Frankfurter Allgemeine Zeitung - 25.03.2020

(Joyce) #1
Wenig ir ritiertinZeiten der Corona-
Krise mehr als unklareLaborbefunde.
Am22.MärzteilteeinRavensburgerLa-
boreinemTübingerArzt überdenCoro-
na-Test einer PatientinFolgendes mit:
„Eine Analytik dieser Probe istauf-
grund der langen Lagerung jetzt nicht
mehr aussagekräftig.“ Am 23. März
schrieb dasselbe Labordann über die-
selbe Patientin: „KeinHinweis auf eine
Infektion mitSARS-Cov-2.“ Er st hatte
das Labor zwischen der Entnahme des
Abstrichsund der Befunderstellung sie-
ben Tage ve rstreichen lassen, dannkor-
rigierte es seine eigeneAussageinner-
halb einesTages.
DieseLaborpanneistin Baden-Würt-
tembergkein Einzelfall. Betroffen sind
dieLandkreiseTübingen, Biberach,Ra-
vensburg, Bodenseekreis und offenbar
auchder Zollernalbkreis.Allein im
LandkreisTübingen sind 1000 bis 1300
Proben abgenommenworden, ohne
dassdie Patienten ein zuverlässiges Er-
gebnismitgeteil tbekommenhätten.Un-
terden Patienten befindensichauch
„systemrelevante“ Personen, also Ärz-
te,Pfleger oderFeuerwehrleute, die un-
nötig langemit dem Corona-Verdacht
leben müssen undteilweisewegender
Quarantänelangeinihren Berufenaus-
fallen. Der baden-württembergische
GesundheitsministerManfred Lucha
(Grüne) sprachamDienstaginder Re-
gierungspressekonferenz voneinem
„kleinen Malheur“. Die Ärzte, die in
den Drive-in-Testzentren arbeiten, und
die Gesundheitsämter der Landkreise
sehen das allerdings anders.
Lisa Federle, LeitendeNotär ztin in
Tübingen, sprichtvoneinem „handfes-
tenSkandal“. Sie hattesichvon Anfang
andafür eingesetzt, so umfangreichwie
möglichzutesten, und nochvor dem
Aufbau desstationärenTestzentrums
in TübingenPatienten in einem Arzt-
mobilgetestet.DieSituationderPatien-
tenkenntsiegut:„WirhabenindemLa-
bor tägl ichangerufen, um uns nachden
Ergebnissen unsererPatienten zu er-
kundigen, wir wurden immer wieder
vertrös tet. Vondem Laborgabesa uch
keine Vorwarnung, dassesein Problem
gibt“, sagt sie.Stärkerkönne manPa-
tienten jetzt nichtverunsichern.Wenn
das überforderte Labor eineWarnung
ausgesprochen hätte, sagt die Ärztin,
dann hätteman versuchenkönnen, die
AbstricheanderenLaboren zu schi-
cken. „Wenn das Labor jetzt Ergebnisse
mitteilt,glaubt das jakeiner.Sichergibt
es auc hinfizierte Personen, die deshalb
nicht rechtzeitig separiertworden
sind.“DasGesundheitsamtunddie nie-
dergelassenen Ärztemussten nun mehr
als tausendPatienten anrufen und zu
neuenTestseinbestellen. Ein Sprecher
des Gesundheitsministeriums sagte,
man nehme dasVerhalten des Labors
mit großer Verwunderung zurKennt-
nis. Der Biberacher LandratHeiko
Schmid (Freie Wähler) kritisierte,dass
die Gesundheitsämter nichtrechtzeitig
informiertworden seien.

DasoberschwäbischeLabor,1947als
erstesPrivatlaborDeutschlandsgegrün-
det, beschäftigt mehr als 400 Mitarbei-
ter. Die Leitung des Laborsrechtfertigt
das Vorgehenmit einem „zweitägigen
Lieferausfall“vonReagenzmaterialien.
Man habe das Landesgesundheitsamt
und das Landesgesundheitsministeri-
um am 16. Märzinformiert. Probenvon
stationärbehandeltenPatientenundRi-
sikopatienten seienzudemweiterhin be-
arbeitet worden, heißt es in einerStel-
lungnahme. Nach einer Empfehlung
des Robert-Koch-Instituts (RKI) seien
dieTests„bei PatientenmithoherVirus-
konzentration im Probenmaterial auch
nachverlängerterLagerung“ nochzu-
verlässig untersuchbar,essei in diesen
Fällen dennoch ein positives Ergebnis
zu er warten. Viro logen widersprechen,
sieem pfehlen,TrockenabstrichezurEr-
mittlungeinerSars-Cov2-Infektionspä-
testens innerhalbvondreibis vierTa-
gennachder Entnahme zu untersu-
chen. Widersprüchlichist auch, dass
das Labor erst mitteilte, eskönne das
Abstrichmaterial nicht mehr auswer-
ten, kurzeZeit später aber dennoch Be-
fundeverschickte. EinigeVirologenra-
tenohnehin zufeuchtenAbstrichen.
Der Tübinger Landrat und Präsident
des baden-württembergischen Land-
kreis tages, JoachimWalter (CDU), ist
über dasVorgehen desRavensburger
Labors hochgradig verärgert. „Wir ha-
ben Geld für Schutzkleidung, Proben-
material undPersonal vorgeschossen –
wasletztlichvergeudetwar.Uns wurde
nicht mitgeteilt, dassesein Problem
mit derAuswertung der Proben gibt.
Erst nachachtTagen hat man uns auf
unsereaktiveNachfrageerklärt,diePro-
ben seien nicht mehrverwertbar; diese
Aussagewurde einenTagspäter wieder
korrigiertund sogar unterschiedliche
Befundberichte über ein und denselben
Abstrich versendet“, sagteWalter die-
ser Zeitung. Ein Corona-Test kostet
etwa 150 Euro, für Privatlabore istdie
KrisedementsprechendaucheineZeit,
in der sichgut verdienen lässt.
Privatlaboremit einer derartgroßen
Testkapazität, Erfahrung undKompe-
tenzsind inderKrise unverzichtbar.Sie
gelten als „systemrelevant“. Landkreis-
tagspräsidentJoachimWaltersagt,stär-
kerals mit einer derartirritierenden In-
formationspolitikkönne man die Men-
schen nichtverunsichern. Es sei unver-
schämt,wenndasPersonalderGesund-
heitsämter in denZentren alles tue, um
weiterhin möglichstbreit zu testen, ein
Labor dann aber „in aller Seelenruhe“
Rechnungenausstelle.Diegrün-schwar-
ze Landesregierung empfiehltweiter-
hin, so umfangreichwie möglichzutes-
ten, auc hwenn viele Gesundheitsämter
schon seitTagendie Infektionsketten
nicht mehrrecherchierenkönnen. In
der Mitteilung desRavensburgerLa-
borsheißt es, „nicht-indizierteTests“
belastete ndas Gesundheitssystem und
verhinderten, das sman die Probenvon
Risikopatienten nicht schnell bearbei-
tenkönne.

D


ie rotenMilitär fahrzeugehal-
tenamLieferanteneingang.
Soldaten entladen einen Sarg
nachdem anderen un dtragen
ihn in den „Eispalast“. „Dirgefallen Ge-
fühle?“, fragt derWerbeslogan des Ein-
kaufszentrums imMadriderStadtteilHor-
teleza: Eine neue Dimension„traumhaf-
ten“ Shopping- undFreizeitvergnügens
verspricht der „Palacio de Hielo“.Für vie-
le Kinderist dortdie riesigeEislaufbahn
der Höhepunkt.Auf 1800 Quadratmeter
Kunsteis zogen sie auf ihren Schlittschu-
hen bisvorgut einerWoche vorden Zu-
schauertribünen ihreKreise. Jetztstapeln
sichdortdie Sär ge.Seit Dienstagsind in
der Region um die spanische Hauptstadt
272 Menschen an denFolgendes Corona-
virus gestorben. Imganzen Land trauern
die Menschen um 2700Tote.Obwohl seit
eineinhalbWochen die Bewegungsfrei-
heit der 47 Millionen Spanier so drastisch
eingeschränkt istwie in kaum einem an-
deren Land,zeichnendie Statistiken je-
den Tagein nochschlimmeres Bil d. We-
der in China nochinItalien stieg dieZahl
der ToteninvergleichbarenZeiträumen
so schnell an wie in Spanien. Seit einer
Wochen jedenTagumzwischen20 und
30 Prozent.
In Madridkämpfendie Ärzteinüber-
fülltenIntensivstationenumdasLebenih-
rerPatienten. Die erstenBestatter haben
schon aufgegeben. Die Krematorien sind
rund um die Uhr in Betrieb undvöllig
überlastet. Am Montagstelltedas städti-
sche Beerdigungsinstitut praktischseine
Arbeit ein: Die Mitarbeiter holenkeine
verstorbenen Corona-Patienten mehr ab,
daihnendieSchutzausrüstungfehlt;inih-
renReihen gibt es 20 Infizierte.Wieder
musstedie Armee einspringen und die
Eisbahn als ein Zwischenlagervorberei-
ten.Der EispalastliegtnichtweitvomMa-
driderMessezentrum entfernt, in demdie
Soldaten am Wochenende das größte
Feldlazarett Spaniensaus dem Bodenge-
stampf thatten.
Aufdem Almudena-Friedhofhatdie
katholische Kircheeine ArtDrive-
through-Diensteingerichtet.VondenStu-
fenderTrauerkapelleaussegneteinPries-
termit Mundschutz den Leichenwagen
und spricht ein schnelles Gebet.Der Sarg
wirdnicht ausgeladen.Wenn Angehörige
dabei sind, müssen sie einen Sicherheits-
abstand wahren. Oftfilmen sie die trauri-
ge Szene mit ihren Mobiltelefonen für
den Rest der Familie.
EinigeSpaniererhieltenamMontagTo-
desnachrichten, die dasganze Land scho-
ckierten.DieSoldatensindmittlerweilein
die Altersheime ausgeschwärmt, in denen
schon seitTagenzum Teil apokalyptische
Zustände herrschen. Eigentlich sollten sie
sichnur einen Eindruckverschaffenund

die Häuser desinfizieren.Aber in einigen
Einrichtungen fandensie die Leichname
vonCorona-Infizierten, die in ihren Bet-
teneinfac hliegen gelassenworden waren.
Zudem stießen sie nachAngaben des
Verteidigungsministeriums auf vielevöl-
lig vernachlässigteHeimbewohner.Bis-
her is tnur dieRede voneinem Heim im
Süden Madrids, aber auchaußerhalb der
Hauptstadt soll es ähnlicheFälle gegeben
haben.DieStaatsanwaltschafthatErmitt-
lungen aufgenommen, einweiteres Mal:
In dervergangenenWoche warenschon
DutzendeTodesfälle und nochviel mehr
Corona-Infektionen in Senioreneinrich-
tungen bekanntgeworden,welche die zu-
ständigen Behörden schutzlos derPande-
mie überlassen haben.
In den Heimen und immer mehr auch
inden Kliniken wirddas Personalknapp.
Mehr als 5400Schwestern, Krankenpfle-
gerund Ärztehaben sich selbs tinfiziert.
Dassind fast 14 Prozent allergemelde-
tenInfizierteninSpanien. IhreZahlist
dreimal so hochwie in denschlimmsten
Zeiten in China.Undeskönnten bald
nochmehrwerden, denn in Spanien sind
neue Schnelltests eingetrof fen, dievor-
rangigindenKlinikenundHeimenzum
Einsatzkommen sollen.Die vielen Infek-
tionenhaben auch damitzutun, da ss der
Erns tder Lag eerstspäterkannt und lan-
ge Zeit improvisiertwurde. Bis heute
fehlt Schutzausrüstung, nicht nurinden
Altenheimen, sondernselbstinden Kli-
ni ken.

Pfleger klagen, dasssie of tnur einfache
Operationsmaskenerhal ten.Di eFFP-Mas-
kenmit einer höheren Schutzstufeseien
weiter Mangelware. Erst langsam läuft
der Nachschub an. In Madridwerden zwei
Flugzeugladungen erwartet.InValencia
half einchinesischer Unternehmer,eine
große Lieferung zu organisieren,während
ananderenOrtenNonnenindenKlöstern
angefangen haben, Mundschutzmasken
zu nähen. DerTextilkonzernInditex stellt
seine Flugzeugflotte zur Verfügung, um
dasmedizinischeMaterial im Land zuver-
teilen, welches das Gesundheitsministeri-
um imAusland gekaufthat.
Vorallem fehlen aber die Menschen,
um den Erkrankten beizustehen, deren
Zahl in den nächstenTagen weiter zuneh-
men wird. Die spanische Gesundheitsex-
pertin Helena Legido-Quigleyist ske p-
tisch, ob die bisherigenRessourcen für ei-
nen weiteren Anstieg der Infizierungen
ausreichen. Das hat auchmit denFolgen
der Wirtschaftskrisevorzwölf Jahren zu
tun. „Die Sparmaßnahmenund Personal-
abbau hattenAuswirkungen. Siewerden
sichindieser Krise bemerkbar machen.
Wirhatten früher ein System, das sehr
gut funktionierthat.Wenn man sichjetzt
die Zahl der Betten, sowohl im Kranken-
haus als auchauf der Intensivstation, an-
schaut, sieht man, dasssie unter dem eu-
ropäischen Durchschnitt liegt“,sagtesie
der Zeitung „ElPaís“.
Die Regierung hat inzwischen mehr als
50 000 Pfleger und Ärzterekrutiert. Medi-

zinstudenten, die kurz vorihrem Ab-
schlus sstehen, pensionierte Ärzt eund
Flüchtlingeaus Venezuelaund anderen
südamerikanischen Krisenstaaten. Unter
ihnensindvieleÄrzte,diebisherwegenih-
rerAbschlüssekeineZulassunginSpanien
erhaltenhatten. In Madrid schlossdie Re-
gionalregierung sogar diestädtischenNot-
fallambulanzen.Ihr Personal arbeitet jetzt
in den Corona-Kliniken.Außerhalb der
großenStädteist dieLageoftnichtvielein-
facher.DieStatistikenzeigen,dassdiestar-
ke ZunahmederInfektionenundTodesfäl-
le nicht mehr nur aufRegionen wie Ma-
drid und das Baskenlandbeschränkt ist.
In der Provinz Cádiz arbeitetder Bür-
germeistervon Alcalá de laValle nicht
mehrimRathaus.ZusammenmitvierGe-
meinderäten des Ortesmit gut 5000 Ein-
wohnernhilfterimAltersheim aus. Dort
sind20 Mitarbeiter und 38 Einwohner po-
sitivgetestet worden.Nichtnurin Andalu-
sien weiß man, dassesinS panien noch
viel mehr Infizierte gibt, denn bisher wur-
den fast nur die schwerenFälle getestet.
Deshalb mehren sichdie Forderungen,
wie in Italien die spanischeWirtschaf tbis
auf überlebenswichtigeAusnahmen zu
stoppen. Davonwill die Regierung in Ma-
drid bisher nichts wissen.„Wir hof fen,
dasswir mit den hartenMaßnahmen, die
wir er griffenhaben, in den nächstenTa-
genden Höhepunkt der Epidemie errei-
chen und dieZahl der Fälle allmählichzu-
rückgehenwird“,sagtederN othilfekoordi-
nator Fernando Simón am Dienstag, gibt
aber zu, dieseWochewerde nochhart.

Wenn es soetwa swie einen nationalen
Charakter gibt, müssteman den briti-
schen als ambivalent bezeichnen. Er ist
zu etwa gleichenTeilen vonFreiheits-
drang und Gesetzestreuegeprägt .Der
„free-bornEnglishman“ istfastimmer
auch„law-abiding“ –also rebellischer
Freidenker und braver Schlangesteher in
einem. Diese sehr eigene Balancefindet
sichwährend der Corona-Krise in den
Maßnahmenpaketen des Premierminis-
ters ebenso wiederwie in denReaktionen
der Öffentlichkeit.
„Kein Premierministerwill Maßnah-
men wie diese in Kraftsetzen“, sagteBo-
risJohnson,als er am Montagabend in ei-
ner Fernsehansprache drastische Eingrif-
fe in den Alltag und die Bewegungsfrei-
heit der Bürgerverkündete.Esgebe keine
einfachen Optionen zurzeit, fuhr erfort
und kündigtean: „DerWegvor uns ist
hart.“Aber inZeiten eines „nationalen
Notstands“ gebe es keine andereMöglich-
keit, um den staatlichen Gesundheits-
dienstNHS zu entlastenund „viele, viele
tausend Menschenleben zuretten“.
Viele der neuen Einschränkungenglei-
chendenen inandereneuropäischenLän-
dern,unddochsahJohnsonauchvoneini-
genMaßnahmen ab. Seit Dienstagmor-
gensind die Briten angehalten, nur in
Ausnahmefällen das Haus zuverlassen.
Dazu zählen der EinkaufvonNahrungs-
mitteln und Arzneimitteln sowie „körper-
liche Betätigungen“ wie Laufen undFahr-
radfahren. Diese sollten allerdings nur
„in einerForm einmal amTag“ ausgeübt
werden. Der Arbeitsplatz darfnur aufge-
sucht werden, wenn dieTätigkeit absolut
notwendigist und nichtvonzuHause aus

erledigt werden kann. Versammlungen
vonmehralszweiPersoneninderÖffent-
lichkeitwerden notfalls polizeilichaufge-
löst, sofernessichnicht um die Mitglie-
dereinesHaushaltshandelt.AuchBußgel-
der können erhobenwerden.
Noch am Sonntag hatteJohnson un-
wirsch reagiert,alsihneinJournalis tfrag-
te,obderStaatir gendwannpolizeilichge-
genBürgervorgehen würde,diesichnicht
an schon damalsgeltende Anweisungen
halten. Immer wiedervermittelt eJohn-
son zwischen denZeilen den Eindruck,
als lasse sichdie Lag emit einer Artlässi-
gerZurückhaltungverbessern,undbeton-
te,dassman in einem „Land derFreiheit“
lebe. Am Montagabend prasselteesdann
ungewohnteImperativ evon ihm:Sie müs-
sen zu Hause bleiben. Sie dürfenkeine
Freunde treffen.
Wieeffektiv und rigoros die Ordnungs-
hüter gegenÜbertr etungen der neuenRe-
geln vorgehen,bleibtabzuwarten.DiePo-
lizei wurde in denvergangenen Jahren
spürbar abgebaut.Selbstinden Gegen-
den, dievonKriminalität heimgesucht
werden, sieht man in normalenZeiten
kaum Beamteauf der Straße. Hinzu
kommt, dassdie neuenVollmachten zwar
ins Parl ament eingebracht, aber noch
nicht verabschiedet sind.In denkommen-
den Tagensind diePolizistennur befugt,
Bürgerzubefragen und auf das Einhalten
der Anordnungen hinzuweisen.
In Westminsterund in denZeitungen
wurden dieVerschärfungen einhellig be-
grüßt.Einigekritisierten, das ssie früher
hätten erfolgen müssen. Andere wiesen
darauf hin, dassdie neuenRegeln von
nochradikalerenVorgaben absehen, wie

sie etwa in Italiengelten. Die Briten müs-
senkeineFormulare fürdenAusgangaus-
füllen, das Offenhalten derPark sermög-
licht ein Mindestmaß an Bewegung an
derfrischenLuft; auchherrschtkeineaus-
drücklicheReisebeschränkung. Es bleibt
einstweilen beiAufforderungen: Jene, die
sichanihremZweitwohnsitz oderanders-
wo im Inland aufhalten, sollen an ihre
Meldeadresse zurückkehren. DasAußen-
ministerium drängtedie etwa eine Milli-
on Urlauber imAusland, jetzt „dringend“
die letzten Möglichkeiten zur Heimkehr
zu nutzen, die derkommerzielle Flugver-
kehr nochhergibt.
VieleFragenbliebenamDienstagnoch
unbeantwortet. Als Kabinettsbürominis-
terMichael Gove am Morgenvon der
BBC zu den Details derNeuregelung be-
fragt wurde,geriet er immer wieder ins
Schlingern. Die Regierung hat Berufs-
gruppenfestgelegt, die als „Key Workers“
gelten und damit zur Arbeitsstelle fahren
und ihreKinder zur Schule schickendür-
fen. Aber die Definition lässt Raum für
Auslegungen.Auch am Montag drängten
sichzur Rushhour wieder Menschen in
den U-Bahnen,darunter zahlreiche Bau-
arbeiter.
Der Londoner BürgermeisterSadiq
Khan drang darauf, nur jenen Bauarbei-
tern Sonderkonditionen einzuräumen,
die sicherheitsrelevanteTätigkeiten aus-
füllen. DieRegierung macht dieseUnter-
scheidung bislang nicht undverlangt nur,
den Zwei-Meter-Abstand unter Bauarbei-
tern einzuhalten. Interpretationsfähig ist
auchdie An weisung für Handwerker, die
nur „Notfäll en“ nachgehen sollen. Nicht
zuletztTaxifahrer sind imUnklaren dar-

über,obsie als „Key Workers“ gelten. Re-
gierungsvertreter versicher tenamDiens-
tag, bald Klarheit zu schaffen. Zu den
Graubereichen zählt auchdie Nachbar-
scha ftshilfe.WiesollenFamilienangehöri-
ge oder NachbarnAlteundKrankeversor-
gen, ohnegegendie Kontaktsperre zwi-
schen den Haushalten zu verstoßen?
GovesAntwor tdarauf warvage. Immer-
hin in einerFragelegteersichfest: Schei-
dungskinder,deren Elterngetrennt le-
ben,haben dasRecht,weiterhin zwischen
den Haushalten zu pendeln. Am Mittag
schicktedie Regierung eineTextmittei-
lung an alle imKönigreich registrierten
Handynummern: „NeueRegeln in Kraft:
Sie müssen zu Hause bleiben.“ Esfolgt
ein Verweis auf die neu eingerichteteIn-
ternetseiteder Regierungwww.gov.uk/co-
ronavirus. Dieselässt aber nochvieleFra-
genunbeantwortet.
Trotzder Spielräume, die heftigeEin-
schränkungen komplexerGesellschafts-
strukturenmitsichbringen,wirdJohnson
eine neue Entschiedenheit und damit
eine Lernkurve bescheinigt.Die „Times“
schrieb am Dienstag, das sJohnson als ei-
nem „instinktiv liberalenKonservativen“
keine Wahl mehrgeblieben sei und er
nundieFührun gzeige,diedas Landbrau-
che. Der regierungsfreundliche „Tele-
graph“ verglichdie frühenAuftrittedes
Premierministers,insbesondereseine Mi-
mik,mit demVerhalten eines mittelalten
Vaters,der verzweifelt versuche, vonsei-
nen Teenagersöhnen nicht als „uncool“
wahrgenommen zuwerden. Docham
Ende habe Johnson nochzu„ Härte“ge-
funden,miteiner„starkenundklarenBot-
schaft“. Es sei nun Schlussmit „Mr .Nice
Guy“.

„Kleines Malheur“


verunsichertTausende


Probleme in Privatlabor:Viele Corona-Testsmüssen


wiederholtwerden.VonRüdigerSoldt, Stuttgart


Soldaten holen die Leichnameab


Ausnahmezustand:Angehörigeder MilitärischenNothilfeeinheitvoreiner Madrider Eishalle, die als Leichenhalle dient FotoAFP

BraveSchlangesteher und rebellische Freidenker


Die vonBoris Johnsonverhängten Einschränkungen lassen vieles offen/VonJochen Buchsteiner, London


bub./elo./Lt./mwe.BERLIN.Der Bun-
destagsoll an diesem Mittwochnicht
nur das mehr als 150 Milliarden Euro
umfassendeCorona-Hilfspaket der Re-
gierung beschließen, sondernwill
selbstauchseine künftig eArbeitsweise
andie BedingungenderVirus-Krisean-
passen.Zu diesem Zweckplant dasPar-
lamentweitreichende Änderungen sei-
ner Geschäftsordnung: Das Plenum
soll künftig schon mit einemViertel
der Abgeordne tenbeschlussfähig sein
(bislang istformell die Hälfte der Parl a-
mentarier dazu notwendig).Auchfür
die Beschlussfähigkeit derAusschüsse
soll das kleinereQuorumkünftig gel-
ten; außerdemwerden dieAusschuss-
Vorsitzenden ermächtigt,elektronische
Abstimmungen anzuordnen, so dass
die Sitzungennicht in denAusschuss-
Sälen des Bundestags abgehaltenwer-
den müssen.Auch die Öffentlichkeit
vonAusschuss-Sitzungen sollkünftig
schon dann hergestellt sein,wenn eine
TeilnahmeaufelektronischemWege er-
möglichtwird.DieÄnderungenderGe-
schäftsordnungverlieren ihreGültig-
keit Ende September,sie können auch
zuvor schon aufgehobenwerden.
In einerweiteren Änderung willsich
der Bundestagdazu bereit erklären,
dassdie ImmunitätvonAbgeordneten
künftig auchdann aufgehobenwerden
kann, wennBehördennachdemInfekti-
onsschutzgesetzgegendie betreffenden
Parlamentarier freiheitsbeschränkende
Maßnahmenverhängt haben. Der Im-
munitätsausschuss, notfalls der Präsi-
dent des Bundestages, müssen prüfen,
ob dieseFreiheitsbeschränkungen als
gerechtfertigt angesehenwerden.
Der Vorsitzende derUnionsfraktion,
Ralph Brinkhaus, lobtedie Zustim-
mung der Oppositionsparteien zu der
geplanten Geschäftsordnungsände-
rung als „unglaublichkonstruktiv“. Es

gehedarum,auchmitweniger Abgeord-
netendievolleEinsatzfähigkeit desPar-
laments zu erhalten. In der AfD-Frakti-
on plädierte derVorstandamDienstag
vorder Sitzung derAbgeordne tenda-
für,allen geplantenÄnderungenzur Ar-
beit des Bundestags zuzustimmen. Eine
Ablehnungwerdeinder Be völkerung
schlecht ankommen, da sie demVor-
wurfNahrunggebe, die AfDversuche,
die Krise für ihre Zwecke zu instrumen-
talisieren, lautete die Argumentation.
AllerdingsgibtesinderFraktionerheb-
licheWiderstände gegendiese Haltung,
nichtzuletztunterdenostdeutschenAb-
geordne ten. Vieles, wasnun an weitrei-
chenden Entscheidungen inkur zer Zeit
durchgepeitschtwerden solle, erinnere
an die ersten Rettungspakte in der
Euro-Krise für Griechenland, als die
schnellen Beschlüsse als alternativlos
bezeichnetwordenwaren, heißt es un-
terAbgeordneten. Es seifalschfür eine
Oppositionspartei, jetzt zu allem ja und
amenzu sagen. Eswurde erwartet,dass
die Fraktion beschließenkönnte, sich
weitgehend derStimme zu enthalten,
um diesen Bedenken vielerAbgeordne-
terRechnung zu tragen.
DieGrünenwollenhingegen denGe-
setzentwürfenzustimmen. Wieviele
Abgeordne te am Mittwochtatsächlich
physischimPlenarsaal erscheinenwer-
den, waramMittwoc hnochnicht klar.
Die Rede warvon etwa 25 Abgeordne-
tender 67 MitgliederstarkenFraktion.
Für di eAufhebung der Schuldenbrem-
se, dieVoraussetzung für das Corona-
Hilfspaket ist, mussdie Mehrheit der
Mitglieder des Bundestags stimmen,
also mindestens 355 Abgeordne te.
Dochdie Bundesregierungkann dabei
auchauf dieStimmen der Grünen zäh-
len. Es sei eine „inhaltliche Zustim-
mung“, sagtedie Fraktionsvorsitzende
Katrin Göring-EckardtamDienstag.

In Spaniens


Altenheimenrafft


Covid-1 9die Bewohner


hinweg,und Be statter


stellen ihre Arbeit ein,


weil Schutzklei dung


fehlt.


VonHans-Christian


Rößler,Madrid


Kleineres Parlament


Bundestaggibt sic hneue Regeln in derCorona-Krise


SEITE 2·MITTWOCH, 25.MÄRZ2020·NR. 72 FPM Politik FRANKFURTER ALLGEMEINEZEITUNG

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