Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1
von caspar busse

J


im Hagemann Snabe, 54, lebt mit
seiner Familie in Dänemark. We-
gen der Corona-Epidemie will und
kann der Aufsichtsratsvorsitzende
von Siemens sein Land derzeit
nicht verlassen, er hängt fest. Und so mel-
dete er sich am Freitagmorgen telefonisch.
Zusammen mit Noch-Vorstandschef Joe
Kaeser, 62, nahm er zur aktuellen Füh-
rungskrise bei Siemens Stellung – was die
beiden zu sagen hatten, war durchaus ge-
spenstisch. Es gebe überhaupt keine Mei-
nungsverschiedenheiten. Alles gut, sollte
die Botschaft sein. Immerhin: Snabe räum-
te wenigstens ein, es sei „nicht ideal“, mit-
ten in den Vorbereitungen des entscheiden-
den Börsengangs von Siemens Energy die
Führungsmannschaft auszuwechseln. An-
sonsten: Krise? Welche Krise?


Dabei wird Siemens seit Monaten von
schweren Querelen hinter den Kulissen er-
schüttert – wieder einmal. Der aktuelle
Konflikt ist jetzt eskaliert, und das auch
noch, während sich die gesamte Welt mit
den Folgen der Corona-Epidemie und der
drohenden Rezession beschäftigt und der
Siemens-Aktienkurs in die Tiefe rauscht.
Dabei ist Siemens nicht irgendeine Fir-
ma. 1847 in einem Berliner Hinterhof ge-
gründet, ist sie heute mit 385 000 Mitarbei-
ter und 90 Milliarden Euro Umsatz überall
auf der Welt aktiv und steht nach wie vor
für deutsche Ingenieurskunst. Aber auch
Streit hat bei den Münchnern durchaus
Tradition.
Joe Kaeser ließ in den vergangenen Mo-
naten lange offen, ob er seinen Vertrag
nicht doch noch verlängern würde und leis-
tete sich einige Alleingänge, nicht nur in
der öffentlichen Diskussion um die Betei-
ligung am Bau einer Kohlemine in Australi-
en. Jetzt geht er zwar, wird aber doch ir-
gendwie bleiben. Denn Kaeser will erst im
Februar kommenden Jahres ausscheiden
und zudem neuer Chefaufseher von Sie-
mens Energy werden. Das alles macht den
Job für seinen Nachfolger Roland Busch
nicht einfacher. Personalchefin Janina Ku-
gel suchte bereits Ende vergangenen Jah-
res das Weite. Michael Sen, der eigentlich
Siemens Energy an die Börse führen sollte,
wirft nun auch hin und wird durch Christi-
an Bruch ersetzt, der von Linde kommt
und weder ein ausgewiesener Fachmann
in Energie- noch in Abspaltungsfragen ist.
Kaeser sprach trotzdem am Freitag von
einer „geordneten Nachfolgeregelung“. Ro-
land Busch sei eine ausgezeichnete Wahl.


„Er ist viel besser vorbereitet, als ich es
2013 war“, sagte Kaeser, der seit sieben Jah-
ren Siemens-Chef ist – und fügte an, da-
mals sei der Job für ihn ja sehr unvermit-
telt gekommen. Es ist aus der Telefonkon-
ferenz nicht überliefert, ob er da nicht
selbst schmunzeln musste. Im Sommer
2013 war Kaeser nämlich selbst nach einer
beispiellosen internen Schlammschlacht
an die Spitze von Siemens gekommen. Da-
mals war Kaeser noch Finanzvorstand und
lag am Ende mit dem damaligen Konzern-
chef Peter Löscher überkreuz. Die Unstim-
migkeiten wurden seit Frühjahr 2013 im-
mer offensichtlicher. Als es dann zu einer
erneuten Revision der Prognose kam, ge-
riet Löscher immer stärker unter Druck.
Nach harten Auseinandersetzungen auch
im Aufsichtsrat wurde Löscher schließlich
abgesetzt. Der damalige Aufsichtsratchef
Gerhard Cromme machte Kaeser zum
neuen Vorstandsvorsitzenden, der seit-
dem das Weltunternehmen aus München
umbaut wie keiner seiner Vorgänger.
Der Österreicher Löscher war zuvor
selbst in höchst unruhigen Zeiten ins Amt
gekommen. Sein Vorgänger Klaus Klein-
feld, der 2005 ernannt worden war, war re-
lativ bald von der tiefen Korruptionsaffäre
bei Siemens erwischt worden. Er war zwar
nicht direkt verstrickt, doch musste er sei-
nen Posten räumen. An einem sonnigen
Maitag im Jahr 2007 wurde der bis dahin
weitgehend unbekannte Löscher als neuer
Siemens-Chef präsentiert – und räumte
dann durchaus erfolgreich auf. Doch am
Ende konnte er sich nicht bei Siemens hal-
ten, auch weil er nicht über genügend Rück-
halt und über kein funktionierendes Netz-
werk im Unternehmen verfügte.
Nun also soll der studierte Physiker Ro-
land Busch, 55, den Konzern führen und
nach der Trennung von der Energiesparte
(mit immerhin 27 Milliarden Euro Umsatz
und 88 000 Mitarbeitern) stabilisieren. Er
ist in Erlangen geboren, so wie der langjäh-
rige Konzern-Chef Heinrich von Pierer,
und fing 1994 in der Siemens-Zentralabtei-
lung für Forschung und Entwicklung an,
kam schließlich 2011 in den Vorstand. Er
ist krisenerprobt, er kümmerte sich lange
um die kriselnde Bahntechnik, die mit

dem französischen Konkurrenten Alstom
fusionieren sollte, was dann aber am
Widerstand der europäischen Wettbe-
werbsbehörde scheiterte. Busch ist für ei-
ne ruhige, umgängliche und analytische
Art bekannt, er sucht nicht die große Büh-
ne – und ist damit das ziemliche Gegenteil
von Kaeser. Der traf US-Präsident Donald
Trump in Davos, Wladimir Putin auf des-
sen Sommersitz oder die Umweltaktivistin
Luisa Neubauer in Berlin.
Er fühle sich „tief geehrt“, schrieb Busch
zu seiner Ernennung. Bis Oktober wird er
alle Aufgaben von Kaeser übernehmen
und er weiß, dass er Siemens befrieden
muss. „Roland Busch hat ein herausragen-
des Technologieverständnis und ist nah
am Kunden“, lobte Snabe am Freitag von
Dänemark aus. Aber wird das reichen?

„Wir sind ein starkes Unternehmen mit ho-
her Liquidität und in robuster Verfassung“,
sagte Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser
am Freitag. Die Coronavirus-Epidemie wer-
de an Siemens nicht spurlos vorüberge-
hen, die Auswirkungen würden spätes-
tens im zweiten Quartal spürbar. Aber: Alle
Siemens-Werke – bis auf zwei kleine, in de-
nen Corona-Fälle aufgetreten seien – lie-
fen. „Das kann sich jeden Tag ändern“, sag-
te Kaeser weiter. Siemens hat weltweit
385 000 Mitarbeiter in 200 Ländern. In die-
ser Woche hatten praktisch alle Automobil-
hersteller eine Schließung ihrer Produkti-
on angekündigt, viele Autozulieferer folg-
ten. Kaeser berichtete weiter, in China hät-
ten die Siemens-Werke bereits wieder
95 Prozent der Auslastung von vor dem
Ausbruch erreicht. Der Münchner Indus-
triekonzern werde die Folgen beziffern, so-
bald der Vorstand sie einschätzen könne.
„Wir müssen auf Sicht fahren – aber die
Sicht ist im Moment nicht sehr weit“, sagte
Kaeser. Die Börse nahm die Aussagen posi-
tiv auf, die Siemens-Aktie legte am Freitag
deutlich zu. CBU

München –Die McDonald's-Restaurants
sind zwar nicht systemrelevant, die Mitar-
beiter werden aber nicht arbeitslos. Der
deutsche McDonald’s-Ableger unter-
stützt ab sofort die Lebensmitteldiscoun-
ter Aldi Nord und Aldi Süd mit Personal.
Mitarbeiter, die nicht in den Restaurants
arbeiten können, weil deren Betrieb einge-
schränkt oder eingestellt wurde, können,
wenn sie wollen, bei Aldi aushelfen, wo
dringend Menschen gesucht werden. Da-
für haben McDonald’s und Aldi eine Perso-
nalpartnerschaft geschlossen, teilten die
Unternehmen am Freitag mit.
Es ist eine ungewöhnliche Lösung – ge-
rade angesichts der Tatsache, dass die Ar-
beitslosenzahl in Deutschland nach einer
Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung durch die Corona-
Krise bis zur Jahresmitte um 200000 zule-
gen wird. Die Zahl der Kurzarbeiter könn-
te laut Bundesagentur für Arbeit zudem
ein neues Rekordniveau erreichen und
über den bisherigen Höchstwert von 1,4
Millionen auf dem Höhepunkt der Finanz-
krise im zweiten Quartal 2009 steigen.
Zu den Betroffenen zählen die 900 Mit-
arbeiter des Fahrdienstes Moia, dem Pres-
tigeprojekt von Volkswagen. In Hamburg
und Hannover können Kunden per App
Moia-Sammeltaxis bestellen und sich den
Wagen mit anderen teilen, die einen ähnli-
chen Weg haben – nicht geeignet, wenn
man aus Präventionsgründen Abstand
halten will. Moia stellt den Dienst zum 1.
April ein, bis sich die Lage verbessere.
Kaum ein Unternehmen ist derzeit
nicht betroffen, samt Mitarbeitern. Der
Kunststoffhersteller Covestro verkünde-


te, dass der Gewinn vor Zinsen, Steuern
und Abschreibungen in diesem Quartal et-
wa 60 Millionen Euro niedriger ausfallen
werde als geplant. Porsche erwartet für
das erste Quartal 2020 einen Absatzrück-
gang um etwa zehn Prozent, sagte Vor-
standschef Oliver Blume am Freitag in
Stuttgart. Der Autozulieferer Bosch fährt
seine Produktion in Deutschland wegen
der Coronavirus-Krise ebenfalls weitge-
hend herunter. Betroffen seien rund 35
Standorte der Mobilitätssparte sowie di-
verse Zentralbereiche. Bosch reagiere da-
mit auf die drastisch sinkende Fahrzeug-
nachfrage in Europa und die Produktions-
stopps der Automobilhersteller. Albrecht
Hornbach, der Aufsichtsratschef der Bau-
marktkette, bezeichnet es als „bitter“,
dass „der Erfolg des zurückliegenden Ge-
schäftsjahres in der sich stündlich ändern-
den Nachrichtenlage zur Coronakrise ver-
pufft“. Selbst kleine und mittelständische
Online-Händler seien durch die Pande-
mie akut gefährdet, schreibt ihr Verband
in einem offenen Brief an die Bundesregie-
rung und fordert Soforthilfen.
Im Ausland ist die Lage nicht besser. In
Großbritannien hat Premier Boris John-
son zwar an Unternehmer appelliert, wei-
ter auf ihre Angestellten zu achten, aber
daran hält sich längst nicht jeder. So hat
die Hotelkette Britannia Hotels bereits die
ersten Mitarbeiter gefeuert, ohne Vorwar-
nung. Die 4500 Piloten von British Air-
ways müssen zwar in den kommenden bei-
den Monaten auf 50 Prozent ihres Grund-
gehalts verzichten, behalten dafür aber ih-
re Jobs. Und der britische Autohersteller
Jaguar Land Rover schließt die Werke. sz

Das ist eine
geordnete
Nachfolgeregelung.
Roland ist eine
ausgezeichnete Wahl.
Er ist viel besser vorbereitet,
als ich es 2013 war.“

Joe Kaeser

Ein Konzern


in Unruhe


Führungsquerelen und Machtkämpfe
haben bei Siemens Tradition:

Jetzt geht mitten in der Krise Joe Kaeser


und übergibt an Roland Busch.


Der muss das Unternehmen schnell befrieden


Die Werke laufen


Aldi oder arbeitslos


McDonald’s-Mitarbeiter dürfen wechseln, andere verlieren Jobs


Der Neue ist das
ziemliche Gegenteil
des alten Chefs

DEFGH Nr. 68, Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020 HF2 WIRTSCHAFT 23


Joe Kaeser posiert während des Besuchs einer Siemens-Fabrik im bayerischen Amberg mit Mitarbeiterinnen für ein Selfie:
Er ist seit 40 Jahren im Unternehmen, jetzt wird er seinen Vertrag nicht mehr verlängern. FOTO: ARMIN WEIGEL, DPA

Ich bleib zuhause.


Weil das Leben


retten kann.


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