Der Standard - 21.03.2020

(Ron) #1

24 |SA./SO.,21./22.MÄRZ2020DLebenLeben ERSTANDARDWOCHENENDE


Foto: Imago

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lmer Pressebildage

F


ür unvorhersehbare Situatio-
nen gibt es selten eine Hand-
lungsanweisung. Kein Wunder,
dasswirunsanunsereneueRea-
lität daheim erst einmalgewöh-
nen müssen. Homeoffice instal-
lieren. Vorräte auffüllen, zumindest so weit,
dassman nicht jedenTag hinausgehen
muss.Kinder beschäftigen–möglichst pä-
dagogisch wertvoll. Arbeiten. Kochen. Wa-
schen.Putzen.ElternundGroßelternversor-
gen. Das ist viel auf einmal. Hinzu kommen
permanente Updates zum Coronavirus auf
allen Kanälen, Wasserstandsmeldungen zu
rapide steigendenArbeitslosenanträgen,
Kurzarbeitsmodelle, Hilfspakete und die
Frage: Wie bin ich von all dem eigentlichbe-
troffen?WährenddieKindertoben,dasTele-
fon läutet, der Hund bellt unddie sonst so
sanfte Katze an der Couch kratzt.
Ein Netz aus Überforderung, Angst und
Verzweiflungspinntsich–derDruck,wenn
alle den ganzen Tag aufeinanderpicken,
steigt. Weil wir das einfach alle nicht ge-
wohnt sind. Und weil man nicht weiß, wie
lange dieser Zustand anhalten wird.


Plan erstellen
Um das neue Leben at home gut hinzu-
bekommen, rät der Psychotherapeut Wolf-
gang Wilhelm, einen fixen Plan zu erstel-
len. Arbeitszeit und Freizeit gehören auch
jetzt gut getrennt. Hobbys, die man trotz der
aktuellen Schutzvorkehrungen ausführen
kann, bitte weitermachen. Und man soll die
Arbeiten im Haushalt besser aufteilen: Wer
bringt den Mist weg, wer kümmert sich um
die Katzenkiste? Wann räumen wir auf, wer
ist für welchen Raum zuständig–das ge-
hört organisiert. Wilhelm rät dazu, in klei-
nen Zeiteinheiten denken: Was hat uns ges-
tern Spaß gemacht, wie wollen wir es heu-
te angehen? „Wichtig ist auch, eine Struk-
tur aufzubauen“, unterstreicht Claudia
Röschl, Beraterin und Coach. Es braucht
einen definierten Ort, an dem gearbeitet be-
ziehungsweise gelernt und gespielt wird.
Strukturen geben Sicherheit und helfen,
durch den neuen Alltag zu kommen.


Auszeiten nehmen
Abschalten. Durchatmen. Den Kaffee ge-
nießen. Eine halbe Stunde ausruhen.Musik
hören. Auszeiten sollten laut Wilhelm jetzt
sehr bewusst eingeplant werden. Sie helfen,
den Stress abzubauen. Mit Kollegen, Freun-
den, Nachbarn, Geschwistern und Eltern
telefonieren. Gemeinsam über dieSituation
reden,Tipps holen, Sorgen besprechen. Der
Therapeut rät, auch eine fixe Zeit für den
Medienkonsum einzuplanen und darauf zu
achten, Qualitätsmedien zu konsumieren.
Zudem könneman dieZeit auch sinnvoll
nutzen. Etwa aufgeschobene Putzpläne ab-
arbeitenund bewusstschöne Elemente in
den Tag einbauen. Brettspielewiederentde-
cken. Malen. Basteln.


Ruhe bewahren
Viele von uns wollen Dinge gerne einord-
nen. Beim Coronavirus ist das aber schwer.
„Der erste Ansatz ist meist Verleugnung:
Das ist eh nur wie eine Grippe“, erklärt Wil-
helm. Das hält aufgrund der raschen Anste-
ckungsrate und der gesetzten Maßnahmen
aber nicht mehr. „Also tendieren wir oft
dazu, zum schlimmsten Szenario zu wech-
seln“, so der Experte. Doch das hilft uns
jetzt nicht weiter. Derzeit müssen wir die
Lage einfach so hinnehmen, wie sie ist: Ja,
wir wissen vieles noch nicht über das Vi-
rus. „Aber wir wissen, dass Händewaschen
und Kontaktvermeidung helfen“, sagt Wil-
helm. Darauf sollten wir uns stützen.
Jeder kann etwas tun und helfen, die Ge-
samtsituation zu verbessern–das gibt Zu-
versicht. „Wir haben für diese einzigartige
Krise keine Referenzen, auf die wir zurück-


greifen können“, erklärt Röschl die vieler-
orts spürbare Verunsicherung. Was hier
hilft: die Lage immer wieder neu bewerten.
So wie es die Regierung auch tut.
Kinder sollten mit Krisenfakten nicht
überfordert werden. Dennoch sollte man
mit ihnen reden, sie in den Alltag aktiv ein-
beziehen und erklären, warum jetzt gerade
alles anders läuft. „Kinder spüren die Ner-
vosität ihrer Eltern“, sagt Wilhelm. Damit
sollten sie nicht alleingelassen werden.

Zusammenhalten
Alle sind durch die neue Lage herausge-
fordert. Es zeigt sich aber, dass der Zusam-
menhalt innerhalb von Familien und ande-
ren Gemeinschaften wächst. Jüngere Nach-
barn versorgen ältere, Enkel ihre Groß-
eltern. „Diese Zeit der verordneten Verlang-
samung zeigt gesellschaftlich eine neue
Komponente von Fürsorge, Achtsamkeit
und auch einen respektvolleren Umgang
miteinander“, fasst Röschl zusammen. Vie-
le Eltern sind über Kontaktgruppen ver-
netzt. Ideen für Basteleien, Kinderrezepte,
Entspannungsübungen werden auf allen
Kanälen ausgetauscht. Man ist nicht allei-
ne –auch jetzt nicht.

Angstzugestehen
Die Zahlen, Fakten und Bilder, die wir
täglich zum Coronavirus und zur Lage der
Weltwirtschaft erhalten, verunsichern uns.
Es entsteht Angst vor den Folgen. Angst
führt zu einer hohen Adrenalinausschüt-
tung, die abgebaut werden muss. Schnur-
springen, Liegestütze, ein Workout, Yoga,
Atmen. „Wichtig ist, dass wir in solchen
Phasen körperlich wieder herunterkom-
men“, sagt Wilhelm. Es gilt, auf sich und
seine Mitmenschen jetzt besonders achtzu-
geben. Der enge Raum und die angespann-
te Lage sollten nicht zu Streitigkeiten füh-
ren. „Hier muss aktiv gegengesteuert wer-
den“, sagt Wilhelm. Eine Runde ums Haus
gehen und dem anderen zugestehen, dass
er auch überfordert ist. Kommt es zu Über-
griffen und häuslicher Gewalt, gelten aber
die bisher bekannten Regeln: Wohnung
verlassen und Notrufnummern wählen.

Zuversicht
Ja, die Situation ist herausfordernd. Emo-
tional wie wohl auch finanziell. „Jetzt gilt
es, durchzutauchen“, sagt Wilhelm. Wir
müssen und können heute noch nicht die
Lösung kennen. Die Bestandsaufnahme
kann daher auf später verschoben werden.
„Es gilt, aus der Bewertung des Jetzt Kraft
zu schöpfen“, sagt Röschl. Mehr denn je
sind wir gefordert, im Jetzt zu agieren. Die
Rückschau zieht uns emotional hinunter,
die Vorschau ist nicht möglich. Röschl rät
daher, die Energie nicht in Verzweiflung,
sondern in Hoffnung zu investieren. Wir
haben genug Essen, Kleidung, Strom, Gas
und eine Republik, die darauf achtet, dass
die Infrastruktur funktioniert.
„Das normale Leben wird nach der Coro-
na-Krise wieder aufleben“, sagt Röschl. Das
dürfe jetzt nicht vergessen werden. Wir
werdenwiederUrlaubmachen,insKinoge-
hen, in Eisgeschäften sitzen und Feste fei-
ern. Die Beraterin sieht in der verordneten
Auszeit vom gesellschaftlichen Miteinan-
der auch eine Chance: „Die Empathie im
Miteinander ist höher geworden. Das eröff-
net eine neue Qualität in der Zusammen-
arbeit, die wir uns hoffentlich auch für die
Zeit nach Corona erhalten.“ Denn Corona
führe uns vor, dass wir einander brauchen.
Wird es stressig, helfen auch Rituale.
Meine vierjährige Tochter und ich greifen
derzeit auf ein Zitat aus dem Animations-
filmDie Heinzels–Rückkehr der Heinzel-
männchen zurück. Bevor wir streiten,
schauen wir uns tief in die Augen und
schwören uns: „Wir heinzeln das.“

Wirhaben eine neue Realität. Plötzlich spielt sich unsergesamtes Leben in den eigenen vier


Wänden ab.Das kann ganzschön engwerden.Wiegute Planung und Zuversicht helfen.


Wirheinzeln das


Bettina Pfluger

Telefonberatung ist in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen das Um
und Auf. „Bitte anrufen“, sagt Psychotherapeut Wolfgang Wilhelm.
Therapeuten seien sich ihrer wichtigen Aufgabe jetzt bewusst.

Psychiatrische Soforthilfe:01 313 30–rund um die Uhr

Von Gewalt betroffene Frauen:0800 222 555–zujeder Tages- und Nacht-
zeit. Onlineberatung täglich von 15 bis 22 Uhr unterHaltdergewalt.at.
Weitere Informationen unterFrauenhelpline.at

Frauenhausnotruf Wien:01 05 77 22

Wiener InterventionsstellegegenGewalt in der Familie:01585 32 88–täglich
von 8.30 bis 20.00 Uhr, Sa von 8.30 bis 13.00 Uhr und nach Verein-
barung am Wochenende.

Kinderschutzzentren Die Möwe:01532 15 15–Mobis Do 9.00 bis 17.00 Uhr,
Fr 9.00 bis 14.00 Uhr)

Rat auf Draht:147 –rund um die Uhr Hilfe für Kinder und Jugendliche

Anrufenundhelfenlassen


NOTFALLNUMMERN

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