Berliner Zeitung - 21.03.2020

(Rick Simeone) #1
Berliner Zeitung·Nummer 69·21./22. März 2020–Seite 16
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Feuilleton


Der Schreckenwarimmer präsent. Eine Szene aus der „Lindenstraße“ mit Helga (Marie-Luise Marjan), Hans Beimer (Joachim H. Luger,l.), BennyBeimer (Christian Kahrmann, hinten) und Erich Schiller (Bill Mockridge) WDR/ARD


Deutschland


ist


entrüstet


D


erTagbeginntnichtgutfürElse
Kling. DieLektüredes Horo-
skops verheißt Unbill, und prompt
meldetsichdieGewerbeaufsichtbei
der bärbeißigenHausmeisterin der
Lindenstraßean.
EtwasspäterundeinpaarStock-
werk ehöher kommen sich derver-
klemmte ArztsohnCarsten Flöter
und der halbseidene Schriftsteller
RobertEngelnäher.Nichtallzunah,
einharmloserKuss,derder Auftakt
zu einerrauschendenNacht sein
könnte,wirdjähvomKlingelneines
TelefonsmitWählscheibeunterbro-
chen. Doch die Szene führtzue i-
nem frühenShitstorm–Deutsch-
land ist entrüstet, sich küssende
Männer im telemedialen Main-
streamhatteessonochnichtgege-
ben. DieReaktionen auf die Zärt-
lichkeit waren martialisch. Es gab
Bombendrohungen gegen dasPro-
duktionsteamundMorddrohungen
gegenGeorgUecker,denDarsteller
desfrischgeoutetenCarsten.
AuchmeinComing-outwarnoch
nichtallzulangeher.„DerKuss“,den


ich mit meinenElternimh eimi-
schen Wohnzimmer sah, sorgte
trotzdem oder deswegen für eine
seltsameStimmung.Auchichfühlte
mich unwohl beimBetrachten des
Kusses zwischen den beiden Män-
nern. Sowollteichnichtsein,dachte
ichdamals.Irgendwietrutschigund
miteinemdauerleidendenGesichts-
ausdruck erschien mirCarsten Flö-
ter als Objekt derBegierde absolut
indiskutabel.
Heute bin ich froh, dass dieMa-
cher und Schauspieler der Linden-

Der Kuss straßesichnichtabschreckenließen
vonDrohungen, sondernsich im-
mer aktuellen Themen annahmen.
So auch des schweren DoppelsHo-
mosexualitätundAids,zweiThemen
also,die in der damaligenZeit un-
trennbarwaren.Zumeinenlagnach
dem Fall der Mauer ein Gefühl der
Freiheit in derLuft, das sicherlich
auch den Schwulen zu gutekam.
Zumanderenwarendaimmernoch
MenschenwiederheutefastinVer-
gessenheit geratene CSU-Wüterich
Peter Gauweiler ,der für Bayern La-
gerfürAids-Krankeforderte.Daswar
1990,undfürdieEmanzipation,zu-
mindest der deutschen Schwulen
und Lesben, ist diese anrührend
harmloseSzeneinFolge224nichtoft
genugalsbedeutsamzubetonen.
Viel hat sich getan seitdem, je-
denfallsfürdieMinderheiten.Obes
wiederStimmengebenwird,dieeine
Virenpandemie für ihrepolitisch
verwerflichenZweckezuinstrumen-
talisierenversuchen,werdenwirlei-
der in wohl nicht allzu fernerZu-
kunfterfahren.

VonMarcusWeingärtner

ElseKling


unddie


Todeszone


D


asTreppenhausistinderFilm-
geschichtedurchauseinbeleb-
ter Ort.Hier wir dgeküsst und ge-
kämpft, getanzt und gestürzt. Doch
zumeist spielt derGebäudeteil, der
ja eigentlich nur dazu dient, die
Stockwerke einesHauses fußläufig
miteinander zuverbinden, drama-
turgisch eine eher nachgeordnete
Rolle.Zud enwenigenBeispielenfür
seine handlungstragendeRolle ge-
hörtdieberühmteTiefenschwindel-
szene aus AlfredHitchcocks „Ver-
tigo“ oder dasTreppen-Kung-Fuin
„The Grandmaster“vonWong Kar-
Wai. Gerade in Martial-Arts-Filmen
dientdasTreppenhausdazu,diefür
dieSpannungnotwendigebedrohli-
cheEngezuer zeugensowiedieartis-
tisch wie choreographisch überra-
schendenPrügel-Moves.
Wahrscheinlich kommt Else
Klings segensreichesWirken in der
„Lindenstraße“ diesemNahkampf-
Settingamnächsten.Sie, dieimmer
nur alsHausdrachen mehr hinge-
nommendennwertgeschätztwurde
–siewardieuneingeschränkteHerr-

scherin vorallem imTreppenhaus
derLindenstraße.Unddaeshiernur
einsolchesTreppenhausgab,wurde
es zur sozialenTodeszone der gan-
zenSiedlung: An der Kling, die so
wunderbar kantig vonAnnemarie
Wendl-Kleinschmidtgespieltwurde,
kamniemandvorbei,siemachteden
Raumbedrohlicheng.Werihrunter
dieAugentrat,musstesichaufeinen
zumeistnurverbalen,mitunteraber
auch tätlichenNahkampf einlassen
und durfte froh sein, ihn glimpflich
überstandenzuhaben.

DasTreppenhaus Zudenunvergesslichenundalso
bleibenden Verdiensten der „Lin-
denstraße“ gehörtgewiss,dasTrep-
penhausalsvollwertigenSpielortauf
diefilmischeAgendagehobenzuha-
ben. Dass es dazu eines starken,
ebendominierendenCharakterswie
Else Kling bedurfte,ist der klugen
EinsichtdesErfindersderSeifenoper
zu verdanken, desRegisseursHans
W.Geißendörfer.Ers chufeinenpan-
optischenWunsch-undSehnsuchts-
ort,denersehrspektakuläreinzuset-
zenwusste,etwa in Folge 1069, als
Else Kling stirbt.Wirsehen dieFrau
imrosaKostümmi tweißerBluseauf
ihrem Sofa in einem blitzsauberen
Wohnzimmer sitzen.EinSchal mit
buntenBlumen liegtumihreSchul-
tern,diesilbergrauenHaaresindor-
dentlich frisiert.Siehat vordem
Fernsehe rPlatzgenommen...
„Else“, ruftplötzlicheineMänner-
stimme.Else: „I s’ scho’sow eit? I’
kimm!“ Siesteht auf, geht zurWoh-
nungstür,öffnetsieundtrittinsglei-
ßende Licht desTreppenhauses,das
sieverschluckt.InsParadies.

VonChristian Schlüter

Passiertda


heutenoch


was?


Z


uBeginn einBekenntnis:Der
Suchtfaktor,mit dem Seifen-
opernkalkulieren, erverfängt bei
mir.UndzwaraufganzerLinie,total
und vollumfänglich.Seit knapp 30
Jahren stopfe ich alles in michrein,
was die Soap-Produzenten aus aller
Weltsoabliefern.
EsfingschoninfrüherJugendan:
Neben denHausarbeiten flimmer-
ten –natürlich ohneKenntnis der
werk tätigenEltern–„GeneralHospi-
tal“, „Reich und schön“ oder „Cali-
fornia Clan“ über denBildschirm.
WiedieCapwellsunddieLockridges
sichunterderSonnevonSantaBar-
barahassten, liebten, küssten und
ermordeten,daswarnebenderMa-
theaufgabe locker noch mitzuneh-
men.Undobendreinvielinteressan-
teralsAlgebra.
Später,alsdie Nachmittageander
Univerbrachtwerdenmussten,stieg
ich um auf das deutscheVorabend-
programm:„VerboteneLiebe“,„Ma-
rienhof“, „Unter uns“ oder „Gute
Zeiten, schlechte Zeiten“, überall
habeichmalreingeschautundblieb


übermindestens100Folgenhängen.
Doch ausgerechnet bei der ersten
deutschenSeifenoper,der„Linden-
straße“,bekamichnieeinenFußin
dieTür .IchhabemaleineFolgege-
sehen, in der es,someine ich mich
zu erinnern, um ein altesFamilien-
foto ging,vondem keiner wusste,
aus welchem Jahr es eigentlich
stammte.Irgendjemand wurde au-
ßerdem zu einer erneuten Schwan-
gerschaftbeglückwünscht.
Tja nun, derweil hatte Clarissa
vonAnstetten drüben bei „Verbo-

Das Tempo tene Liebe“ schonzehn neueIntri-
gen angezettelt, ihreErzfeindin
Tanja bekriegt und ihrenEx-Mann
Christoph dazu gezwungen, sie er-
neut zu heiraten, und ihn damit in
denSelbstmordgetrieben.
Ichwarfürdiedochetwasbetuli-
che,biedereWeltder„Lindenstraße“
bereits verloren. DielangsameEr-
zählgeschwindigkeitpasstenichtins
Konzept meiner Soapsucht. „Wir
sindschoneinbisschenschnellerim
ErzähltempoundimSchnittgewor-
den,aberwirversuchenimmer,den
GeschichtendenRaumunddieZeit
zu geben, die sie inhaltlich brau-
chen“,hatdie„Lindenstraßen“-Pro-
duzentin Hana Geißendörfer vor
knapp dreiJahren in einemInter-
view gesagt.Da war es für mich be-
reitszuspät:Ichmussteinzwischen
Geld verdienen und hatte kaum
noch Zeit für meineSeifenopern-
liebe.Dafür,dass ich der „Linden-
straße“ nie eine Chance gegeben
habe,möchte ich mich hiermit ent-
schuldigen–und hinzufügen: Cla-
rissavonAnstettenistschuld!

VonAnneVorbringer

Esgehtder


Lindean


dieRinde


I


neinerderletztenFolgengriffMu-
ratDagdeleninseinerkontrollier-
tenVerzweiflung zum Äußersten.Er
kettetesichaufderStraßeausgleich
zwei Gründen an.Zumeinen galt
sein Protest derVerdrängung seiner
Shisha-Bar aus der Lindenstraße,
zum anderenwehrte er sich gegen
die Abholzung einesBaumes.„Nie-
mandgehtderLindeandieRinde“,
hießesaufeinemPlakat.
Sogingesüber30Jahrelang,ak-
tuellegesellschaftlicheThemenhiel-
ten Einzug in dasSeriengeschehen,
diesozialenKonflikte,indiesemFall
dieGentrifizierungderInnenstädte,
fegten stets stürmisch durch die
handelnden Personen hindurch.
Undsoh at sich die oft als betulich
abgetane„Lindenstraße“alsäußerst
gewalttätigesQuartier erwiesen. Es
wurdegemordet,geraubtundgepö-
belt. Immer auch war das kleine
Areal im fiktiven München ein
Schauplatz individueller Selbstbe-
hauptungskämpfe.Transsexualität
spielteebensoeineRollewiesexuel-
ler Missbrauch, dieFlüchtlingskrise

und islamistischer Terrorismus.
Haupt- undNebenfiguren waren in
der „Lindenstraße“ stets auchKon-
flikttransporteure. DasGesell-
schaftsdrama, das in der Linden-
straße erzählt wurde,hörte nie auf,
unddieCharakterewarenunterBei-
behaltung gewisserStereotypen ge-
waltigenVeränderungenausgesetzt.
MutterBeimeraberwardazuver-
dammt,immerdieselbezubleiben–
eine sorgende und besorgte Küm-
merin. LudwigDressler,derdie„Lin-
denstraße“ geradezu opernhaft

DieNormalität durcheinenprogrammatischenSui-
zid verließ, assistierte ihr als sanfter
PatriarchbeiderBeibehaltungeiner
demonstrativenNormalität, in der
danach gestrebt wurde,Fernsehen
undsozialeWirklichkeitweitgehend
zur Deckun gzub ringen. Die„Lin-
denstraße“ –ein Langzeitexperi-
ment, das eigentlich nicht aufhören
konnte.
Nunsoll es aber doch passieren.
IndernächstenWocheistSchluss.Es
gehtderLindeandieRinde.ImA b-
schied üben sich die Schauspieler
und ihrRegisseur Hans W. Geißen-
dörferingekonnterSelbstreferentia-
lität. Die„Lindenstraße“ darfnicht
sterben–undtutesnatürlichdoch.
Derverantwortliche Sender WDR
hat keineForm gefunden, der eige-
nenMuseal itäteinneuesGesich tzu
geben.AmEndeisteseinböserZu-
fall, dass die seit 1985 die deutsche
Normalität beschreibendeSeriein
demMomentabgeschaltetwird,wo
derAusnahmezustandherrscht.Wir
hätten sie vielleicht noch gebrau-
chenkönnen–geradejetzt.

VonHarryNutt

Infast35JahrenhatdieFernsehserie„Lindenstraße“dendeutschenAlltagabgebildetundgeprägt.Am29.MärzistSchluss.


AnmerkungenundErinnerungenaneinStückFernsehgeschichte


Straßeder Vielfalt

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