Berliner Zeitung - 21.03.2020

(Rick Simeone) #1
Berliner Zeitung·Nummer 69·21./22. März 2020–Seite 10
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Sport


H


igashimatsushima, ein
Buchstabensalat, so
kompliziertwie die
ganzeAngelegenheitmit
den OlympischenSpielen. Mitihrer
Vorbereitung, ihrerBedeutung für
Athleten,Sportverbände,Wirtschaft,
das InternationaleOlympischeKo-
mitee (IOC), dieSportartikelindust-
rie,auchfürJapan,daszuletztdurch
Taifun, Mehrwertsteuererhöhung
undCoronavirusgebeutelteLand.
InHi gashimatsushimaistamFrei-
tag das olympischeFeuer aus Grie-
chenland in einemFlugzeug derJa-
panAirlinesgelandet,aufeinerMili-
tärbase,diezuvor vonArbeiternher-
ausgeputzt wurde.Einige vonihnen
trugen dabeiMundschutz, andere
nicht.So,wiemanchedaranglauben,
dass in diesemSommer Olympische
Spiele in Tokio stattfinden, andere
nicht.TatsächlichwirdderDruckvon
unten, vonden Athleten, Trainerin
und Sportverbänden auf dasInter-
nationale Olympische Komitee
(IOC)größer,jel ängerdieCoronavi-
rus-Pandemie andauert: Immer
mehr Sportler forderndieVerschie-
bung derSommerspiele,die am 24.
Juliin Japanbeginnensollen.
AmDonnerstagtwitterteAndreas
Toba, der heldenhafteTurner von
Rio,derseindeutschesTeamdamals
verletzt ins olympische Mann-


schaftsfinale rettete: „Liebes IOC,
bitte erlöst dieweltweite Sportge-
meinschaftvomDruck,allesfürden
Traumzugeben,auchwennesinder
aktuellenSituation unmöglich ist.“
Er forderte ,die Spiele zu verschie-
ben, bis zu einemZeitpunkt, „an
dem dieOlympischenWertewieder
ausnahmslos gelebt werden kön-
nen.“Para-LeichtathletNikoKappel
sieht für dieParalympics dieselben
Probleme.International wächst die
Athletenkritik:Diebritische Sieben-
kampf-WeltmeisterinKatarine John-
son-Thompson etwa beklagte,dass
das IOC dieAthleten einerseits auf-
forder e, sich weiter vorzubereiten,
dass andererseits überallTrainings-
stättengeschlossenundSicherheits-
maßnahmengreifenwürden.
In diesem Dilemma stecken alle
Spitzenathleten,außersiehabenam
Bauernhof der Elterneinen alten
Hühnerstall in eine Ringerhallever-
wandelt wie der dreimaligeWelt-
meisterFrank Stäbler inMusberg
oder eine Stabhochsprung-Anlage
imGartenwiederFranzose Renaud
Lavillenie.Berlins Schwimmer etwa
brachen zuletzt nach vierTagen ihr
Trainingslager in Lanzarote ab,das
17Tagedauernsollte.„Esistschwie-
rigzut rainieren,wenn man nicht
weiß, ob man diesesJahr noch ein
Zielhatodernicht“,sagtRückenspe-

zialistOleBraunschweigvonderSG
Neukölln. DieWürzburgerFreiwas-
serschwimmerreisten vorzeitig aus
derTürkeizurück,dasTrainingslag-
der der Leichtathleten in Südafrika
wurde abgesagt, dieTurner trainie-
renderzeit nirgendwo.Stützpunkte
sindgeschlossen,anderenicht.
BeidenWasserspringernsind die
ZentreninAachenundRostockzu,in
Dresden undBerlin geöffnet. „Was-
serspringer müssen javomTurm
springen“, meint derBerliner Bun-
destrainerLutz Buschkow. Am Don-
nerstagsagtederSchwimm-Weltver-
band (Fina) den fürAprilgeplanten
Weltcupin Tokioabundverlegteihn
aufJuni.DasollteninBerlindiedeut-

schen Meisterschaften stattfinden.
„EsistmomentaneineZeitmitvielen
HerausforderungenundvielenVaria-
blen. Eine strukturiertePlanung ist
nicht möglich, eine qualitativ hoch-
wertigeVorbereitungaufirgendetwas
ebenfallsnicht.Aberun terdergesell-
schaftlichenProblemflut, die wir im
Gesundheitswesen gerade haben,
trittder Sport,denwirliebenundder
unserBerufist,natürlichindenHin-
tergrund“,sagtBuschkow.
Er erlebt,w ie die Bundestrainer
sämtlicherSportarten, derzeit sein
persönliches Higashimatsushima.
EinbisschenHoffnung,einbisschen
Flamme,aber vorallem Salat: Ter-
min- undTrainingssalat.Trainings-

methodik funktioniertnirgends
mehr.Pläne und Periodisierungen
sindwertlosgeworden.
Turn-BundestrainerinUlla Koch
sagt: „DieFeinmotorik leidet,wenn
mansolangenichtamGerätist. Die
Sportler können derzeit nur mental
trainieren, ihreÜbungen durchge-
hen.Daskennenvielevonihnenaus
Verletzungspausen. Ihnen stehen
unserePsychologenzurVerfügung.“
Siekann Tobas Bitteauf Verschie-
bungderSpielegut verstehen.
In Nordrhein- Westfa len hat der
Leichtathletik-Verband Nordrhein
eine Petition für eineVerschiebung
der Olympischen und Paralympi-
schenSpiele2020angeschobenund
ineinenentsprechendenBriefandie
Landesfachverbände um Rückmel-
dunggebeten.DieInitiatorenwollen
damit nachdrücklich an ihren Lan-
dessportbundappellieren,überden
DeutschenOlympischenSportbund
(DOSB) auf eineVerschiebung der
Olympischen Sommerspiele sowie
der ParalympischenSpiele auf 2021
oder2022hinzuwirken.
DerDOSBhatteamDonnerstag-
nachmittag entschieden, in Kien-
baum vorden TorenBerlins kein
„Quarantäne-Trainingslager“fürdie
Olympiakadereinzurichten,daeine
Ansteckungsgefahr mit demCoro-
navirus nicht auszuschließen sei.

Unterdessen wehrtIOC-Präsident
Thomas Bach trotz wachsenden
DrucksundKritikweiterjeglicheArt
vonSpekulationen über eineVerle-
gung derSommerspiele ab.Ind er
NewYorkTimes sagte er:„Natürlich
bedenken wirverschiedene Szena-
rien,aberimGegensatzzuvielenan-
deren SportverbändenoderProfi-Li-
gen sind wir noch viereinhalbMo-
nateentferntvondenSpielen.“
In Hi gashimatsushima durften
die200Schüler,dieursprünglichden
StartdesFackellaufsdurchJapanbe-
klatschen sollten,wegen derVirus-
gefahr nicht anreisen. Wasdiese
Krisesoeinzigartigundsoschwerzu
überwinden mache,sei die Unsi-
cherheit,ließBachwissen.„Deshalb
wäreesink einerWeise verantwort-
lich, jetzt ein Datum festzulegen
oder eineEntscheidung zu treffen,
dieaufderSpekulationüberdiezu-
künftigenEntwicklungenberuht.“
Wobei es auch in seinenReihen
andereMeinungen gibt:Nach IOC-
Mitglied Hayley Wickenheiser for-
derte auch die frühereJudoka Kaori
YamaguchiausdemVorstanddesja-
panischenOlympiakomiteesdieVer-
legung derSpiele.Sie fragte: „Wer
freut sich auf dieSpiele,wenndie
MenschenaufderganzenWeltnicht
maldemnormalenAlltagnachgehen
können?“

Letzte Handgriffe, um das olympischeFeuer in Japan zu empfangen und denFackellauf durchs Land zu starten. Aber finden die Spiele wirklich im Sommer statt? XXXXXX


APPELL VON SPORTSENATOR GEISEL

Mut:Sportsenator Andreas
Geisel hat den Berliner
Sportvereinen in der Corona-
virus-Krise Mut zugespro-
chen: „Ich bin mir sicher,
dass wirgemeinsam mitgro-
ßer Solidarität den Berliner
Sportdurch diese schwierige
Zeit bringenwerden.“

Mitglieder:Er riefVereins-
mitglieder auf, ihrem Klub in
der schwierigen Phase treu
zu bleiben. „Mitgliedsaust-
ritte würden die Situation
nochverschlimmern“, sagte
er.Derzeit ist Sportauf öf-
fentlichen und privaten
Sportstätten untersagt.

Monetär:Ebenso in Bädern
und Fitnessstudios. Sport-
veranstalter und ihre Dienst-
leisterverzeichnen „durch
dieAbsagevonVeranstaltun-
genenorme wirtschaftliche
Einnahmeausfälle bis hin zur
Bedrohung ihrer wirtschaftli-
chen Existenz“, sagte Geisel.

DieFedernstehenstill


DerBerlinerSprinterAliLacinträumtnochvondenParalympischenSpielen.DochdieVorbereitungerschwertsichaufgrundderCoronakrisebeinahetäglich


VonChristian Kattner

A


nfangdesJahresschiendieWelt
nochinOrdnungzusein.InSüd-
afrikagenossAliLacinnichtnurdas
schöneWetter,sondernbereitete
sichim TrainingslageraufdieParaly-
mpischenSpielevor.Essollen,inder
fürihnwichtigstenSaisonseinesLe-
bens,dieerstenSpieleinderKarriere
des Para-Sprinters ausBerlin sein.
Doch in seinenWorten schwingt in
diesen Tagen auch einwenig Unsi-
cherheit mit.Gerade wurde ervon
seinem Arbeitgeber insHomeoffice
geschickt,hatnochschnelldenEin-
kauf erledigt, um in den kommen-
den Tagen nicht öfter als nötig aus
demHauszumüssen.
Sein Traum vonder erstenTeil-
nahmeandenParalympischenSpie-
len lebt dennoch, sie sind bislang
nichtabgesagtoderverschoben. Al-
leinseinMenschenverstandunddie
Beobachtungen der Geschehnisse


aufder WeltsagenLacinetwasande-
res:„Aktuell hoffe ich, dass man die
Spieleverschiebt.“
Wiesoz iemlich alleSportler der
HauptstadtkannauchLacinderzeit
nur eingeschränkt trainieren. Die
Fitnessstudios haben geschlossen,
sein EMS-Studio,inwelchem durch
elektrischeMuskelstimulation bes-
sereTrainingsergebnisseerzieltwer-
den, ist nicht geöffnet und auch die
TürendesLandesleistungszentrums
auf demOlympiagelände sind auf-
grund derCoronakrise geschlossen.
„Ich mache derzeit in derWohnung
etwas und habe auch einenPerso-
naltrainer,der ein Mini-Fitnessstu-
diohat,wowirzweimalinderWoche
Eins-zu-Eins-Training machen“, er-
zählt der beidseitig oberschenkel-
amputierteSprinter.Und doch ist
das alles andereals ideal.Auch die
Sondergenehmigung, die er,genau
wie die anderen Leichtathleten, die
für die OlympischenSpiele trainie-

fangAprilhätteesinsTrainingslager
nachBelekgehensollen.„DieTürkei
hat aber einEinreiseverbot ausge-
sprochen.Dasmachteinenriesigen
Strich durch unsereVorbereitungs-
phase“,sagter.Undes verursachtfi-
nanzielleProbleme.„Für Belek hat-
ten wir keineReiserückt-
rittsversicherung abge-
schlossen,weil wir davon
ausgegangen sind, dass
nichts passiert.Daswar
einfixer Termin“,soLacin,
„jetztsindalleFlügegestri-
chen, dieBuchungen im
Hotel sind hinfällig.Das
ganzeSystemistdavonbe-
troffen. ManhatdieAngst,
dasswenndie Coronakrise
überwundenist,nichtsmehrsosein
wirdwievorher.“
DochvondendüsterenZukunfts-
prognosenlässtsichLacinnichtun-
terkriegen.In seinem Leben hat er
schonvieleRückschlägegemeistert:

ren,für EinheitenimSportforumer-
halten hat, kann nicht das ersetzen,
was ein Leistungssportler benötigt.
„StändignurinderHallezusein,wo
manals200-Meter-SprinterdenKur-
venlaufnichtrichtigtrainierenkann,
istnichtperfekt“,sagtLacin.
Zudem bekommt der
Gedanke,dassdie Spielein
Tokio verschobenwerden,
durch die Verschiebung
der Fußball-Europameis-
terschaft,eingestellteoder
abgesagteSpielbetriebe in
anderenSportartenindie-
sen Tagen immer neue
Nahrung. EinTraining
ohne einZiel, auf welches
man sichvorbereitet, wird
niemals zu 100Proz ent absolviert,
schongarnicht,wenndie Trainings-
möglichkeiten praktisch nicht mehr
existent sind.Noch Ende Februar
hatte Ali Lacin imBundesleistungs-
zentrum inKienbaum trainiert, An-

„Ich will mich jetzt nicht zurückzie-
hen, nur warten und meineFitness
verlieren, ich muss etwas tun.Ich
möchteinmeineFedernreinschlüp-
fen und ein paarSprints machen.“
Davo nträumen auch seineKontra-
henten.Genauwieerhabenauchsie
Probleme mit derVorbereitung, je-
dersuchtnachTrainingsmöglichkei-
tenoderneuenIdeenzur Trainings-
gestaltung.
Doch selbstwenn es dafürzeit-
nahLösungengebensollte,istesnur
eineFrageder Zeit,bisdienächsten
Problemeauftauchen.ImMaisollen
lautTerminplaninderSchweizund
in Pariswichtige Wettkämpfe statt-
finden. Dochwelche Folgen haben
sehr wahrscheinlicheAbsagen die-
ser Veranstaltungen und ein mögli-
cher Ausfall der Europameister-
schaft inPolen? „Damit fallen alle
Wettkämpfe inVorbereitung aufTo-
kio wegund direkt dortden ersten
Wettkampf zu haben, macht keinen

Sinn“,sagtLacin,„wirbrauchenvor-
herWettkämpfe,umd as Feeling zu
bekommenundeinschätzenzukön-
nen,wowirstehen.“
Doch der Bronzemedaillenge-
winner derWeltmeisterschaftvon
2019 will sich nicht entmutigen las-
sen.Als Einzelsportlerhaterimmer-
hin den großenVorteil gegenüber
VereinsteamswieHerthaBSC Berlin:
Musste beim Fußball-Bundesligis-
ten nach einemPositivtes tauf das
Coronavirus amDienstag erst ein-
mal die kompletteMannschaft in
Quarantäne,kann er unabhängig
trainieren.AmMittwochwurdesein
Antrag für dieSondergenehmigung
des Trainings imSportforum bestä-
tigt. Damit kehrtzumindest etwas
Normalität in seinenTrainingsalltag
zurück,dergroßeTraumvondenPa-
ralympischen Spielen lebt weiter.
Auch wenn die Aussichten auf eine
Ausrichtung ganz anderesind als
nochzu BeginndesJahres.

Ausgebremst:
Ali Lacin

PRIVAT

MehrSalatalsFlamme


WährenddasolympischeFeuerinJapanlandet,wächstderRufderAthletennacheinerVerschiebungderSommerspiele


VonKarin Bühler

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