Berliner Zeitung - 21.03.2020

(Rick Simeone) #1

Verweile doch!


Lasst großeWorteumu ns sein!Mit„Hold
On“hat die schwedische Electropop-
Gruppe LittleDragon denSong der Stunde
geschrieben: „Hold on, whereyou gone?
Whereyougoing?Babystay...“,heißtesda.
AufverträumtenSynthiebeatsundmitleicht
kratzenderStimme bittet SängerinYukimi
Nagano innezuhalten, zu warten und zu
bleiben.EineMessage,dienichtnurfürInfi-
zierteinhäuslicherQuarantänegilt.DieFans
vonLittle Dragon müssen sich ohnehin ge-
dulden. Denn auch derenKonzer tinB erlin
wurdeabgesagt.BiszumErsatzterminbringt
unsdie BandmitihremneuenAlbum„New
Me,Same Us“jedoch gut durch dieWarte-
zeit. Neben„HoldOn“warten zehn weitere
Stücke: Dieetwas rockigereR’n’B-Ballade
„WhereYouBelong“zumBeispiel,dietrom-
melnde Dance-Nummer„Rush“ oder„New
Fiction“, das zwischenIndiepop undTrip-
Hoposzilliert. Manhört,dassdievierkleinen
DrachenindenletztenJahrenmitMusikgrö-
ßenwie GorillazundDJShadowzusammen-
gearbeitet haben.Eine Grammy-Nominie-
rung, für ihr vorletztes Album „Nabuma
Rubberband“, haben sie auch schon einge-
heimst.„NewMe,Same Us“könnte wieder
aufdembestenWegdahinsein.Nochhaben
wirjaetwasZeitbiszurnächstenPreisverlei-
hung. Wirmüssen
einfachnurwarten,
wie Nagano singen
würde.

Little Dragon:
NewMe, Same Us
NinjaTune/RoughTrade

DasKokain in der Bananenkiste


Zwischen der neuen Lieferung Bananen
stößt dieKassiererin Rita auf ein paarKilo
Kokain. Dasstellt ihr Leben auf denKopf,
undsiewirdsterben,wirerfahrenesschnell
inBernhardAichnersextraordinäremThril-
ler„Der Fund“.Zuvo rmanövrier teru nsge-
schicktdurcheineReihevonwilden,bösen,
kuriosen und schließlich unfassbarenWen-
dungen.Aichner,dermiteinerMischungaus
skurrilenFiguren und blutigenTaten in der
„Totenfrau“-Trilogie bekannt wurde,gönnt
Rita und ihrer altenNachbarinGerdaein
paarausschweifendeEpisoden,inderenVer-
lauf sie mit einer ganz anderenWelt als der
vonSupermarktkassen und Krankenbetten
konfrontiertwerden:mitwildenPartys,ver-
rücktenMilliardären,geilenZahnärztenund
natürlich auch den gnadenlosen Albanern,
die dasKokain zurückhaben wollen. Alle
sind sie gierig, skrupellos und kennen nur
das Ich, Ich, Ich. Undsog eht alles seinen
Gangundläuftaufdashinaus,wasmange-
meinhin Schicksal nennt. Aber Rita und
GerdahaltennichtsvonSchicksalundauch
nichts vongemeinhin. „DerFund“ ist ein
Schlaumeier-Thriller mit
exzellenter Dramaturgie
und subtilem Humor.
Undsprachlich arbeitet
Aichner schon seit lan-
gem weit über der übli-
chenironisiertenHemds-
ärmeligkeit deutscher
Durchschnittskrimiware.


BernhardAichner:Der Fund.btb
Verlag,München 2019. 350S.,
20 Euro

21./22. MÄRZ 2020 7


SOLOTANZ


Drin,drin,drin!


ZebraKatzistdasAliasdesNewYorkerMCs
OjayMorgan.EineKunstfigur,derenandro-
gynesAuftretenunddubbig-düstereSounds,
schnelleReimeundkunstvolleVideosinder
NewYorker Ballroom-SzenegroßesAnsehen
genießen.Undnichtnurdort:Auchdie Mo-
deweltliebtihn–2012wurdeseinSong„Ima
Read“ zum Laufsteg-Soundtrack derPariser
FashionWeek.Daswarder Durchbruchdes
32-Jährigen,derdasMusikmachenbisdahin
alsHobbybetrachtethatte.AchtJahrespäter
erscheintnunseinDebüt„LessIsMoor“,das
mitmehrWummsdaherkommtalsdiezuvor
erschienenvierEPs.„No1Else“ertöntetwa
im elektrisierendenIndustrialsound, zu der
eine Kinderstimme „ZebraFucking Katz“
singt. „InInI n“ schreitet hingegen auf
schnellenDschungelbeatsvoran, zu denen
Morgan kurzatmig über sein Leben rappt,
während „Zad Drumz“ lauter und frischer
knalltalsjedesbisdahingehörteDub-Step-
Stück und„Monitor“ mit grandiosemDark-
Waveüberzeugt.AllesLiederfürlangeClub-
nächtealso.Dochwernuntrauert,dassMor-
gansAuftrittim BerlinerClubPrinceCharles
am25.MärzaufgrundderCorona-Pandemie
abgesagt wurde,dem sei gesagt:ZebraKatz
lässt sich auch alleine in den eigenen vier
Wändengenießen!Vorhängezu,einfachdie
Lautstärke hoch-
drehenundimTakt
stampfen.Da müs-
sen die Nachbarn
jetztdurch.

Zebr aKatz:
Less Is Moor
ZFK/Kobalt/Aval

VonNadjaDilger

DieLandkartederFamilie


MarinaFrenksberückenderRomaninEpisoden:„ewigherundgarnichtwahr“


K


iraistMalerinundkommtimAll-
tag kaum noch dazu, sich ihrer
Kunst so zu widmen, dass sie da-
mitzufriedenist.Geldverdientsie
mitZeichenkursenfürKinder.KiraistMutter
eineskleinenJungen,dersiefordertunder-
freut,derihrenAlltagauchdannstrukturiert,
wenn sie amBoden ist. DasKind verbindet
sie noch mitMarc,der aus ihrem Leben zu
verschwinden droht.Noch: Dabei war es so
eingroßesEreignis,alsMarcundsiezusam-
menkamen–vorgarnichtlangerZeit.
Kira ist die Hauptfigur im erstenRoman
der in Berlin lebenden Schauspielerin und
Musikerin Marina Frenk, er heißt„ewig her
undgarnichtwahr“.DieRelativitätvonZeit,
vonErinnertem undErlebtem spielt hier
eine großeRolle.Die Episoden desBuches
erstrecken sich über die fast achtzigJahre
von1941bisheute,dabeimalweit,malnur
kurzind ieVergangenheit springend, es be-
leuchtetBegegnungen undErlebnissevon
SüdosteuropanachDeutschland,mitAbste-
chernnachIsraelundindieUSA.
DieAutorin lässt alleEpisoden so leben-
dig wirken, als würden sie gleichzeitig ge-
schehen,undalsblickesiestetsdurchKiras
Augen.NurdieJahreszahlengebenOrientie-
rung.„Papastehtimmernochdraußenund
sprichtmitdenMännerninU niform“,sieht
dieSechsjährige.„Ichsteheim Badvordem
Spiegel und untersuche meineBrandwun-
den“,berichtetdieerwachseneKira,diesich
selbst kleineWunden zufügt.Vierzig Seiten
spätererklärtsieMarc,warumsiedastue.Sie
möchte wissen,„wo ich aufhöre“. Es steckt
eineAngsttiefinihr.
KirasjüdischeFamiliewarzuoftgezwun-
gen,sicheinenPlatzzusuchen.„Esgabnie
Ruhe in unserem Leben, und es wirdauch
niewelchegeben“,sagtdieOma,als Kirasie
inHaifaaufsucht.Siewillihrnichtvonfrüher
erzählen: „Eine allgemeine Verstimmung,
Ekelund Ungleichgewichtverbreitensichin
ihrem ganzen Körper und in ihrem durch-

sichtigenBlick,wennsieandasLebenerin-
nertwird, es liegt vielVergangenheit hinter
ihr.“ Kirazweifelt:„KannmanzuvielVergan-
genheit haben?“Nunbringt ihr Sohn sie
dazu,selbstdenGeschichtenteppichauszu-
rollen.„,Mama,warumlebeich?‘,fragtKarl.
,Weilichdichgeborenhabe.‘–,Warumlebst
du?‘–,WeilOmaLenamichgeborenhat.‘“
Marina Frenk schreibt dicht und plas-
tisch, mit ungewöhnlichenSprachbildern,
dabeiso ,alswürdesieeindetailreichesGe-
mälde verfertigen, passend zumBerufihrer
Erzählerfigur.Ess etzt sich zumBeispiel zu-
sammen aus derFlucht vonBessarabien
durchdieUkraineundeinemtraumatischen
Kriegserlebnis 1941, aus peinlichenBegeg-
nungenmitdenliebenVerwandteninChisi-
nau1948.Auchdiese Episodensindpersonal
erzählt, nur ohne einIch. Kira schildertmit
Landschaftsdetails dieAusreise nachWest-

MarinaFrenk schreibt dicht und plastisch mit ungewöhnlichen Sprachbildern–als würde sie Gemälde verfertigen wie ihre Erzählerfigur.STOCK.ADOBE.COM/GORODENKOFF

VonCornelia Geißler


Marina Frenk: ewig her undgarnicht wahr.
Roman.Verlag KlausWagenbach, Berlin 2020.
240 S.,22Euro

europa, 1993, als dieMoldauischeRepublik
gerade unabhängig wurde.Kiraerlebt 2005
am Rheinufer in Köln, wie eine großherzige
Frauenfreundschaft beginnt, sie beschreibt
den Besuch bei derGroßtante 2012 inNew
York,wos ieversteht:„DasWesentlicheliegt
irgendwoandersalsinderGeographie.“
Dieser durch dieZeiten und über die
Landstriche gewebte Roman hält durch
seine Gedankenfülle inAtem. Im Selbstge-
spräch, imDialog mit der bestenFreundin,
imStreitmit Marc,beider Plaudereiaufdem
Wegzum Kindergarten folgtKira immer
neuenFragen,umtieferindasHerzihrer Fa-
milie,dieMöglichkeitenihrerKunst,das We-
senderLiebezukommen.
Undobwohl hier viele Männer auftau-
chen, lenkt dieAutorin dieEmpathie ihrer
Leserinnen und Leser vorallem auf die
FrauenundderenLebensmöglichkeiten.Sie
beschreibtEifersucht als Körpergefühl, und
sielässteineFehlgeburtina llenDetailspas-
sieren,diesonochnichtzulesenwaren.Sie
lässt ihreHeldin die Wehen als stärkste
Schmerz-Erinnerung zitieren.Kira steht als
FrauineinerFamilientradition,undsiegibt
selbstschonetwasweiter.Dabeientlarvtsie
MutterglückalsAbhängigkeit:„DieDiskrimi-
nierungvonMütternbesteht darin, dass
man ihnen symbolisch dasWortprivatauf
die Stirntätowier tund sie bemitleidet,weil
sie ihr eFreiheit undAutonomie zugunsten
vonLiebeundBindungaufgeben.“
„ewig her und gar nicht wahr“zeugt als
ein eindrücklicherRoman aus unsererGe-
genwartvon den uneindeutigenBiografien
der Menschen im 20. und 21.Jahrhundert.
VielesindnichtdazuHause,wos iegeboren
wurden, sprechenverschiedeneSprachen
imAlltag,inderArbeit,mitdenVerwandten.
So farbig Marina Frenk hier aufDeutsch
schreibt,sielässtihrerKirarussischeWörter
ausder KindheitimKopf,fürdiesieimDeut-
schen nur unzureichendeEntsprechungen
findet.Dasistder ReichtumderHerkunft.

OL


KRIMI


FeinesTuchausAlltagundÄrger


ReginaNössler,BerlinerinmitSauerland-
undRuhrgebiets-Background,hatesfaust-
dickhinterdenOhren.Sielulltunsinihrem
schlauenThriller„DiePutzhilfe“miteiner
Handvoll biedererFiguren und deren be-
grenztaufregendenLebenein,webteinfei-
nesTuch aus Alltag und Ärgernissen, in das
sie ab und an ein kleines Loch sticht, aus
dem dannUnerwartetes hervorq uillt: Halt,
was war das denn? NächtlichesGraben im
Garten?PistoleunterderBadewanne?Fran-
ziska hat alles hingeschmissen, Ehemann,
Haus,Doktorarbeit, akademischeKarrier e,
undistnachBerlinabgehauen.Jetztlebtsie
alsMarieinN eukölln,machtsichdierabiate
SchülerinSina zur Freundin und putzt in
Dahlem beiFrau M. Mitder stimmt was
nicht. MitFranziska auch nicht. Sowieso
stimmt hier vieles nicht, schnell trauen wir
keinemmehr,amallerwenigstenderErzäh-
lerin: Beiall diesem gemütlichenVor-sich-
hin-Erzählenmussjairgendwanndasdicke
Endekommen.Tatsächlichkommtesauch,
undsofälltFrauNössleraufdenletztenhun-
dertSeitengnadenlosüberunsher.Bisdahin
hatte sie auch, ohne dass
wiresgemerkthatten,von
sozialerKontrolle ,Angst
vorderEngeundÜberfor-
derungerzählt.Dasnennt
man Realismus mit
Schmackes.„DiePutz-
hilfe“ ist ein Krimi-High-
light.


Regina Nössler:Die Putzhilfe.
Thriller.Konkursbuch,Tübingen


  1. 402S.,12,90 Euro


VonGüntherGrosser
Free download pdf