Berliner Zeitung - 21.03.2020

(Rick Simeone) #1

10 21./22. MÄRZ 2020


Gutsch


Leo


Homeoffice


forever


W


ahrscheinlich wird„Homeoffice“ das
Wort des Jahres .Alle sind ja jetzt im
Homeoffice.WirsinddieHRD–dieHomeof-
ficeRepublikDeutschland.
Diewirklich wichtigen Berufsgruppen
sind natürlich nicht imHomeoffice.Was
zeigt,dassLeutewieich,Journalisten,nicht
so wichtig sind, was für das großeWichtig-
keitsgefühldiesesBerufsstandesjaauchmal
ganzheilsamist.
MeineFrauistplötzlichauchimHomeof-
fice.Jeden Morgen frage ich mich:Was
macht sie denn hier?Warumgeht sie denn
nicht ... weg? Arbeiten?Hatsie denn nichts
zu tun, dortdraußen? DieschönsteIdee
hattemeineMutter,83J ahrealt.Siesagtezu
meiner Frau am Telefon:„Wenn du jetzt im
Homeofficebist,kannstduJochendochim-
mer was zumMittag kochen.“Ganz genau!
Aber stattdessen koche ich für meineFrau,
weilsiedassattundsanftmütigmacht.
Natürlich wirddas Homeoffice unser
Land verändern.Viele Arbeitgeber merken


nun,dasssiesichdieriesigenBürosinderIn-
nenstadt zu teurenGewerbemieten sparen
können.Funktioniertjaa llesauchso.Home-
officeforever.
SteigenwerdenauchdieGeburtenzahlen.
EsistwieinderDDR:Wennsonstnichtslos
ist, hat man ebenSex. Später wir dman von
den „Corona-Kindern“ sprechen, die im
März, April2020ge zeugtwurden.Ängstliche
Kinder,die nicht gerne insFreie gehen und
zu Hause am liebsten mitToilettenpapier
spielen.
NatürlichgehensichPaare,nachewigem
Homeoffice und ohne andereSozialkon-
takte,auch wahnsinnig auf dieNerven. Es
heißt ja immer:Ind er Krisezeigt sich der
wahreCharaktereinesMenschen.Ja,leider.
In der Zeitung las ich, dass in China, nach-
demdor tdasAusgehverbotgelockertwurde,
vieleMenschendieStandesämterstürmten.
UmdieScheidungzubeantragen.
Vermutlich geben einigeElternihreKin-
der auch bald zurAdoption frei.Nach drei,

vier Wochen zusammen in derWohnung
merken sie:DerMalte ist echt ein kleines,
egozentrisches Arschloch und passt über-
hauptnichtzuuns.
Oftheißtesjanun:Manmusssolidarisch
sein. Deshalb habe ich erst mal Aktien ge-
kauft,umdiearmenBankenundunserWirt-
schaftssystemzuunterstützen.Dannaßich
in meinem leerenStammcafé, um denver-
zweifeltenWirt zu unterstützen.Dann saß
ich,alseinzigerKunde,beimeinerverzwei-
felten Friseurin, um auch sie zu unterstüt-
zen.
WennichalldieLeutesehe,diegeradeum
ihreExistenzkämpfen,dannmöchteichden
Leuten,dereneinzigeSorgedasHomeoffice
unddiegeschlosseneKitaoderdiegeschlos-
sene Schule ist, sagen:Bitte nicht laut be-
schweren.Lieber:Klappehalten!
Noch nerviger sind allerdings jeneJour-
nalisten,dienunständigwissen,wiemanal-
les besser machen könnte.Und was dieRe-
gierung tun müsste.Und dass man ja alles

VonJochen-Martin Gutsch

viel früher hätte wissen können.Unddas
man nun wirklich eineAusgangssperrever-
hängenmuss.
Totaler Shutdown, sofort!Unddas lässt
sichnatürlichleichtfordern,wennmanselbst
in der hübschen 150-Quadratmeter-Altbau-
wohnungsitztoderimLandhausstattinder
engenNormalbürger-Butze.
Wenich gerade sehr mag?Dieunaufge-
regte AngelaMerkel.LotharWieler ,den klu-
genPräsidenten desRobert-Koch-Instituts.
Ja,ichmagjetztsogarMarkusSöderundOlaf
Scholz.AlldiealtenweißenMännerundalten
weißenFrauen ,dieversuchen,unsirgendwie
ausderKrisezubringen.Bisvorkur zemwar
„alt“ und „weiß“ ja eineKombination, der
manmedialvorallemVerachtungentgegen-
brachte.
In der Jugend lag dagegen allesHeil der
Welt.Ichbinfroh,dassdiealtenweißenMän-
nerund Frauen jetztdasind.
DieJugend?FeiertCorona-Partys.
DieAltenrettenun svielleichtdenArsch.

Tüte dazu?


IhreZeitalsWegwerfartikelistvorbei,


jetztistsiereiffürsMuseum–eineErinnerungan


diePlastiktragetasche


VonPetraAhne


designerPhilippBreeundderSchauspielerLarsEidingergerade
augenzwinkerndReferenzerwiesen,miteiner 550 Euroteuren,
perfektgenähtenLedertascheinAldi-Optik.
DieerstenPlastiktütenwarenProdukteihrerZeit,soglänzend,
verlockendund verschwenderisch wie die Warenwelt, aus der
Kunststoffeab den 60er-Jahren generell nicht mehr wegzuden-
kenwaren.DieneuenFarben,Formen,MaterialienwurdenTeil
der Designrevolution derSechziger und der neuenFreudeam
Konsum, die man auch mit der prall gefülltenPlastiktüte de-
monstrierte.DieUnternehmenwiederumbekamenmitdenTra-
getaschenkostenloseWerbeflächen.
Dassindemu nbeachtetenAlltagsproduktaucheinzeithisto-
rischerWertsteckt ,hatder BerlinerTobiasSadeckischonvorei-
nigenJahrenerkannt.Erbegann,Tütenzusammeln,kaufteauf-
gelöste Sammlungen. 15000Exemplarehat er mittlerweile bei-
sammen.Ausseinem Fundus stammen dieStücke der Ausste l-
lung.UmspätermaldenZeitgeistdesfrühen21.Jahrhu ndertszu
erschließen,werdenBaumwo lltaschenaufschlussreichsein,das
aktuelleAccess oirefür Mitteilungsbedürftige.Beliebter Spruch
darauf:„Plastikistvoll90er“.

„Tüte?Na, Logo!“wäreeigentlichvonjetzt an und bis zum 28.Juniind er Kunstbiblio-
thek des Kulturforums zu sehen, beikostenlosem Eintritt.Parallel geplant war dieAus-
stellung„Marken: Zeichen. Das GrafischeAtelier Stankowski+Duschen.Bis die Museen
wieder öffnendürfen, ka nn mansichauf In stagram schonmal einen EindruckvonSa-
deckisTütensammlungverschaffen,unter cool_collection_de

I


mRückb lickerscheintesirre,wiesomanchesausdenun-
schuldigenJahrenderKonsumgesellschaft:Daistdieseser-
staunlicheMaterial,daslauternützlicheEigenschaftenver-
eint–eshältlange,istwasserfest,reißfestundhygienisch.
Doch statt es entsprechend seiner Leistungsfähigkeiteinzuset-
zen,wirdeszumWegwerfartikel.Noch2015hatjederDeutsche
68 Plastiktütenim Jahr gebraucht. Ab 2016 kostetensie etwas,
undpromptsankdieZahlauf20StückproKopfundJahr.Nochin
diesemJahrwerdendieLädengarkeinePlastiktütenmehrausge-
ben dürfen. Dieaus dem Kunststoff Polyethylen hergestellten
Tragetaschen,fürderenProduktionRohölverwendetwird,sym-
bolisieren vieles vondem, was schiefläuftim Umgang mit der
Umwelt:gedankenloserRessourcenverbrauch,Müllinselninden
Weltmeeren,stetigerCO 2 -Anstieg.
Mankann keinePlastiktüte mehr ansehen, ohne daran zu
denken, und darum ist die–vor ihrem geplantenEnde im Juni
hoffentlich noch zu besichtigende–kleine Ausste llung in der
KunstbibliothekamKulturforumauchmehralseineDokumen-
tationinnovativen Corporate Designsausden60er-bis80er-Jah-
ren;sieillustriertebensodiegewandelteRezeptioneinesAlltags-
produkts.Aufdenge zeigtenTütensindallesamtfürihreZeitweg-
weisende Firmenlogos zu sehen,vonnamhaftenGrafikernge-
staltet.DiekühneGeometriederRewe-TütevonStankowskiund
Partneristdabei,dieblaueTütederKaufhausketteHorten–1961
dieerstedeutschePlastiktüteüberhaupt–undnatürlichGünter
Fruhtrunksgest reifterEntwurffürAl di.DemhabenderTaschen-

AufdenerstenBlickblo…Müllins ̧e,aufdenzweiteneinesignob—ektc0lastitktütenausderAusstellungÉTüteÆNa,Logo{Ê STAATLICHEMUSEENZUBERLIN,KUNSTBIBLIOTHEK/DIETMARKATZ


Wegweisende Grafikc
ntwürfe des Büros StankowskiÂ0artner aus den
60er- und 70er-Jahren.
STAATLICHE MUSEEN ZU BERLIN ZU BERLIN, KUNSTBIBLIOTHEK/DIETMAR KATZ
Free download pdf