Berliner Zeitung - 21.03.2020

(Rick Simeone) #1

Feuilleton


Berliner Zeitung·Nummer 69·21./22. März 2020 (^17) ·························································································································································································································································································
DieKunstderFuge
Zum100.GeburtstagdesfranzösischenRegisseursEricRohmer
VonGerhard Midding
E
rverstand es,das Einfache
plötzlich kompliziertwer-
den zu lassen.Beiihm ist
die Liebe einVorsatz, der
glücklich scheitert.Siebleibt nicht,
wosiewar.Sog ernseineFigurenihre
Gefühleauchkontrollierenwürden–
immer ist das Leben listiger als ihre
Strategien. Eine Verliebtheit gebiert
dienächste,stetskommtdieVerfüh-
rungderWahlindieQuere.
UnsDeutschen brachte Éric
Rohmerabden60er-JahrenmitFil-
menwie„DieSammlerin“,„Meine
NachtbeiMaud“und„Liebe am
Nachmittag“einenanderenBegriff
vonMoralbei.Siewarfürihnkein
strengessittlichesPrinzip,sondern
eineLehre,diesichleichtfüßigaus
derErzählungziehenlässt.Auchsie
bleibtnicht,wosiewar.Siezeigt
sichnichtineinemUrteil,sondern
inderAnmutderGedanken,Gesten
undWorte.
ThemenundTonlagen
Während seine Charaktereallen
Grund hatten, demPlanvollen zu
misstrauen,gehorchteRohmersKar-
riereeinemMasterplan.Erdachtein
Zyklen: Aufdie „Sechs moralischen
Erzählungen“ folgten die „Komö-
dienundSprichwörter“undschließ-
lich die „Erzählungen aus vierJah-
reszeiten“.Auch zwischendurch be-
herrschte er die Kunst der Fuge,
drehte Solitäre, in denen seinever-
trautenThemeninsachtveränderter
Tonlageanklangen.SeineGrundme-
lodie klang so:Eineher humorloser
Mann, der kurzdavor steht, eine
feste Bindung zu besiegeln, begeg-
neteinerlebhaften,selbstbewussten
Frau,dieihnsosehrbezaubert,dass
seine Entscheidung ins Wanken
kommt.DerEinbruch derSponta-
neität hebtGewissheiten auf, fun-
giertals eine heitereParenthese der
Freiheit.
Vorzehn Jahren ist er gestorben.
Mankann kaum glauben, dass das
schonsolangeherseinsoll!(Ebenso
wenig, dass er zum selbenJahrgang
wie Federico Fellini zählt!)Rohmer
gehörte noch so lang dem neuen
Jahrhundertan,ließseinWerknoch
stolz in es hineinragen.Er erfand
sichnocheinmalneu.Mit„DieLady
und derHerzog“ zeigte er sich 2001
als Pionier:Esw ar einer der ersten
Filme,diein FrankreichmiteinerDi-
gitalkameragedrehtwurden.Biszu-
letzt unterrichtete er unter seinem
GeburtsnamenMauriceSchérer.
Er wurde im südfranzösischen
Tulle geboren, hatte bereits als
Lehrer gearbeitet und 1946 unter
dem PseudonymGilbertCordier
den Roman „Elisabeth“ geschrie-
ben, bevor er 1951 als Kritiker zu
den„Cahiersducinéma“stießund
im gleichen Jahr seinen ersten
Kurzfilm drehte.Ine inem seiner
Éric Rohmer sah im KIno die letzte Zuflucht derPoesie. IMAGO IMAGES/ILSE RUPPERT
meist beachteten, mehrteiligen
(schon damals dachte er inSerie)
EssaysfeierteerdasKinoalsletzte
Zuflucht derPoesie.Seinen Kolle-
gen blieb er ein Rätsel.Stets ging
eralleininsKino.Dasser verheira-
tet war (seineFrau hieß Thérèse),
ist eines der bestgehüteten Ge-
heimnissederFilmgeschichte.
Mitseinematmosphärischmeis-
terlichen Langfilmdebüt „ImZei-
chendesLöwen“legteer1959einen
derGrundsteinederNouvelle Vague,
ja der filmischen Moderne über-
haupt.ErschufeinKinoder Evidenz,
dasvorgibt,nichtszuverbergen.Ihm
istfreilicheinBodenvonEinfühlung
undDistanzeingezogen,eineden
Figurenzu-unddannwiederabge-
wandte,stets großzügige Ironie.
SeineLiebesintrigensetzteermit
ausschweifender Schmucklosigkeit
in Szene.Dieser Stil will unsichtbar,
abernichtbloßfunktionalsein.Die-
sen wachsamen Pointillist interes-
sierteweniger,wasanäußererHand-
lungpassiert–wanngerietseit„Voll-
mondnächte“jeeineseinerFiguren
insSchwitzen?–,sondernwasinden
KöpfenderFigurenvorgeht.
ErwareinKünstlerdesWortlauts,
bestanddarauf, dass die Darsteller
denDrehbüchern(erwardereinzige
Regisseur der Nouvelle Vague,der
nie einen Co-Autor brauchte) bis
aufs Komma folgten. Jedoch kalku-
lierte er ihr Temperament ein, war
empfänglichfürihrenverschmitzten
Ernst undihregeistreichenLaunen.
Für ihn war nichts aufregender,als
ihnen zuzuschauen,wie sie die Ge-
dankenbeimRedenverfertigtenund
auchdann,wennallesgesagtschien,
nocheinGeheimnisoffenließen.
SinnfürÖkologie
Noch in hohem Alter bezeichnete
sichdieserstolzeFreischärleralsei-
nen ewigen Amateur.Seine Filme
kostetenwenig,weilermeistnurmit
achtköpfigem Team und vorzugs-
weiseauf16mmdrehte.AufSchau-
platzsucheging erselbst; wennein-
mal für eine Szene ein Duschvor-
hang fehlte,besorgte er ihn eigen-
händig im nächstenKaufhaus.Mit
den Vorbereitungenbeganner oft
schonlangeimVoraus.
DieRosen, die Béatrice Romand
und Jean-ClaudeBrialy in „Claires
Knie“pflücken,hatteereinJahrzu-
vorpflanzenlassen,damitsiepünkt-
lich zu Drehbeginnblühten.Da er
ausgiebig mit den Darstellern
probte,mussteerseltenmehralsei-
nen Take drehen. „Ihm gefiel die
Idee,dass wir nie genug Filmrollen
hatten“, schrieb seinKameramann
Nestor Almendros,„das entsprach
seinem Sinn für Ökologie.“Rohmer
bestandauchdarauf,selbstfürseine
Teams zu kochen: immer vegeta-
risch. DieKohlendioxid-Bilanz sei-
ner Produktionen muss mustergül-
tiggewesensein.
AufEisgelegt
Cannesabgesagt,Metropolitangschlossen:DieCoronakrisebeeinträchtigtimmermehrdasinternationaleKulturleben
I
nfolgederCoronakrise werdenin-
ternationalimmermehrkulturelle
Events undProjekte abgesagt oder
verschoben und kulturelleEinrich-
tungengeschlossen.
So wirddas Filmfestival von
Cannes nicht wie geplant imMai
stattfinden.DasteiltederVeranstal-
ter via Twitter mit.Eigentlich sollte
die 73. Festival vonCannes vom12.
bis zum 23.Mailaufen. Es würden
nun verschiedeneOptionen geprüft
–eineseieineVerlegungindenSom-
mer.
DaskanadischeZirkusunterneh-
men Cirque duSoleil schickt fast
sämtliche Mitarbeiter in den
Zwangsurlaub.Betroffen sind 4679
Mitarbeiterunddamit95Proz ental-
ler Angestellten, wie dasUnterneh-
men mitteilte.Sämtliche 44Shows
des Cirque duSoleil weltweit sind
derzeit ausgesetzt.DasUnterneh-
menhabekeineAlternative,alsseine
sämtlichen Aktivitäten einzustellen,
bisdie PandemieunterKontrollesei
und Artisten,Mitarbeiter undZu-
schauernichtmehrinGefahrseien,
hießes weiter.
Dasaus Sorgevor einerweiteren
VerbreitungdesCoronavirusbereits
seit rund einerWoche vorüberge-
hendgeschlosseneNewYorker Met-
ropolitan Museum bereitet sich auf
eine Schließung bisJuli und einen
Verlustvonrund100MillionenDol-
lar(etwa92MillionenEuro)vor.Das
geheauseinemBriefher vor,dendie
Chefs desMuseums an dieAbtei-
Gelb kündigte an, auf seinGehalt
verzichtenzuwollen.
DiePandemiesetztnunauchden
Dreharbeiten der „Avatar“-Fortset-
zungeneinEnde.DienächsteDreh-
phaseinNeuseelandseiverschoben
worden,teilteHollywood-Produzent
JonLandaumit.IndenletztenTagen
wurden zahlreiche Film- undTV-
Produktionen aufEisgelegt. Betrof-
fen sind unter anderemGroßpro-
jektewie„TheLittleMermaid“,„The
Last Duel“, „JurassicWorld: Domi-
nion“und„TheBatman“.
Weilin Deutschlandnochimmer
gedrehtwird,wandtesichderRegis-
seur Markus Goller („25 km/h“) mit
einem Appell an die Öffentlichkeit:
„Bitte stoppt sofortalle Drehgeneh-
migungen in Deutschland! Wenn
nicht vonden Behörden sofortder
Riegel vorgeschoben wird, befinden
sichalle ProduzentInnen,diegerade
drehen, in einem absoluten morali-
schen und existentiellenDesaster.“
Drehorte ,and enen70bis100Leute
eng miteinander arbeiteten, seien
ein idealerHubund ein Fest für je-
denVirus.(BLZ, dpa, AFP)
lungsleiter geschrieben hätten, be-
richtetedieNewYorkTimes.
Dieebenfalls bereitsvorüberge-
hend geschlossene Metropolitan
Operateilte mit, dass die eigentlich
bisMitteMaiangesetzteSaisonauf-
grunddesCoronavirusnunvorzeitig
beendetwerde. EswerdeeinVerlust
vonbiszu60 MillionenDollarerwar-
tet, hieß es.GeneraldirektorPeter
Die Metropolitan Opera in NewYorkhat ihre Saison für beendet erklärt. AP/KATHY WILLENS
SONNTAGSKRIMI
VonFrank Junghänel
M
itunterbeschleichteinenbeim
„Tatort“dasGefühl,diewissen
nach fünfzig Jahren und tausend
Mordengarnichtmehr,wassienoch
erzählensollen.Diesevölligsinnlose
BerlinerVerbrecherjagdvomvorigen
Sonntag zumBeispiel, schade ums
GeldundnochvielmehrumdieZeit.
DasKontrastprogramm kommt
jetzt aus Köln. Ballauf und Schenk
werden in ein Drama hineingezo-
gen, bei dem jeder Zuschauerund
jede Zuschauerin und im schlech-
testenFallauchnochjedesKindmit-
redenkann,fallsessolangeaufblei-
bendarf.SeiesauseigenemErleben,
ausErfahrunginderFamilieoderim
Freundeskreis.„Undallehabensich
mal so geliebt“,seufzt MaxBallauf
zum Schlussbeim Feierabendbier.
Freddy Schenk antwortet: „Ich sage
dirwas,ichhabemitSusannesoein
Glückgehabt.“Diesegeheimnisvolle
Susanne,dienochniezusehenwar,
wie einst die Frau vonColombo.
AberdasnuramRande.
DerFall,mitdemsieeshierzutun
bekommen,führtdie Kommissare
zu drei Paaren, bei denen Liebe
längstinHassumgeschlagenist.Die
gemeinsamen Kinder werden als
WaffeimKampfgegendenanderen
inStellunggebracht.Esgehtdarum,
dem Feind größtmöglicheVerlet-
zungenzuzufügen,esgehtumhäus-
licheGeländegewinneundnichtzu-
letzt um Geld. Alles kulminiertin
demtoxischenBegriff„Unterhalt“.
Dieeinen fordernihn, die ande-
renwollen ihn nicht zahlen. Und
zwischendenFrontenstehtMonika
Fellner(MelanieStraub),derBullter-
riervomJugendamt,wiesiegenannt
wird.Dievielleichtetwaszuresolute
Kollegin arbeitet im Ressort„Unter-
haltsvorschusskasse“,das heißt, sie
könnte dafür sorgen, dass säumige
ZahlungenvomStaat übernommen
werden. Dassind in Deutschland
zweiMilliardenEuroproJahr,wiezu
erfahrenist.Esistüberhauptvielzu
erfahren.Werweißdennschon,dass
nurjedesvierteElternteildenfestge-
legtenBetragfürseinKindzahlt?Es
wirdgetrickst, getäuscht, betrogen.
DieOpfer auf dem postfamiliären
Kriegsschauplatzsindzunächstein-
mal die Kinder.Doch einesAbends
liegtdanndiegrimmigeFrauFellner
vomJugendamttotimRinnstein.
DerFilm vonJürgen Werner
(Buch)undNinaWolfrum(Regie)ist
vielleicht nicht originell, dafür aber
nahe an derWirklichkeit.Auch das
Leben ist nicht originell.Manliebt
sich, streitet sich, trennt sich, und
am Ende geht es nur noch um den
BesitzderKinder.Somussmanes
sagen.DieFallstudien,andenendas
Themaabgehandeltwird,sindsozial
genauaustariert. EinArchitekten-
paar,eine Sozialwissenschaftlerin
mitDachdeckerundeinPärchen,
fastKindernoch,beidemFreddy
gerneinAugezudrückenwürde.Es
ist keineFrage vonAlter,Bildung
oderStatus.Esg ehtnurumEgound
Euro.„Fick dich,Reiner“, brüllt die
ArchitektinihrenEx-Mannan.Auch
siehabensichmalsogeliebt.
Tatort: Niemals ohne michSo., 20.15 Uhr,ARD
Kampf
ums
Kind
Ballauf (Klaus J. Behrendt), Schenk (Diet-
mar Bär) und Roth (Joe Bausch,v.l.) WDR
QUARANTÄNE-TIPPS
VonClaus Löser
A
m22.Mär z1895luddieinParis
ansässige„Gesellschaft zur För-
derungdernationalenIndustrie“zu
einer geschlossenenVeranstaltung.
DieBrüder Auguste und Louis
Lumièrestelltendenvonihnenent-
wickelten fotomechanischenAppa-
ratnamens „Cinématographe“ so-
wie einen damit hergestelltenFilm
vor. „La Sortie de l’Usine Lumièreà
Lyon“(DerAusgangderLumière-Fa-
brik in Lyon) dauert45S ekunden
und zeigt genau das,was der Titel
verspricht.FrauenundMännerpas-
sieren ein sich öffnendesFabriktor
und zerstreuen sich nach links und
rechtsaufdenGehwegen.Mitdieser
knappen Minute konservierter
menschlicher Bewe gung war das
Zeitalter des Kinos geboren. Der
ZauberderfilmischenIllusionwarin
derWelt.LumièreheißtLicht.
Momentan bleiben in fast allen
Kinosälen die Leinwände dunkel.
DieheutigeKriseistaucheineKrise
des Kinos.Als vor125 Jahren der
ersteFilmentstand,setztederKapi-
talismusgeradezumweltweitenSie-
geszug an.DasKino war Teil dieser
technischenundökonomischenRe-
volution, genauso wie dieElektrizi-
tät,die Automobile,dieMassenferti-
gung. Film war zugleichErgebnis,
AusdruckundKatalysatorderbegin-
nendenGlobalisierung.Wenn nun
durch dieCoronakrise die unbän-
dige Expansion derWarenproduk-
tion gebremst wird, so muss auch
dasUnterhaltungskinoalsTeildieser
Entwicklung verstanden werden.
DieLumière-Brüder selbst hatten
ihreErfindung als „Kunst ohneZu-
kunft“beschriebenundsichwenige
Jahrenach ihrerInnovation vonihr
zurückgezogen. Auguste Lumière
soll sogar gesagt haben, dass er das
Kino lieber nicht erfunden hätte,
wenn er gewusst hätte,was daraus
werdenwürde.
Jean-Luc Godardbeschreibt in
seinem Filmessay „Histoire(s) du
Cinèma“ dasKino als eine „Sache
des neunzehntenJahrhunderts,die
im zwanzigstenJahrhundertaufge-
gangen ist“.Im ErstenWeltkrieg hat
derFilmdurchseinepropagandisti-
sche Instrumentalisierung dann
auch ganz konkret seineUnschuld
verloren. Anhand der frühen Arbei-
ten der Lumière-Brüder können
heute dieUnbefangenheit undEnt-
deckungsfreude der ersten kinema-
tografischen Phase nachvollzogen
werden. Es macht ungemeinen
Spaß, anhand dieserZeugnisse der
„SiebtenKunst“quasibeimLaufen-
lernenzuzuschauen.
DieschönsteHommageandiese
kurzeZeitderNaivitätentstand 1995
unterdemTitel„LumièreetCom-
pagnie“. 41 Filmemacher–darunter
PeterGreenawayundDavidLynch–
verbeugtensichmitkurzenfilmi-
schenSkizzenvordenErfinderndes
Cinématographen,diesganzimStil
des ausgehenden 19.Jahrhundert,
gedrehtmitnachgebautenLumière-
Kameras.
Vieleder frühen Lumière-Filmefinden sich im
Internet. Einzelne Episoden derDVD„Lumièreet
Compagnie“ sindebenfalls online abrufbar.
Lumière
heißt
Licht
Die Gebrüder Louis Jean und Auguste
Lumiére AFP

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