einem so umfassenden Shutdown der Unter-
nehmen, nicht mit einem solchen Stillstand fast
des gesamten öffentlichen Lebens. Es gab nicht
diese enge Verflechtung der Weltwirtschaft, nicht
so viele Informationen in Echtzeit und vor allem
nicht diese Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen
auf die politische Willensbildung, im Guten wie
im Schlechten.
Die gute Nachricht lautet: Nicht nur in Deutsch-
land, sondern weltweit hat die große Mehrheit die
von den Regierungen ergriffenen Maßnahmen als
notwendig und richtig anerkannt. Die schlechte
Nachricht ist: Das wird nicht so bleiben. Schon
werden die ersten Stimmen laut, das müsse jetzt alles
schnell ein Ende haben. Trotzdem müssen die
Regierungen an dem eingeschlagenen Weg festhalten,
jedenfalls so lange, bis die Zahl der Neuinfektionen
dauerhaft unter dem Niveau bleibt, das unser
Gesundheitssystem verkraften kann.
»Verkraften« ist dabei ein beschönigendes Wort.
Wir werden an die Grenzen kommen und vielleicht
auch darüber hinaus. Und dennoch werden die For-
derungen immer lauter werden, die Betriebe müssten
wieder »normal« arbeiten können. Die Abwägung
und die Entscheidung bleiben bei den politischen
Instanzen, nicht bei den Virologen, nicht bei den
Ökonomen und nicht beim Deutschen Ethikrat, so

wichtig deren Hilfen sind. Selten war das Wort von
Max Weber so richtig: Wer in der politischen Ver-
antwortung steht, macht sich schuldig, so oder so.

Wie könnte das Leben nach Corona aussehen?
Die realistische Erwartung an die Politik heute kann
nur sein, ein Szenario zu beschreiben, wie wir mög-
lichst rasch zur Normalität zurückkehren könnten,
in einzelnen Schritten, abhängig von der Eindäm-
mung der Pandemie, beginnend vermutlich mit der
Wiederöffnung der Schulen. Denn den Schulen
kommt die Rolle der Schrittmacher zu, daran wird
sich alles andere ausrichten.
Und dann werden wir auf eine Volkswirtschaft
blicken, die sich tief in der Rezession befindet. Auch
dieses Mal wird es ein Leben danach geben. Allerdings
wird dieses »Danach« anders aussehen als etwa nach
der Finanzkrise. Der Grund dafür liegt in dem un-
terschiedlichen Charakter der beiden Krisen.
Die Finanzkrise war das Ergebnis einer Banken-
krise, die zu einer Staatsschuldenkrise wurde, die aber
weitgehend begrenzt geblieben ist auf den Finanz-
sektor. Der Bankensektor musste damals mit großen
Rettungsschirmen vor dem Kollaps bewahrt werden.
Ab 2009 kehrte die Wirtschaft sehr schnell auf den
Wachstumspfad zurück, es begann der längste Auf-
schwung in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte.
Das wird nach Corona ganz anders. Diese Krise
erfasst die gesamte Realwirtschaft. Sie ist ein gleich-
zeitiger Angebots- und Nachfrageschock für die Welt-
wirtschaft, und die Maßnahmen, die zum Gesund-
heitsschutz der Bevölkerung auf der ganzen Welt
ergriffen werden müssen, führen geradewegs in die
weltweite Rezession. Die Bekämpfung der Infektion
löst die Wirtschaftskrise überhaupt erst richtig aus.
Am Ende des zweiten Quartals 2020 wird die Welt-
wirtschaft gegenüber dem ersten Halbjahr 2019 um
mehrere Prozentpunkte geschrumpft sein. Wir kön-
nen von großem Glück sprechen, wenn es im ein-
stelligen Prozentbereich bleibt.
Anders als die Finanzkrise ist diese Krise daher mit
Geld allein nicht zu lösen. Schon am Beispiel
Deutschlands wird dies schnell deutlich: Unser Land
erwirtschaftet (2019) ein jährliches Sozialprodukt von
rund 3,4 Billionen Euro. Das sind knapp 10 Milliar-
den Euro am Tag und etwa 41.000 Euro pro Kopf
der Bevölkerung im Jahr. Geht man sehr grob ge-
schätzt von einem Rückgang der volkswirtschaftli-
chen Leistung in den Tagen und Wochen der Krise

auf ein Drittel der üblichen Leistung aus, fehlen pro
Tag rund sechs Milliarden Euro. Wenn die Krise
»nur« bis Ende April andauern würde, wären das
schon über 200 Milliarden Euro oder sechs Prozent
unseres jährlichen BIP. Dauerte sie bis zur Mitte des
Jahres an, sprechen wir von 25 bis 30 Prozent unseres
BIP. Und da am Tag nach der Krise nicht sofort wie-
der alles bei den alten Werten vor der Krise liegt, wird
es weitere Verluste durch eine Anlaufphase geben,
selbst wenn es zu diesem Zeitpunkt – was ebenfalls
unwahrscheinlich ist – keine Einschränkungen im
öffentlichen Leben mehr geben wird. Last, but not
least: Viele Industrien und Branchen werden die
Produktionszahlen von vor der Krise auf Jahre nicht
wieder erreichen. Die verfügbaren Einkommen
werden sich deutlich reduziert haben, und das Kon-
sumverhalten der Bevölkerung wird sich vermutlich
neu ausrichten.
Mit anderen Worten: Dieses Virus löst eine tiefe,
historische Zäsur aus. Es verändert unsere Welt und
unser Leben in vielerlei Hinsicht, zum Guten wie zum
Schlechten, und viel tief greifender, als wir es zu
Beginn des Jahres 2020 ohnehin angenommen haben.

Welche neuen Gemeinsamkeiten entstehen?
Fangen wir erneut mit den guten Nachrichten an.
Unsere Gesellschaft erfindet sich neu, unser Sozial-
wesen zeigt sich von der besten Seite. Ich habe es selbst
erfahren, aus der Nachbarschaft, dem Freundes- und
Bekanntenkreis, zum Teil von Menschen, die ich gar
nicht persönlich kenne. So wird es vielen gehen.
Plötzlich erkennen wir den Wert der sozialen Gemein-
schaft wieder. Was im Kleinen gut funktioniert,
gelingt auch – vorläufig jedenfalls – im Großen. Wir
sehen ein großartiges Engagement der Ärzte und Pfle-
gekräfte, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den
Unternehmen und in den Behörden, der Bediensteten
der Polizei, der Bundeswehr und der Hilfsorganisa-
tionen. Wir erleben eine neue »Kultur der Erreich-
barkeit. Der Verbindlichkeit« (Matthias Horx).
Aber bleibt das so, wenn die Folgen der Krise erst
offensichtlich werden? Wir wissen aus der Sozial-
forschung, dass rund ein Drittel unserer Gesellschaft
für soziale Appelle grundsätzlich nicht erreichbar ist.
Dieses eine Drittel schweigt im Augenblick angesichts
der Dimension des Unbekannten, aber es wird wieder
auftauchen, sobald aus der Krise neue Verteilungs-
konflikte entstehen. Dieses eine Drittel wird Für-
sprecher in politischen Parteien finden. Es droht eine

viel härtere (partei)politische Diskussion, als wir sie
bisher kannten. Und darauf müssen wir uns vorzu-
bereiten versuchen – so gut es heute geht!

Was muss vermutlich geschehen?
Worauf sollten wir uns also einstellen? Was bedeu-
tet »historische Zäsur«?
Corona beschleunigt eine Entwicklung, die wir
schon seit geraumer Zeit beobachten. Der Sozio loge
Andreas Reckwitz nennt es die »dreifache Krise des
apertistischen Liberalismus«, eine soziokultu relle
Krise, eine sozioökonomische Krise und eine Krise
der politischen Institutionen. Mit Corona ist ein
»Schwarzer-Schwan-Augenblick« hinzugekommen,
die Macht eines höchst unwahrscheinlichen, aber
eben doch eingetretenen Ereignisses. Damit wird
das politische Führungspersonal vor allem in Europa
vor ungeahnte Herausforderungen gestellt. Corona
ist der historische Augenblick der heutigen politi-
schen Generation.
Allein die ökonomischen Herausforderungen
sind gewaltig. An dieser Stelle müssen die Stich-
worte genügen:


  • Die Verstaatlichung von Aufgaben und von Un-
    ternehmen wird die Leistungsfähigkeit unseres
    Landes nicht stärken, sondern schwächen. Des-
    halb sind die jetzt nötigen Eingriffe nur zeitlich
    eng begrenzt vertretbar. Wir müssen die sozial
    verpflichtete und auf privatem Eigentum auf-
    bauende, die Soziale Marktwirtschaft erhalten.

  • Wir brauchen auch in Zukunft starke kleine, mitt-
    lere und große Unternehmen. Niemand sollte die
    Staatshilfen stigmatisieren, die er morgen vielleicht
    doch braucht. Es war ein Fehler in der Finanzkrise,
    den Banken in Europa – anders als in den USA –
    keine Rekapitalisierung aus staatlichen Mitteln an-
    zubieten. Das wird jetzt in großem Umfang für die
    Industrie notwendig werden.

  • Wir müssen auf Start-ups und junge Gründer
    achten. Es besteht die Gefahr, dass Unterneh-
    men gerettet werden, die ohne die Krise keine
    Überlebenschance gehabt hätten, und gleichzei-
    tig junge, innovative Unternehmen schließen
    müssen, weil sie durch das Raster der Rettungs-
    schirme fallen.

  • Auch in der Krise bleibt richtig: So viel Europa
    wie eben möglich! Europa darf kein Schönwet-
    ter-Binnenmarkt sein, der unter der Last eines


Schocks zusammenfällt. Wir müssen mit den
europäischen Institutionen dafür sorgen, dass die
europäische Industrie gerade jetzt zusammen-
wächst und ihre internationale Wettbewerbsfä-
higkeit bewahrt. Deshalb sollte das europäische
Kartellrecht kein Hindernis sein, die Unterneh-
men in Europa entstehen zu lassen, die unsere
strategische Souveränität in Zukunft wenigstens
teilweise sichern.


  • Wir brauchen als Land mit der höchsten Indus-
    triedichte Partner zur Aufrechterhaltung unse-
    rer Exportwirtschaft. Wir müssen deshalb bereit
    bleiben, den europäischen Nachbarn gemein-
    same Hilfen bereitzustellen. Das Prinzip »Hand-
    lung und Haftung in einer Hand« darf trotz-
    dem nicht aufgegeben werden. Eurobonds blei-
    ben auch in der Krise der falsche Weg. Es gibt
    andere Instrumente, besonders betroffenen
    Ländern zu helfen.

  • Alle Maßnahmen, die jetzt ergriffen werden,
    können eine hohe Zahl von Unternehmens-
    insolvenzen und damit eine hohe Arbeitslosig-
    keit nicht vermeiden. Auch die meisten überle-
    benden Unternehmen werden mehr oder weni-
    ger große Teile ihres Eigenkapitals verloren
    haben. Die Stabilisierung der produzierenden
    Industrie muss daher absoluten Vorrang haben.
    Eigentümer und Mitarbeiter müssen zu einem
    neuen sozialen Miteinander finden, um eine
    Basis zu legen für Wohlstand und Arbeitsplätze
    der nachfolgenden Generationen.


Damit sind wir an dem Punkt angekommen, der
wichtiger werden wird als jede ökonomische Frage:
Wie sichern wir nach Corona den sozialen Frieden
und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft?
Schaffen wir es gleichzeitig, die Offenheit, Liberalität,
Toleranz und die demokratischen Prozesse zu
erhalten, an die wir uns so gern gewöhnt haben?
Anders ausgedrückt: Ist unsere Demokratie reif genug
für harte Entscheidungen? Ich bin und bleibe zuver-
sichtlich, aber wirklich wissen werden wir auch dies
erst aus der Rückschau.

Merkel-Gegner, Rechtsanwalt,
Finanz manager: Friedrich Merz, der
gerade Covid-19 hatte, kandidiert
wieder für den CDU-Vorsitz

Geld allein hilft nicht


FRIEDRICH MERZ meldet sich zurück. Der Kandidat für den CDU-Vorsitz beschreibt, wie man


nach der Corona-Krise die soziale Marktwirtschaft retten kann


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