Berliner Zeitung - 21.03.2020

(Rick Simeone) #1

21./22. MÄRZ 2020 9


RÜCKBLICK VON ARNO WIDMANN


Forster,Schnitzler und


der Umtauschkurs



  1. März 1959


Tibet:1950hattediegeradeerstgegründete
VolksrepublikChinasichTibetunterworfen.
Am 10. Märzbegann in Lhasa einAufstand
gegen die chinesischeBesetzung. Am 21.
Märzschlagen chinesischeTruppen den
Aufstand nieder.Seit dem 17. Märzwar der
Dalai Lama bereits ins indischeExil geflo-
hen.


  1. März 1960


Der schwarze Kanal:Im DeutschenFernseh-
funkderDDRwirddiepolitisch-agitatorische
Sendereihe„DerschwarzeKanal“gestartet,in
derKarl-Eduar dvonSchnitzlergekürzteund
zusammengeschnitteneAusschnitteausdem
Westfernsehen sendet.DieSendung ist eine
AntwortaufThilo Kochs ARD-Sendung„Die
roteOptik“,diesichdasDDR-Fernsehenvor-
knöpft.Von1969bis1988werdenGerh ardLö-
wenthal(ZDF-Magazin)undKarl-Eduar dvon
Schnitzler einander„Vorlagen für ihrepoliti-

EineVersammlung des Mainzer
Jakobinerclubs MAINZ.DE

Der Journalist Karl-Eduard von
Schnitzler (1918 bis 2001 ) IMAGO

schePropaganda“liefern.(Wikipedia)Am30.
Oktober1989wird„DerschwarzeKanal“das
letzteMalausgestrahlt.

Und am 21. März 1990 in der
Berliner Zeitung

Umfrage:GegeneinedeutscheEinheit„ohne
Bedingungen noch in diesemJahr“ haben
sichinderDDR67Proz entderBürgerausge-
sprochen.Dasgehtauseinemgesternvorab
veröffentlichtenBeitrag der MünchnerIllus-
trierten Quickher vor,diebeidenWickert-In-
stituten eine entsprechendeRepräsentativ-
Umfragein Auftraggegebenhatte.NachMei-
nungvon63P roze ntderinderverg angenen
Woche befragten1511 DDR-Bürger steht an
ersterStelleder BedingungeneineWährungs-
reformzum Umtauschkursvon1:1. Sehr
wichtig, soQuick, sei ihnen auch dieSiche-
rungder Eigentumsverhältnisse(58Proz ent),
die Wahrung des sozialenBesitzstandes (53
Proz ent)unddieVerankerungdesRechtsauf
Arbeit(49Proz ent).


  1. März 1793


Deutsche Jakobiner: DerRheinisch-Deut-
sche Nationalkonvent im Deutschhaus
MainzbeschließteinenAntragaufEingliede-
rung der Mainzer Republik in den französi-
schen Staatsverband. Als Überbringer des
Antrags an den französischenNationalkon-
vent werden GeorgForster,Adam Luxund
André Patocki ausgewählt.DieMainzer Re-
publikistdasersteaufbürgerlich-demokra-
tischen Grundsätzen beruhendeStaatswe-
sen auf deutschemBoden. Derkurzlebige
Freistaat existiertvon Mär zbis Juli 1793 als
einederSchwesterrepublikenFrankreichs.


I


nWienwurdeam12.Märzbeinaheein
neuesMuseumeröffnet.DieAlbertina,
eine der größten Sammlungen von
ZeichnungenundgrafischenBlättern
derWelt,hateineTochterbekommen,dieAl-
bertinamodern.DasneueHausstehtam
Karlsplatz.Esistdasmodernisierte,restau-
riertealteKünstlerhausnebendemMusik-
verein. DieAlbertina modernverfügt über
mehrals60000Werkevon5000Künstlerin-
nen und Künstlernund mehr als2000 m²
Ausstellungsfläche.ImNovember 1996
wurde inBerlin im ehemaligenHamburger
Bahnhof dasMuseum fürGegenwarteröff-
net.Es verfügtüber10000m²Ausstellungs-
fläche.
DieAlbertina modernwurde nichteröff-
net. DieösterreichischenMuseen wollten
nichtzurweiteren VerbreitungdesCoronavi-
rusbeitragen,alsobleibenseitdemdieTüren
zu. Auch die Eröffnungsausstellung bekam
außereinigenwenigeneigensausdemAus-
land angereistenJournalisten niemand zu
sehen.DieAusstellungheißt„TheBeginning
–KunstinÖsterreich1945bis1980“.Zuder
AusstellungerschienimMünchnerHirmer-
Verlag pünktlichzum Ausstellungsbeginn
einKatalog.Alsoweisenwirjetztaufihnstatt
aufdieunzugänglicheAusstellunghin.
„EswirdinderAlbertinamodernniewie-
dereineausschließlichÖsterreicherngewid-
mete Ausstellunggeben“, erklärte Klaus Al-
brechtSchrödereinerHandvollJournalisten.
Nationale Gesichtspunkte sollen später
keine Rolle mehr spielen.Aber dieses eine
Malseiesihmwichtigzuzeigen,dassesge-
radediedamalsnichtgeachteten,javerach-
teten Künstlerwaren, die die wirkliche Mo-
dernedarstellten.
Ergriffen stand er voreiner Arbeit von
PadhiFrieberger–einTischundzweiStuhl-
fragmenteausdemMüll–undsagte:„Wirsa-
hendasundhabenesnichterkannt!Warum
nicht? Weil wir zu vertraut waren mit den
Künstlern.Diepumptenunsan.Wirkonnten
sienichternstnehmen.Wirwarensodumm.
DawerdendiegroßartigstenSachenvorun-
serenAugengemachtundwirguckenweg.“
ErzeigtaufWerkeeinerheutenochlebenden
Künstlerin: „Die haben wir jetzt für 2000
Euro bekommen. Da schämt man sich
doch.“
Padhi Frieberger? Ichhatte den Namen
noch nie gehört.Viel sagt auch der Katalog
nicht, aber doch immerhin das: Padhi Frie-
berger (1931–2016)baute seine Assembla-
genausFundstücken.Erverkauftekaumet-
was.Dadurch konnte er sie immer wieder
verändern. Siezudatieren ist also sehr
schwierig. Siesind auralose „arte povera“,
man sieht dergleichenin zerstörten Woh-
nungen.ObFriebergersoetwaswieSchön-
heit in ihnen sah oder nur Geschichte,Zer-
nutzung?ManstehtvordemTischundden
zerschlagenenStühlen, ein Werk wohl der
50er-JahreundkommtinsGrübelnüberdie
SterblichkeitauchdesUnbelebten.
Oswald Oberhubers Skulpturen, die
nichtssindalsgebogenerrostigerDrahtmit
Muschel- und Algenablagerungen, bringen
denBetrachteraufganzähnlicheGedanken.
Freilich eher den in derAusstellung als den
desKataloges.Das Formatspielt eine große
Rolle: In der Abbildung ist die „Unsauber-
keit“ desDrahtes kaum zu sehen.Dabei ist
sie wesentlich. Es sindSpuren eines erstor-
benen, eines ermordeten (?) Lebens.Die
Drahtarbeiten entstanden 1952.Im Katalog
schreibtBerthold Ecker,Kurator desWien-
Museums,dazu: „SeineDrahtplastiken er-
scheinenwieZeichnungen,dieindenRaum
greifen ...Ab den frühen 50er-Jahren trat
Oberhuber dann hauptsächlich alsMaler
hervor."
DerKatalogbeschreibtnichtnurdieein-
zelnenAusstellungsstücke.Ero rdnetsieein,
stellt sie in einenZusammenhang.DerAb-
schnittüberdieösterreichischePlastiknach
1945sortiertzumBeispielallesumFritzWo-


truba(1907–1975).Keinerder Bildhauer,der
Bildhauerinnenkamanihmvorbei.Oberhu-
ber zumBeispiel, der ganz und gar gebro-
chen hat mit derErinnerung an dieMen-
schengestalt, ohne die es doch beiWotruba
keine Plastik gab,war sein Assistent gewe-
sen.
Es sind diese einordnenden Schneisen,
dieden Katalogso wertvollmachen.Auchfür
jemanden, der sich wundertüber so viel so
schnellgewonneneÜbersichtlichkeit.Insei-
ner Einleitung schreibt Klaus Albrecht
Schröder:Alle Kunst läuft „in Österreich
räumlichhochkonzentriertime rstenBezirk
Wiens zusammen. Dortsind die Galerie St.
StephanunddieZedlitzhalle,dieGalerieim
Griechenbeisl und derStrohkoffer,das Kel-

lerlokaldesArtClubunterderAmericanBar
vonAdolfLoos,dieAkademiederbildenden
Künste und das einzigeForum, wo öffentli-
che Aktionen wie der ,WienerSpaziergang‘
vonGünterBrusoder ValieExports,Verhun-
dung‘ vonPeterWeibel jene minimaleAuf-
merksamkeiterhaltenkönnen,dieProvoka-
tionalsAnspruchaufsubversiveGrenzüber-
schreitunggarantiert“.
Daswar ein Radius,der in einerViertel-
stundehätteabgejoggtwerdenkönnen.Aber
Künstler und Künstlerinnen zogen wohl
langsamdurchihrReviervonBeislzu Beisl.
Einander herzend und beschimpfend.
Manchmal–wirsindinWien–wussteman
sichernicht,wasgefährlicherwar.Manliest
das und denkt mit einemMale an Florenz,

Neapel undVenedig. DaskünstlerischeGe-
nie scheint auch einViruszus ein, der vom
sozialenKontakt,ja vomAustauschvonKör-
perflüssigkeitenlebt.Auches vermehrtsich
durchdieZerstörungdesAlten.
Manchmalistmanunsicher,wasgrößer
ist,die LustanderZerstörungoderdiean
den eigenen Kreationen.Vielleicht rührt
die Unsicherheit derzeitgenössischenBe-
trachter bei derBeurteilung derHervor-
bringungenderAvantgardeauchdaher.Sie
spürendieUnsicherheitderjungenKünst-
ler,atmen sie ein und geben sieweiter,
stattihrentgegenzutretenmiteinemeige-
nen Urteil, das diese Arbeiten ernster
nimmt, als die Künstler selbst sie zu neh-
menscheinen.

Ausstellung undKatalog konzentrieren
sichaufdiejungenKünstler,die60 Kilometer
vomEisernen Vorhangentferntimneutralen
Wien versuchen, etwasNeues zu machen.
Nachder ZerstörungvonMonarchieundRe-
publik,nachderVernichtungdesJudentums
undnachderNiederlagedesNationalsozia-
lismus istWien homogener,als es jemals in
seiner Geschichte gewesen war.Wien igelt
sich ein zwischen denWeltmächten.Dage-
gen löcken dieJungen. Siewollen nicht zu-
rückzumKubismus,wollennichtweiterma-
chen bei dem, was derNationalsozialismus
„entarteteKunst“ nannte.Sie leben zwi-
schenTrümmern,zwischenzerbombtenGe-
bäudenundverschlissenen,mitBlutdurch-
setzten Ideologien.Dasist ihr eWelt. Die
Kunst muss dieKunst dieserWelt sein oder
sieistkeine.
JedergehtdabeiseineeigenenWegeund
imLaufederJahreändernauchdiesich.Wie
die „Trümmerliteratur“ wirdauch die
„Trümmerkunst“abgelöstvonneuenVersu-
chen. Es geht also gerade nicht nur um die
Kunst unmittelbar nach demZweitenWelt-
krieg. DerUntertitel lautet„Kunst in Öster-
reich1945bis1980“.Esgibtalsodie„Wiener
Schule des PhantastischenRealismus“,den
„Wiener Aktionismus“,die verschiedenen
Realismen,esgibtGünterBrus,ValieExport,
ErnstFuchs,GottfriedHelnwein,AlfredHrd-
licka,FriedensreichHundertwasser,KikiKo-
gelnik, MariaLassnig, Hermann Nitsch, Ar-
nulf Rainer,Rudolf Schwarzkogler,und
FranzWest.AberdenWertdesKataloges,den
WertderAusstellung,wennmansiedennje-
mals wirdsehen können,machennatürlich
diewenigerberühmtenNamenaus,diehier
aufzuzählenvöllig sinnlos wäre, weil sie
keine Erinnerungen, keine Assoziationen
wecken. Nicht zuletzt um ihretwillenaber
sindAusstellungundKatalogentstanden.
Eines der Glanzstückeist MariaLassnigs
(1919–2014)„Woman Power“. DasGemälde
ist182mal126Zentimetergroß.ImKatalog
wirkt die NewYorkdurchschreitende Frau
nochmächtiger.InteressantandemBildist,
dassdiesermenschlich-weiblicheKingKong
nichts zerstört. Er wandertdurch die Welt
und sie bleibt unverändert. Aber es ist klar:
DieFrauistderHerrdesGeschehens.
Von1968 bis 1980 lebte MariaLassnig in
NewYork. DasGemälde stammtaus dem
Jahr 1979. Es ist ein Statement.Dassteht
ganz außer Frage.Lassnig erklärte einmal
„Ich glaube nicht, als Malerin feministische
Statementsgemachtzu haben, außer dass
ichüberhauptdurchgehaltenhabe,dennes
warjanichtleicht.“DasBildisteinWerkvon
MariaLassnig,aberesistauchAusdruckei-
nes in der feministischenBewegung ent-
standenenneuenweiblichenSelbstbewusst-
seins.
Zwei Jahrezuvor hatten im Berliner
SchlossCharlottenburgeineGruppevonFe-
ministinnendieAusstellung„Künstlerinnen
International1877–1977“veranstaltet,die
erstmals im deutschen Sprachraum die
Kunst vonFrauen und die Frage nach einer
„weiblichenKunst“ ins Zentrum der Auf-
merksamkeitrückte.MariaLassnigwareine
dermehrals180gezeigtenKünstlerinnen.In
der SüddeutschenZeitung schrieb derRe-
zensent:„SeltenhateineKunstausstellungin
Berlin so vielUnfrieden gestiftet, so scharfe
KontroversenundProtesteprovoziert.“
Manmag sich nichtvorstellen, mit wie
viel Häme eine Öffentlichkeit damals auf
„WomanPower“, diesesSelbstbildnis der
Künstlerin alsKing Kong, reagierthaben
mag.DerTraumder Ohnmächtigenvonder
Machtwir dwohlnochdiefreundlichsteFor-
mulierung gewesen sein.Katalog undAus-
stellungsindaucheinBlickindieKulturge-
schichteÖsterreichs.

„TheBeginning–Kunst in Österreich1945bis 1980“,
hrsg.von KlausAlbrecht Schröder,Hirmer-Verlag,608 Sei-
ten, zahlreiche s/w und farbigeAbbildungen, 55 Euro.

DieKunstmussdie


Kunstdieser Weltsein


DieWienerAusstellung„TheBeginning–KunstinÖsterreich1945bis


1980“fielebenfallsdemCoronavirus–oderunseremVersuch,seine


Verbreitungeinzudämmen–zumOpfer.Ind endicken,schönenKatalog


kannmantrotzdemblicken


VonArnoWidmann


Am Ende ihres mehr
als zehnjährigen Aufenthaltes
in NewYorkmalte
Maria Lassnig 1979
„WomanPower“, ein
gemaltes Manifest des
neuenFeminismus
der 70er-Jahre.
Womöglich noch mehr
ist es das Dokument
des neuen Selbstbewusst-
seins der Malerin selbst:
dasPorträt der
Künstlerin als Gebieterin
über die Stadt, die sie dabei
ist zu verlassen.
ALBERTINA, WIEN
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