Süddeutsche Zeitung - 21.03.2020

(C. Jardin) #1
Bypass fan

Commercial
airliner

Cowling

Turbine

Hypersonic cruise missile


Supersonic air
compression

Supersonic
combustion

Inlet shock waves Exhaust

Fuel injection

International Space Station
(~400 km)

ICBM ballistic trajectory
(up to 1200 km)

Atmosphere
(~100 km)

Target

Compressor

Launch

Turbofan


A race to higher Mach numbers


Since the dawn of the Cold War, militaries have strived for weapons that can maneuver at hypersonic speed, defined as Mach 5 (five times the speed of sound) or greater.
Although hype and secrecy muddy the picture, China, Russia and the United States all appear to have made big strides in overcoming key obstacles.

Commercial airliners typically use a turbofan engine,
which produce thrust in two ways: when air mixes
with fuel in the combustion chamber, and when fan
blades accelerate air bypassing the chamber. But
turbofans are not designed to handle shock waves
generated by air moving faster than sound. Hyper-
sonic cruise missiles instead use a supersonic
combustion ramjet, or scramjet, to accelerate.

From fans to scrams


Scramjet engines are little more than an open tube.
But at hypersonic speeds, air molecules spend
milliseconds in the tube — scant time for fuel and air
to mix properly.

Simple yet complex <Mach 4+


Because ICBMs arc along a ballistic path, they lack the
element of surprise. In contrast, hypersonic weapons
are maneuverable and fly at lower altitudes, evading
radar and dodging defenses.

Bobbing and weaving


Grafik: Science, bearbeitet von SZ

Turbofan

Air speed (Mach)

Hypersonic flight

Hypersonic glide vehicle

0511015202530

Turbojet

Scramjet

Glider

Hypersonic glider trajectory
(~40 to 100 km)

Hypersonic cruise missile

Hypersonic cruise missile
trajectory (~20 to 30 km)

Center body

Bypass air

Exhaust

Supersonic intake

H


och am Himmel über Nord-
westchina löst sich ein keilför-
miges unbemanntes Flugge-
rät von einer Rakete. DerXing-
kong-2-Hyperschall-Marsch-
flugkörper (HCM) rast mit einer Geschwin-
digkeit von Mach 6 – also der sechsfachen
Schallgeschwindigkeit – durch die Strato-
sphäre, surft dann auf seinen eigenen Stoß-
wellen weiter. So zumindest beschreibt die
für die Entwicklung zuständige China
Academy of Aerospace Aerodynamics den
Test, der im August 2018 stattgefunden ha-
ben soll. Die Geschwindigkeit und Manö-
vrierfähigkeit der HCM, so jubelte dieGlo-
bal Times, eine Zeitung der Kommunisti-
schen Partei, würde es der neuen Waffe
ermöglichen, „jedes Raketenabwehr-
system der aktuellen Generation zu durch-
brechen“.
Seit Jahrzehnten sind beim US-Militär
und seinen Gegner Raketen begehrt, die
sich mit Hyperschall fortbewegen, allge-
mein definiert als Mach 5 oder höher. Inter-
kontinentalraketen (ICBMs) erfüllen diese
Definition, wenn sie aus dem Weltraum
wieder in die Atmosphäre gelangen. Aber
weil sie sich wie eine Kugel auf einer vor-
hersehbaren ballistischen Bahn befinden,
fehlt ihnen der Überraschungseffekt. Hy-
perschallwaffen hingegen manövrieren
aerodynamisch, sodass sie der Abwehr aus-
weichen können und den Gegner über das
genaue Ziel im Unklaren lassen.
Schon mit Beginn des Kalten Krieges
hatte sich das Pentagon für steuerbare Hy-
perschallwaffen interessiert, scheiterte
aber regelmäßig an technischen Hürden
bei Antrieb, Kontrolle und Hitzebeständig-
keit. „Ganz viel Betriebsamkeit, große In-
vestitionen, und dann kam die Einsicht,
dass wir noch nicht so weit sind“, sagt der
Luft- und Raumfahrtingenieur Mark Le-
wis, zuständig für die Forschung zur militä-
rischen Abwehr am US-Verteidigungsmi-
nisterium.
Doch jetzt hat das Ministerium einen
neuen Versuch gestartet. Derzeit investiert
es jährlich mehr als eine Milliarde US-Dol-
lar in die Hyperschallforschung, angetrie-
ben vermutlich durch ähnliche Program-
me in China und Russland. Alle drei Natio-
nen scheinen erhebliche Fortschritte ge-
macht zu haben, etwa beim Schutz vor
gefährlicher Reibungswärme.
Russland hat kürzlich eine Waffe na-
mens Kinzhal vorgestellt, die Mach 10 aus
eigener Kraft erreichen soll, und eine weite-
re, die von einer Rakete auf erstaunliche
Mach 27 beschleunigt wird. China präsen-
tierte vor Kurzem auf einer Militärparade
ein eigenes raketenverstärktes Hyper-
schall-Gleitfluggerät (HGV), das Dong-
feng-17. Die Vereinigten Staaten testen be-
reits mehrere Hyperschallwaffen. „Es ist
so etwas wie ein Rennen zum Mond“, sagt
Iain Boyd, Luft- und Raumfahrtingenieur
an der University of Colorado in Boulder.
„Es geht um den Nationalstolz.“
Dieses neue Wettrüsten bringt die bishe-
rigen strategischen Kalkulationen durch-
einander. So denkt Russland bereits über
Hyperschall-Fluggeräte nach, die Interkon-
tinentalraketen abwehren können. Das ge-
fährdet die nukleare Abschreckung.
Im Gegensatz dazu sieht Chinas Militär
Hyperschallwaffen als eine Chance, einem
besser bewaffneten Feind die Stirn zu bie-
ten, sagt Larry Wortzel, Senior Fellow beim
American Foreign Policy Council. Wenn
sich beispielsweise die Spannungen über
dem Südchinesischen Meer verschärfen
würden, könnte China versucht sein, die
US-Streitkräfte im Pazifik mit konventio-
nellen Hyperschallwaffen lahmzulegen.

Derzeit kann bei Überschall noch nicht
gefeuert werden, weil die Waffen kaum ma-
növrieren können. Doch das könnte sich än-
dern, warnt Shari Feth, Materialingenieu-
rin bei der US-amerikanischen Missile De-
fense Agency (MDA).
Die USA haben schon früh versucht, den
Hyperschallflug zu meistern. Bereits 1949
erreichte eine zweistufige Rakete im Pro-
jekt Bumper eine Geschwindigkeit über
Mach 5. Doch nach einer Reihe von Fehl-
starts gab man auf. „In diesem Bereich
darf man sich keinen einzigen Fehler erlau-
ben“, sagt Lewis. „Sie fliegen unter außer-
gewöhnlichen Bedingungen“ – Geschwin-
digkeiten, Kräfte und Temperaturen sind
extrem.
Geschwindigkeit und Konturen beein-
flussen die Hitzeentwicklung an der Au-
ßenhülle des Flugobjektes. Als ein Space
Shuttle bei Mach 25 auf die obere Atmo-
sphäre traf, erhitzten sich seine stumpfen
Vorderkanten auf 1400 Grad Celsius. Neue-
re Hyperschallfahrzeuge haben schärfere
Kanten, unter anderem, um die Manövrier-
fähigkeit zu verbessern. Sie führen aber zu
Temperaturen, die 2000 Grad Celsius über-
schreiten können.

Turbulenzen können alles noch schlim-
mer machen. Bei Überschallgeschwindig-
keit verdickt sich die Luftschicht um das
Fluggerät, die zuvor glatte Strömung kann
plötzlich in Wirbel zerfallen, die Tempera-
turspitzen verursachen. „Wir haben viel
Grundlagenforschung betrieben, um her-
auszufinden, wann dies geschieht“, sagt
Lewis. Das Überleben eines Fahrzeugs er-
fordert elastische Superlegierungen und
Ultrahochtemperatur-Keramik und viel-
leicht auch neuartige Kühlmittel. Beispiels-
weise hat ein Team des US Naval Research
Laboratory ein flüssiges Natriumsystem
entwickelt, das durch kontinuierliches Ver-
dampfen und Kondensieren Wärme von ei-
ner Vorderkante ableitet.
Hohe Luftgeschwindigkeiten stellen
auch Triebwerke von Hyperschall-Marsch-
flugköpern (HCMs) vor Herausforderun-
gen, die über eigene Antriebe verfügen.
HCMs beschleunigen mithilfe eines so-
genannten Überschallverbrennungs-Ram-
jet. „Es ist der einfachste Strahltriebwerks-
typ, den man sich vorstellen kann, nur ein
offenes Rohr“, in dem sich Luft mit Kraft-
stoff vermischt, sagt Lewis. „Es ist aber
auch ein sehr komplizierter Typ, weil er
unter extremen Bedingungen betrieben
wird.“
Bei Überschallgeschwindigkeit verbrin-
gen Luftmoleküle nur Millisekunden im
Motorrohr – kaum Zeit fürs Mischen von
Luft und Kraftstoff. Und wenn sich ein
Fahrzeug neigt und dreht, ändert sich der
Luftstrom im Motor, was zu ungleichmäßi-
ger Verbrennung und Störungen im Schub
führen kann. „Alles ist in unglaublicher
Weise miteinander gekoppelt“, sagt Lewis.
Die USA brauchten 46 Jahre, um ihren ers-
ten funktionierenden Scramjet zu realisie-
ren: den 230 Millionen US-Dollar teuren
X-43ader Nasa, ein unbemanntes Flug-
zeug, das 2004 zum ersten Mal flog.
HGVs stehen vor anderen Herausforde-
rungen. Die Rakete, die den Gleiter trägt,
erreicht weitaus höhere Geschwindigkei-
ten, die Materialien müssen noch hitzebe-
ständiger sein. Allerdings sind HGVs leich-
ter zu manövrieren, da sie nicht auf einen
empfindlichen Scramjet angewiesen sind.

So richtig gut aufgestellt sind die USA
noch nicht. Nach jahrzehntelangem Her-
umprobieren hat sich der Vorsprung der
US-Hyperschall-Forschung weitgehend
aufgelöst, Windkanäle und andere Test-
infrastrukturen sind veraltet. „Heute sind
wir weiter vom Routine-Scramjet-Flug
entfernt als vor zehn Jahren“, sagt Lewis.
Von einer Basis im Ural aus starteten die
russischen Streitkräfte am 26. Dezember
2018 eine ballistische Rakete mit einem
HGV namensAvangard. Nach der Tren-
nung von seinem Träger in der Stratosphä-
re flog das HGV mit einer Geschwindigkeit
von Mach 27 etwa 6000 Kilometer im Zick-
zackkurs über Sibirien und schlug dann
auf der Halbinsel Kamtschatka in einem
Ziel ein. Der russischer Präsident Wladimir
Putin sprach damals strahlend von „dem
perfekten Neujahrsgeschenk für das
Land“. Das russische Verteidigungsministe-
rium gab vergangenen Monat bekannt,
dass es den nuklear bewaffneten HGV in
Kampfbereitschaft versetzt habe. Russ-
land ist nun womöglich das erste mit Hyper-
schallwaffen ausgerüstete Land der Welt.
Russische Prahlereien und chinesische
Fortschritte haben die Vereinigten Staaten
alarmiert. Der Kongress wird in diesem
Jahr mehr als eine Milliarde US-Dollar in
die militärische Hyperschallforschung in-
vestieren und hat einen neuen Forschungs-
verbund gegründet. „Unsere Arbeit am Hy-
perschall hat wirklich Fahrt aufgenom-
men“, sagt Jonathan Poggie, Luft- und
Raumfahrtingenieur in Purdue. Sein Team
modelliert niederfrequente Stoßwellen,
„die wie ein Hammer auf ein Fahrzeug
schlagen“.
Wegen der steigenden militärischen Be-
deutung erwägt das Pentagon, die Hyper-
schall-Grundlagenforschung unter Ge-
heimhaltung zu stellen. Das Verteidigungs-
ministerium „befürchtet, dass unsere Fein-
de von uns lernen“, sagt Poggie. „Gerade
werden die roten Linien gezogen“, fügt
Boyd hinzu. „Wenn wir die Geheimhaltung
übertreiben, kann das unsere Innovations-
kraft beeinträchtigen“, warnt er.
Auch in Russland liegt ein Schleier der
Geheimhaltung über der Hyperschallfor-
schung. Erst vor Kurzem beschuldigten Si-
cherheitsbeamte russische Wissenschaft-
ler des Verrats, sie hätten ihre Erkenntnis-
se mit europäischen Mitarbeitern ausge-
tauscht. Dabei waren die Daten publiziert,
aber fünf Jahre später wieder für geheim
erklärt worden.

Im Gegensatz zu Russland zeigt sich Chi-
na überraschend offen. „Die Chinesen ver-
suchen, Eindruck auf diesem Gebiet zu
machen“, sagt Lewis. Die Volksrepublik
hat stark in neue Forschungseinrichtun-
gen investiert, darunter hochentwickelte
Windkanäle und sogenannte Stoßrohre,
die Druckwellen verwenden, um Hyper-
schallströmungen zu untersuchen. „Noch
vor zehn Jahren haben sie nur kopiert, was
andere gemacht hatten“, sagt Boyd. „Jetzt
veröffentlichen sie innovative Ideen.“ Auf
einer Hyperschallkonferenz 2017 in Xia-
men präsentierten chinesische Wissen-
schaftler mehr als 250 Artikel – etwa zehn-
mal so viele wie von US-amerikanischen
Forschern. „Da finden sich Studien, von de-
nen man nicht erwartet hätte, dass sie frei
publiziert werden“, sagt Poggie.
Andere Länder rennen den drei führen-
den Nationen hinterher – oder schließen

sich mit ihnen zusammen. Australien ar-
beitet mit den USA an einem Mach-8-Hy-
perschall-Gleitfluggerät (HGV), Indien
entwickelt mit Russland einen Mach-7-Hy-
perschall-Marschflugköper. (HCM). Frank-
reich beabsichtigt, bis 2022 ebenfalls ein
HCM zu starten, und Japan strebt bis 2026
einen HGV an.
Die USA können sich derzeit gegen sol-
che Waffen kaum schützen, auch weil sich
diese kaum verfolgen lassen. US-Militärsa-
telliten detektieren zuverlässig jeden Start
von Interkontinentalraketen und Marsch-
flugkörpern. Aber sie würden wahrschein-
lich eine raketenverstärkte Hyperschall-
waffe aus den Augen verlieren, sobald sie
sich von ihrer Trägerrakete gelöst hat.

Um dieses Problem zu beheben, plant
das Pentagon den Start von Hunderten
kleiner Satelliten mit Sensoren, die auch
schwächere Wärmequellen verfolgen kön-
nen. Sie hätten außerdem einen weiteren
Vorteil: Mit ihnen ließen sich die eigenen
Hyperschallwaffen kontrollieren.
Bis 2030 könnte das gesamte Netzwerk
in Betrieb sein. Dann „können wir einen
Weg finden, die Abfangjäger zu bauen“,
sagt Karako. Gegenwärtige Abfangjäger
für Interkontinentalraketen sind
nicht wendig genug, um ein auswei-
chendes Ziel zu treffen. Die Missile Defen-
se Agency (MDA) verfolgt deshalb verschie-
dene Ansätze, wie Abfangjäger Hyper-
schall-Angreifer ausschalten könnten. Ei-
ne Möglichkeit, sagt Ingenieurin Shari
Feth, bestünde darin, schneller zu fliegen


  • eine große Herausforderung, die neue
    leichte, hitzebeständige Verbundwerkstof-
    fe und Legierungen erfordern würde.
    Abfangjäger könnten ein Hyperschall-
    fahrzeug entweder durch Kollision oder
    durch Detonation eines Sprengkopfs in
    der Nähe zerstören. Die MDA experimen-
    tiert jedoch auch mit gerichteter Energie,
    also etwa mit Laserstrahlen, Mikrowellen
    oder Radiowellen. Das erinnert an den in
    den 1980er-Jahren geplante, aber nie reali-
    sierten US-amerikanische Raketenabwehr-
    schild „Star Wars“. Vier Jahrzehnte später
    scheint ein solches System wieder machba-
    rer. Dennoch hat die MDA kürzlich Pläne
    für einen atmosphärischen 500-Kilowatt-
    Laser verworfen.
    Während die Ingenieure nach techni-
    schen Wegen suchen, um einem Hyper-
    schallangriff zu begegnen, diskutieren Di-
    plomaten und Rüstungsexperten, ob die
    neuen disruptiven Technologien nicht bes-
    ser eingeschränkt oder sogar verboten wer-
    den sollten. „Hyperschallwaffen bieten
    sich zur Rüstungskontrolle geradezu an“,
    argumentiert Ankit Panda, Senior Fellow
    beim Thinktank Federation of American
    Scientists. Auch das UN-Büro für Abrüs-
    tungsfragen kritisierte das „engstirnige
    Streben nach einer neuartigen Technolo-
    gie mit unklarem militärischen Nutzen“.
    Rüstungskontrollverträge sind derzeit
    jedoch nicht besonders beliebt. Und da Chi-
    na, Russland und die USA sich gegenseitig
    mit einem hochkarätigen Test nach dem
    anderen hochpushen, wird sich das Hyper-
    schall-Wettrüsten wahrscheinlich sogar
    noch beschleunigen.


Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsma-
gazinScienceerschienen, herausgegeben von der
AAAS. Deutsche Bearbeitung: cwb. Weitere Infor-
mationen: http://www.aaas.org.

W


ährend das Hyperschall-Wettrüs-
ten eskaliert, bröckeln internatio-
nale Kooperationen – manchmal
mit schwerwiegenden Konsequenzen für
Forscher. Vor fast zehn Jahren arbeitete et-
wa der russische Raumfahrtingenieur Vik-
tor Kudrjawzew an Transhyberian, einem
Hyperschallprojekt, das größtenteils die
Europäische Union finanzierte. Im Som-
mer 2018 verhaftete ihn der russische Ge-
heimdienst (FSB); einige Monate später
auch einen seiner Kollegen, den Physiker
Roman Kowaljow. Beide wurden wegen
Hochverrats angeklagt, weil sie angeblich
Geheimnisse an „ein Nato-Forschungszen-
trum“ weitergegeben haben sollen. Wer-
den sie für schuldig befunden, drohen ih-
nen jeweils bis zu 20 Jahre Gefängnis.
Die Entscheidung des FSB, die Arbeit als
geheim einzustufen, kam fünf Jahre nach
dem Ende des EU-Projekts. Diese Entschei-
dung erhöhe die Verwundbarkeit jener rus-
sischer Wissenschaftler, die in Bereichen
arbeiten, die möglicherweise militärische
Anwendungen haben, sagt Boris Altshuler,
theoretischer Physiker und Menschen-
rechtsaktivist am Lebedew-Institut in Mos-
kau.
Das im Juni 2011 gestartete zweijährige
Projekt sollte untersuchen, wie feindliche
Raumschiffe wieder in die Erdatmosphäre
gelangen. Bei Überschallgeschwindigkeit
kann der laminare Luftstrom an einer
Oberfläche plötzlich turbulent werden und
an den Flugzeugen extreme Temperatur-
spitzen verursachen. Ein Forscherteam un-
tersuchte diese Wärmeschwankungen im
Windkanal und in Computersimulationen,
unter anderem am Deutschen Zentrum für
Luft- und Raumfahrt sowie in drei russi-
schen Laboren. Darunter ist auch das Zen-
tralforschungsinstitut für Maschinenbau
(Tsniimash) in Koroljow, an dem beide nun
verhafteten Wissenschaftler einst arbeite-
ten. Die Forschung zeigte, dass ein lokales
Erwärmen oder Abkühlen der Oberfläche
dazu beitragen kann, die Temperaturspit-
zen zu kontrollieren – ein Ergebnis, das
das Design von Hyperschallflugzeugen ver-
bessern könnte.

Als Projektkoordinator für Tsniimash
übermittelte Kudrjawzew Forschungser-
gebnisse an die ausländischen Partner. Die
Berichte wurden vom Militär genehmigt,
sagt Kudrjawzew Anwalt Iwan Pawlow, ein
bekannter Menschenrechtsanwalt.
Das Projekt zielte darauf ab, die Zusam-
menarbeit zwischen Russland und der EU
in der Erforschung des Hyperschall zu stär-
ken, sag Herman Deconinck vom belgi-
schen Von-Karman-Institut für Strö-
mungsmechanik, das für die Koordination
des Projekts zuständig war. Aber die
Freundschaft bekam Risse, als die EU im
Jahr 2014 Russlands Annexion der Krim
verurteilte. Die Beziehungen kühlten 2018
weiter ab, als Analysten aus Europa russi-
sche Jubelmeldungen zu Hyperschallwaf-
fen eher skeptisch sahen und Testfehler an-
merkten. Russland stufte daraufhin einen
Großteil seiner Hyperschallforschung als
geheim ein; Kudryavtsev wurde in das Mos-
kauer Lefortowo-Gefängnis gebracht.
Im November 2018 verweigerten ihm
die Behörden schließlich Gefängnisbesu-
che, nachdem er einen Deal der Staatsan-
waltschaft abgelehnt hatte, bei dem er sich
schuldig bekennen sollte, sagt Pawlow. Der
Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte schaltete sich im April 2019 in die
Angelegenheit ein und wies Russland an,
dem erkrankten Kudrjawzew medizini-
sche Versorgung zukommen zu lassen. Er
wurde am 27. September 2019 nach der Dia-
gnose eines metastasierten Lungenkreb-
ses aus dem Gefängnis entlassen, sagt sein
Sohn Jaroslaw Kudrjawzew, ein Polymer-
wissenschaftler. „Geistig ist Viktor stark
genug, um nicht mit den Ermittlern zusam-
menzuarbeiten.“
Nachdem es dem Geheimdienst tatsäch-
lich nicht gelang, ein Geständnis aus Ku-
drjawzew herauszuquetschen, verhaftete
der FSB den Physiker Roman Kowaljow. Be-
richten zufolge soll auch er sich geweigert
haben, ein Geständnis abzulegen. Im Juli
2019 verhaftete der Geheimdienst schließ-
lich einen dritten Tsniimash-Wissen-
schaftler, Sergeij Meschtscherjakow. Auch
er wird des Hochverrats beschuldigt. Bei
seiner Festnahme erlitt er einen Herzin-
farkt. Die Behörden haben sich noch nicht
zu der Frage geäußert, wann die drei For-
scher vor Gericht gestellt werden.
Am 29. Oktober 2019 erklärte das Von-
Karman-Institut schließlich, dass man kei-
nen Hinweis gefunden habe, wonach das
Team von Kudrjawzew geheime Informati-
onen preisgegeben habe. Sie forderte die
Europäische Kommission auf, die Angele-
genheit mit Russland nicht aus den Augen
zu verlieren. richard stone

Wettrüsten


am Himmel


Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit forschen


die USA, China und Russland an neuartigen Hyperschall-Waffen,


die das Konzept der nuklearen Abschreckung infrage stellen.


Doch die technischen Hürden sind enorm


von richard stone


Verrat oder


Kooperation?


Russischer Geheimdienst
inhaftiert Hyperschall-Ingenieure

Gegen die neuartigen Waffen
können sich derzeit selbst die USA
noch nicht schützen

Die Ingenieure experimentieren
auch mit gerichteter Energie –
mit Lasern und Mikrowellen

Der russische Luft- und
RaumfahrtingenieurVik-
tor Kudrjawzewforschte
einst an Hyperschallpro-
jekten, an denen auch die
EU finanziell beteiligt war.
Der 75-Jährige saß ohne
Gerichtsverfahren wegen
angeblichen Verrats im
Gefängnis.FOTO: IMAGO

Das Hyperschall-Gleitfluggerät
flog mit Mach 27 rund 6000
Kilometer bis nach Kamtschatka

32/33 WISSEN Samstag/Sonntag, 21./22. März 2020, Nr. 68 DEFGH


Project Bumper 1949: die erste Hyperschall-Rakete der USAFOTO: NASA


Das X-43A-Experimentalflugzeug der NasaFOTO: DDP IMAGES/DAPD


Das chinesische Militär präsentiert Dongfeng-17-Raketen.FOTO: IMAGO IMAGES/XINHUA


Kinzhal-Rakete am Rumpf eines russischen Mig-JägersFOTO: IMAGO/ZUMA PRESS

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