Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.03.2020

(Joyce) #1
Seite16SSeite19 eite

Die er sten Betriebe beantragen


Steuerstundungen. Jetztkommt es


auf dieFinanzämter an.


Verlageleiden derzeitweniger als


andere.Aber für Bertelsmann wird


das zweiteQuartal dennochschwer.


Es gibt eigentlichgenug Ethanol


für Desinfektionsmittel.Aber die


Umstellung der Logistik hakt.


HILFE AUSDEM MILLIARDENTOPF CORONA BESCHLEUNIGTDIGITALISIERUNGRETTUNGVOM ACKER

I


nallen großen westlichen Indus-
trienationen befindetsichdas
wirtschaftliche undgesellschaft-
liche Leben nunmehr in einer wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen
Paralyse, nachdem auch, erkennbar
unwillig, die politischen Führungen
in den VereinigtenStaaten und in
GroßbritanniendenVersucha ufgege-
ben haben, eineAusbreitung desVi-
rushinzunehmen. Stattdessen soll
die Einschränkung sozialerKontakte
die Ausbreitung desVirusunter Kon-
trolle halten, um eineÜberforderung
der nationalen Gesundheitssysteme
zu vermeiden. Angesichts der drama-
tischenZuständevorallemin nordita-
lienis chenKlinikenistdieseinenach-
vollziehbareStrategie. Undsoer-
staunt nicht, dassauchinDeutsch-
land nachUmfragen eine sehrgroße
Mehrheit der Bevölkerung den „Shut-
down“ gutheißt, obgleichermit einer
erheblichen Beschränkung persönli-
cher Freiheitsrechteeinhergeht.
DieseStrategiegleichteinemWett-
lauf gegendie Zeit.Denn nicht nur
stellt die neue Artdes Zusammen-
lebensgroße Anforderungen an die
sozialen Kompetenzen vieler Men-
schen. Siegeht mit erheblichen wirt-
schaftlichenKosten einher,die sich
heuteüberhauptnochnicht präzise
abschätzen lassen und die am Ende
vonden Menschengetragenwerden
müssen. Die Einschätzung des Präsi-
denten des Ifo-Instituts, Clemens
Fuest, die wirtschaftlichen Kosten
der Corona-Krise würden voraus-
sichtlichalles übersteigen,wasaus
Wirtschaftskrisen undNaturkatastro-
phen der letzten Jahrzehntein
Deutschland bekannt ist, sind leider
plausibel. Ein Monat wirtschaftlicher
Stillstand in Deutschland entspräche
einemRückgang des Bruttoinlands-
produkts zwischen4und 5Prozent.
Unddabei steht nicht einmalfest,
ob nacheinem Ende der Beschrän-
kungen die in vielen Ländernschwer
getrof fene Wirtschaf twieder schnell
auf Touren kommt.Die Wirtschafts-
geschichtegibthierfürkeineeindeuti-
ge Antwort. DiesehrexpansiveGeld-
undFinanzpolitiksolltenichtnurhel-
fen, die Kosten der gegenwärtigen
LähmungfürUnte rnehmenundKon-
sumenten zu dämpfen. Siekann auch
die gesamtwirtschaftlicheNachfrage
in einerZeit einer allmählichen Bele-
bung wiederstützen.Aber die Coro-
na-Krise trifft nicht nur dieNachfra-
ge,sondernauchdas Angebot. Mit
staatlichem Geld allein lassen sich
globale Lieferketten nichtrekonstru-
ieren, wenn das Vertrauen in die
Globalisierung einen nachhaltigen
Knacks erhalten hat.Die Krisekönn-
tezudemKonsumgewohnheitenlang-
fristig verände rn,die einen wirt-
schaftlichenStrukturwandelbegünsti-
gen. Nicht ohne Grund sagt zum Bei-

spiel der Vorsta ndsvorsitzende der
Lufthansa, Carsten Spohr,kleinere
Flugzeugflottenvoraus.Nichtunplau-
sibel wäre es, wenn derstationäre
Einzelhandel dauerhaftMarktanteile
an Versenderverlöre. Kurzum: Diese
Krise wirdviele wirtschaftlicheVer-
lierer haben.
In dem Maße, in dem sichdie wirt-
schaftlichenKosten nicht nur inZah-
len ausdrücken, sondernGesichter
bekommen, wirdauf diePolitik der
öffentliche Druckwachsen, die Ein-
schränkungen des Lebens zumindest
zuloc kern,wennnichtgarganz aufzu-
heben. Auch soziale Isolation und
wirtschaftliche Krisengehen mit Ge-

fahrenfürdieGesundheit vielerMen-
schen einher.„Gesunde Menschen“
und „gesundeWirtschaft“ sind auch
in dieser besonderen Situationkein
Gegensatzpaar.
SchonwirdindenVereinigtenStaa-
tenDonald Trump, der seineWieder-
wahl starkvon der wirtschaftlichen
Entwicklung und den Börsenkursen
abhängiggemacht hat, unruhig.Aber
auchgelassenere undgefestigter ePo-
litikerwerden sic hmit diesenFragen
befassen müssen. Die Aufgabe ist
nicht trivial:Werden die Einschrän-
kungen zu früh aufgehoben, isteine
neue Welle vonInfektionen durch
dasVirusnichtausgeschlossen.Ande-
rerseits wirdeskaum möglichsein,
das Land bis zurVerbreitung eines
Impf stoffs lahmzulegen.
Will die Politik dasVertrauen der
Menschen nicht verlieren, wirdsie
bald eineStrate gie präsentieren müs-
sen, die den Schutz der Gesundheit
der Menschen mit einerRücksicht-
nahme auf die wirtschaftlichen
Grundlagen unseresWohlstands ver-
bindet. Jeder Bürger, der seine Sinne
beisammen hat,weiß, dasssichheute
nochkein präziserFahrplan für die
Umsetzung dieserStrate gie definie-
renlässt,dadie Zahl der Infizierten
immer nochzunimmt.Aber Gedan-
kenumdas Morgensind Pflicht.„An-
gesichts großer Prognoseunsicherhei-
tendarfman in der Infektionsbe-
kämpfung auf Sicht fahren, aber
nicht ohne eine–bei neuen Erkennt-
nissenerforderlichenfallszukorrigie-
rende –Wegeplanung, die verhin-
dert, dassman sic hnur im Kreis be-
wegt“, schreibt die ehemaligeVerfas-
sungsrichterin Gertrude Lübbe-
Wolffineinem Beitrag für dieseZei-
tung. Gerade im „Lockdown“ brau-
chen Menschen Signale, dassesvor-
angeht.

D


as Corona-Virusist ein gräss-
licherFeind, unsichtbarund
schwer zu bekämpfen. Jede
Vorsichtsmaßnahme scheint berech-
tigt.Die Opferzahlen steigen, doch
sinddieErkrankten nichtdieeinzigen
Opfer :Das Lähmen des öffentlichen
Lebens, dasAbschotten und Distan-
zieren forderteinen unglaublichen
Preis. Während die Industrieländer
auf schmelzende Börsenkurse und
Kurzarbeitschauen,fürchtendieMen-
schen indenSchwellen-undEntwick-
lungsländernschlicht den Hunger.
IhreRegierungenstehen voreinem
grausamen Dilemma: Sie müssen die
Verbreitung des Virusaufhalten,
schon weilesvielzuwenigeÄrzte,Kli-
niken und Schutzanzügegibt.Das
Stilllegen derWirtschaf taber heißt,
dassHunderte MillionenTagelöhner
ohne Einkommen dastehen. In diesen
Stunden zahlen die Menschen der
Schwellenländer den Preis dafür,dass
dieRegierungenniegenugindenAuf-
bau der Sozialsysteme investiertha-
ben.GefüllteVorratsspeicherundBar-
auszahlungenkönnen den drohenden
Schmerznur lindern.Stimmen die
Vorhersagen derVirologen,rollt auf
Asien und Afrikaschon eine Elends-
welle zu, noch bevordas Virusüber-
hauptzugeschlagen hat.

Eine Strategie für die Wirtschaft


VonGerald Braunberger

H


eidi Jung ist93Jahrealt und
ein bisschenwackelig auf den
Beinen. Aber ansonstenist
die Koblenzerin für ihr Alter
ziemlichfit.Imtäglichen Lebenzur Seite
steht ihr seit vier Jahren IwonaWisz-
niewska.Dochjetzt is tIwona nicht inKo-
blenz, sonderninihrer polnischen Hei-
mat nahe Breslau. Sie will dortbleiben.
„Ichhabe Angstvor dem Coronavirus“,
sagt sie amTelefon.
Angstvor demVirushat auchMaria
Gulmantowitz. Maria und Iwonawech-
seln sichalle paarWochen in der Betreu-
ung vonFrauJung ab. Maria hatteschon
eine Wocheverlängert,weil Iwona nicht
kam. Dochjetzt is tauchsie abgereist, mit
dem Bus nachAllenstein (Olsztyn). Der
letzt eBus für den 22-Stunden-Trip ging
Montagabend. Ihre Schwägerin hatte
schon vorzweiWochen das Flugzeug
nachDanzig bestiegen, eineFreundinvo-
rige Wocheden Minibus.Um Heidi Jung
kümmertsichjetzt er st mal ihreTochter.
Neben vielen anderen Schwächen legt
das Coronavirus eineweiter ebloß –die
der 24-Stunden-Betreuung alter Men-
schen. Die wirdvielfachvon Frauen aus
dem Ausland geleistet. Niemandweiß ge-
nau,wie vieleBetreuerinnen–oftalsPfle-
gekräfte bezeichnet,wassie formell nicht
sind –aus Polen, Rumänien, Bulgarien
hier unterwegs sind. DerVerband für
häusliche Betreuung und Pflegespricht
von300 000 Helferinnen.
Viele werden überAgenturenvermit-
telt.DashatfürdeutscheKundendenVor-
teil, dasssie in ihrem Heimatlandsozial-
versicher tsind, also dortindie Renten-
und Gesundheitskassen einzahlen.Noch
mehr arbeiten allerdings anSteuerbehör-
deundSozialkass evorbei. „DiealtenLeu-
te wollen Schwarzarbeit, wir sind denen
sonstzuteuer“, sagteeine os teuropäische
Betreuerin. Promedica24 istlaut Eigen-
werbungDeutschlandsgrößtes Unterneh-
menim Geschäftmit derEntsendungvon
Helferinnen. Im Gesprächfragt Ge-
schäftsführerPeterBlassnig:„Können Sie
sichvorstellen, wasmit unseremSystem
los wäre,wenn die geschätzt 300 000
24-Stunden-Betreuungskräfte abhauen
würden?“ Die Antwortliefer tergleich
mit.„Das wäre furchtbar.“
Aufjeden Fallis tdie Lag ederzeitange-
spannt.„Das Coronavirus macht uns
schongroße Probleme“, sagt Johannes
Haas. Er istGeschäftsführer des Ver-
bands Pflegehilfe, der mehrerehundert
Vermittlungsagenturen vertritt. „Viele
Agenturen haben nicht mehrgenug Pfle-
gekräfte,die sie nachDeutschland schi-
cken könnten“, sagt er und schätzt:„Da
sind jetztZehntausendeFamilien betrof-
fen.“Als die ersten Helferinnenvorzwei
WochenüberstürztdieHeimreisean getre-
tenhätten, seien die Betriebe sehr unter-
schiedlich daraufvorbereitet gewesen.
Alle vondieser Zeitung befragten An-
bieterberichtenvon„Stress“. Blassnig
vonPromedica24steht nacheigener Ein-
schätzung vergleichsweise gut da. Die
selbstorganisierten Bustransporte von
und nachPolen würden aufrechterhalten,
samt Fieb ermessen und Desinfektion der
Fahrzeuge.Weil die ungarische Grenze
dicht ist, habe man schonFrauen aus Bul-
garien eingeflogen.
„HierunddagabesmaleinenEngpass,
dawaresgut,dassFamilieneinpaarStun-
denoderein paarTage überbrückenkonn-
ten“, sagtWalter Bruchvom A nbieter
Actiovita. Es habe bei ihmkeinen Fall
ohne Betreuunggegeben. „Stand jetzt ha-
ben wir alles unterKontrolle.“
Mancheiner der Betreiber,die im Netz
mit lebensfrohen Bildernwerben, will auf
Anfragenichts zur Lagesagen. Claus Hof-
mannvonden „PflegeheldenFulda“ be-
richtetimmerhin: „Eskönnteproblema-
tischwerden,wenn keiner mehrkommen
will und dievorhandenen Kräfte nicht vor
Ortbleiben.“ DannkönntenFamilien für
ein paarTage ohne Betreuung bleiben.

Weil sic hinder RegelzweiHelfer ab-
wechseln, kommt man bei 300 000 lega-
len und illegalen 24-Stunden-Hilfen auf
etwa 150 000 alteMenschen, dievoral-
lem vonOsteuropäerinnen unterstützt
werden. Das sind auch150 000 deutsche
Haushalte,indenenarbeitendeKinderih-
rergebrechlichen Elternversorgt wissen.
Wenn nicht nurIwona undMariaabrei-
senund fernbleiben, bekommenFamili-
en ein Problem. Nicht überallgeht da sso
glimpflichab, wie bei Heidi Jung, deren
Tochtersie zu sich genommen hat, wis-

send,„dassich alsfreiberufliche Fotogra-
finjetzt ehkeine Aufträgebekommen
werde“.
In vielenFamilienwerden jetzt hek-
tischNotlösungengesucht .Zwarsoll man
den Kontakt zu alten Angehörigen mei-
den,dochalleinlassen,kannmansie auch
nicht.ErwinRüddel(CDU),derVorsitzen-
de des Gesundheitsausschusses im Bun-
destag, plädiertdeshalb in denFällen für
eine Freistellung mit Lohnfortzahlung:
„Für Familien, bei denenkurzfristig die
Pflegekrafteines Angehörigen das Land

aufgrund des Coronavirusverlassen hat,
würde ichmir einevergleichbareRege-
lung wie bei der Kinderbetreuung wün-
schen“, sagteerder F.A.Z. DieRegelung
soll Arbeitgebernermöglichen, Lohnfort-
zuzahlen,wenn ElternimFall vonSchul-
schließungen bei ihren Kindernbleiben
müssen. „Zudem appelliereich an die Ar-
beitgeber,konstruktiveLösungengemein-
sam mit ihren Angestellten zufinden.“
Die aktuelle Lagezeigeeinmal mehr,
„dassdiese oftmals illegalen Arbeitsver-
hältnisse aus der Schwarzarbeit herausge-
holt werden müssen“, sagtRüddel. Dazu
gehörtenmehrPragmatismusundeineAn-
passung der Arbeitszeitgesetzgebung, um
mehr reguläreArbeitsplätze in der häusli-
chen Pflegezuschaffen. MancheVermitt-
ler versuchen Schwarzarbeiterinnen für
dielegaleBeschäftigungzugewinnen.An-
dereberichten,Frauen würden sogarwe-
gender Corona-Kriseverlänger nund im
Ansteckungsfall auf das deutsche Gesund-
heitssystem vertrauen .RobertGeisthardt
von„24fairecare“, der damit wirbt, nur in
Deutschland ansässigesPersonal zuver-
mitteln, berichtet vonAnrufen nachdem
Motto:„SchickenSieir gendwen,aberschi-
cken sie jemanden.“ Sogar Männer seien
als Betreuer dortwillkommen,wo bisher
nur Frauen akzeptiertwurden.
In derNotist auchdie Leistung klassi-
scher Pflegedienste —sonstoft wegenho-
her Kosten gemieden—gefragt .Bernd
Meurer,der Präsident des Bundesver-
bands privater Anbieter sozialer Dienste,
sagtedieser Zeitung:„Das Problem ist
auchbei unseren Mitgliedernangekom-
men. Pflegebedürftige, die bishervonost-
europäischen Haushaltshilfen versorgt
wurden, fragen jetztvermehrtbei unseren
Pflegediensten an.“ Man versuche „im
Rahmen der Möglichkeiten“ zu helfen.
Dochdie Möglichkeiten sind angesichts
vonFachkräftemangel und überlaufenen
ambulanten Diensten, die 3,1 Millionen
Menschen zu Hauseversorgen, schon lan-
ge begrenzt.
DieseEngpässewerden nochlänger an-
halten. IwonaWiszniewska hofft,inzwei
oderdreiMonatenwiederzukommen,„frü-
hestens Ende April“. So langesollten die
angespartenReservenreichen. Allerdings
istgerade ihr Mann arbeitslosgeworden.
Das Hotel, in dem er beschäftigtwar, hat
geschlossen—wegen Corona.

S


ie müssen jetzt zu Hause blei-
ben! Fast alle Geschäftewer-
dengeschlo ssen!AuchinGroß-
britannienhatdieRegierungnun har-
te Beschränkungen des sozialen und
wirtschaftlichen Lebens angeordnet,
die schärfstenseit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs. Man sah Pre-
mierministerBoris Johnson an, wie
unwohl ihmistbeidiesenzurEindäm-
mung des Coronavirus notwendigen
Maßnahmen.DasLandwirdeingefro-
ren, eine Megarezession istabsehbar.
FinanzministerRishiSunak hat Hilfs-
paketemit HundertenMilliardenge-
schnürt, um diekollabierendeWirt-
schaf taufzufangen: Darlehen für
strauchelnde Unte rnehmen, Direkt-
zahlungen für Kleinbetriebe und Er-
stattungvonachtzigProzentdesmitt-
leren Lohnes,wenn Arbeitgeber ihre
Angestellten nicht entlassen. Ohne
diese staatlichen Hilfen drohten eine
Pleitewelle und Millionen Arbeitslo-
se in wenigen Wochen. Auch die fünf
Millionen Selbständigen brauchen
Unterstützung, die existenzvernich-
tende Ausfälle erleiden.Undwie wei-
ter? Je länger der erzwungeneStill-
standandauert,desto größerwirdder
Druc k, nicht wirtschaftlichen Selbst-
mordaus Angstvor dem Corona-Tod
zu begehen.

In der Seniorenbetreuung istDeutschland abhängigvonArbeitskräftenaus demAusland. Fotodpa

ZurücknachPolen:Maria Gulmantowitz betreuteHeidi Jung. Foto Schmidt-Dominé

dc. BERLIN.Die wirtschaftlichenFolgen
der Corona-Krise werfen die Finanz-
planungfürdieRenten versicherungdurch-
einander undreißen dortunerwarteteLü-
cken auf.Womöglichdroht nun schon für
kommendes Jahr ein Anstieg desRenten-
beitragssatzesvonbisher 18,6 Prozent des
Bruttolohns auf bis zu 20 Prozent.Denn
ein krisenbedingt sinkendes allgemeines
LohnniveauwirdzwardieBeitragseinnah-
menderRentenkassespürbarmindern,de-
renAusgaben schrumpfen jedoch nicht.
Durch die zuletzt beschlossenen zusätzli-
chen Absicherungen fürRentner werden
diesemitihrenAlte rsbezügenvoraussicht-
li ch nur starkabgeschwächt undverzögert
etwasvon den Krisenfolgen spüren.
Zu diesem auch politischbrisanten Er-
gebnis kommt eine neue Analysedes Mu-
nichCenter forthe Economics ofAging
(MEA). Dessen Direktor Axel Börsch-Su-
pangehörtauchderaktuellenRenten kom-
mission an, dievonder Bundesregierung
im Jahr 2018–unter ganz anderenVorzei-
chen –eingesetztworden war. Das Gremi-

um, das zur Hälfte mit Sozialpolitikern
aus Union und SPD besetzt ist, soll am
Freitag seine Ergebnisse bei Sozialminis-
terHubertus Heil (SPD)abliefern–digital
und perTelefonkonferenz.
Zu den seit 2018 beschlossenen neuen
Renten vorschriften, die nun unerwartete
Bedeutunggewinnen, zählen die soge-
nanntenHaltelinien für Beitragssatz und
Rentenniveau. Der Beitrag darfdemnach
bis2025nicht über20 Prozent desBrutto-
lohnssteigen, dasRentenniveau–imVer-
hältniszumDurchschnittslohn–nichtun-
ter48Prozentfallen. Andernfalls, so die
Regelung, wirddurch höhereBundeszu-
schüsseandieRentenkasseoder beschleu-
nigteRentenerhöhungen sichergestellt,
dassdie Halteliniengreifen.
Bisher wurde erwartet,dassdas Ren-
tenniveau, bisher knapp über 48 Prozent,
alsEr stes seine „Haltelinie“ erreicht .Nun
aber sieht esganz andersaus, wie die Be-
rechnun genzeigen: Durch ein rezessions-
bedingtsinkendesLohnniveaukönntedie
KenngrößeRentenniveaukurzfristig gera-

dezu durch die Decke schießen, auf mehr
als 52 Prozent.Forderungen, ein solches
Rentenniveau politischherbeizuführen,
hattezuvor nur die Linksparteierhoben.
Allerdings ergibt sichder er warteteAn-
stieg jetzt nicht durch s tärker steigende
Renten, sonderndurch sinkende Löhne.
Die Größe zeigtgleichwohl, dasssichdie
gesellschaftlicheVerteilungsposition der
Rentner in der Krise klarverbessert.
Umgekehrtwar mit einem Beitragsan-
stieg auf 20 Prozent des Bruttolohns bis-
her frühestens für 2024gerechnet wor-
den. Nunwürde im düsterstenSzenario
schon 2021 diese Grenze überschritten.
Undumdie zugehörige„Haltelinie“ nicht
zu reißen, müsstedie Regierung sogleich
5Milliarden EuroanzusätzlichemRen-
tenzuschussausde mBundeshaushaltzah-
len, zeigt die Analyse. Bis 2025stiegeder
BedarfanneuenZuschüssendannschritt-
weise auf 19 Milliarden EurojeJahr.
Das Negativszenariorechnetfür 2020
mit einemWirtschaftseinbruchum9Pro-
zent, wie ihn das Kieler Institut fürWelt-

wirtscha ft(IfW)inderungünstigstenVari-
anteerwartet, verbunden mit einemVer-
lauf, in dem dieWirtschaf terst2023 ihren
Normalpfadwiederfindet. MildereVarian-
tenwurden auchberechnet: So würde mit
einer kurzen Rezessionvon6Prozent für
2021 ein Beitragsanstieg auf 19,3 Prozent
ausreichen; dasRentenniveaustiege„nur“
auf gut 50 Prozent.Regelungen wie die,
dassimSinne des Generationenaus-
gleichsbeisinkendenLöhnenundsteig en-
der Beitragslastnotfalls Renten sinken
können oder zumindestnicht steigen, hat-
te die große Koalitionseit derFinanzkrise
in mehreren Schritten abgeschafft.
„Rentenempfänger werden finanziell
weniger vonder Corona-Krise betroffen
sein als die Erwerbsbevölkerung“,folgert
Börsch-Supan und kritisierteine „Asym-
metrie“ zu Lastender Zahler.Obdie Ren-
tenkommission die neuen Entwicklungen
in ihrem Bericht berücksichtigt, istbisher
nicht näher bekannt.Dagegen spricht,
dasssie den Großteil ihrer Beratungen
vorder Corona-Krisegeführthat.

Auch einekranke
Volkswirtschaft
schadetder Gesundheit
der Menschen.

Undwer betreut


die Oma jetzt?


Corona reißt Löcher in die Rentenkasse


WegenderKrise droht schon baldeine Beitragssatzerhöhung auf 20 Prozent, zeigt eineneue Analyse


AusAngstvorCoronafliehenPflegekräfte


zurüc knachOsteuropa.ZehntausendeFamilien


stehen ohneBetreuung alterAnge hörigerda.


VonAndreas Mihm


Die erste Welle


VonChristoph Hein

Erzwungener Stillstand


VonPhilip Plickert

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft MITTWOCH,25. MÄRZ 2020·NR.72·SEITE 15

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