Der Standard - 21.03.2020

(Ron) #1

DERSTANDARDWOCHENENDE Gesundheit SA./SO., 21./22. MÄRZ2020 | 33


Niemand kann aktuellsagen, wie vieleMenschen in Österreich wirklich mit Sars-CoV-2 infiziert sind.
Expertenversuchen, Zahlen hochzurechnen. AndereMöglichkeiten gibtesnoch nicht.

Anschober darauf? In Österreich überwacht
das Gesundheitssystem regelmäßig die In-
fluenza-Situation im Land überdas soge-
nannteInfluen za-Surveillance-System. Da-
bei werden aus dem klinischenBereichund
von LaborenPatienten gemeldet, die positiv
auf Influenza-Virengetestet wurden. Das
sindMenschen, die zum Beispielwegen
grippaler Symptome beimArzt vorstellig
wurden.
Anhand dieser Zahlen wird hochgerech-
net, wie viele Grippekranke es in Österreich
gibt. Seit dem 24 Februar wird im Rahmen
derProbenauchaufSars-CoV-2getestet.Bei
824 Tests waren dabei bisher 20 positiv, wo-
bei die Zahlen in den vergangenen zwei Wo-
chen angestiegen sind. Eine offizielle Hoch-
rechnung von diesenWerten wie bei der
Grippe gibt es noch nicht. Sicher ist, dass in
Österreich nur eine begrenzte Zahl an Men-

SchwierigeVermessung der Corona-Dunkelziffer


E


ine der großen Fragen rund um den
Corona-Ausbruch weltweit ebenso
wie in Österreich lautet, wie hoch die
Dunkelziffer ist: Wie viele Menschen sind
mit Sars-CoV-2 infiziert, scheinen aber in
keiner Statistik auf? Experten vom Institut
für Höhere Studien (IHS) haben dazu in
den vergangenen Tagen eine erste Berech-
nung erstellt. Eigentlich sollte man eher
von einer Schätzung sprechen, weil auch
hier mit einigen unsicheren Annahmen
operiert wurde.
Zwischen dem Kontakt mit dem Erreger
und den ersten Symptomen vergehen im
Mittel in etwa fünf bis sechs Tage, das ist
inzwischen durch mehrere Studien belegt.
Wer Symptome hat, muss sich melden,
macht das aber vielleicht nicht sofort. Wer
zum Beispiel nur ein Kratzen im Hals ver-
spürt, wird vielleicht zuwarten.
Dann wird ein Abstrich gemacht, die
Laboranalyse dauert ebenfalls ihre Zeit.
IHS-Gesundheitsexperte Thomas Czypion-
ka und seine Kollegin Miriam Reiss neh-
men an, dass dieser Prozess neun bis zehn
Tage in Anspruch nimmt. Die offiziellen
Zahlen zu den Corona-Fällen in Österreich,
die wir derzeit sehen, sind in Wahrheit also
ein Blick neun bis zehn Tage zurück.
Das IHS hat nun die offiziellen Fallzah-
len in Österreich vom 17. März genommen,
um neun Tage zurückgerechnet und für
dieseZeiteinexponentiellesWachstumbei
der Zahl der Infizierten angenommen. Hin-
zu kommt aber noch ein Faktor, der berück-
sichtigt werden muss: Manche Menschen
werden nie getestet, entwickeln auch kei-
ne oder kaum Symptome. Aus Italien gibt
es Untersuchungen, wonach bis Ende Fe-
bruar gut 72 Prozent der Fälle unerkannt
geblieben sind. Es sind somit dreimal mehr


Menschen infiziert als angenommen. Das
IHS berücksichtigt diesen Wert auch bei
seiner Analyse. Ergebnis: Am 17. März lag
die Zahl der gemeldeten Infektionen in
Österreich bei 1332 Personen. Das IHS
kommt aber auf 54.500 Fälle in der Realität
nach der beschriebenen Rechenmethode.
DieseexakteZahlseiabernebensächlich,
sagt Czypionka, das sei eher ein „Blick in
die Glaskugel“. Wichtig ist es ihm, einen
anderen Punkt festzuhalten: Zu sagen, in
den offiziellen Statistiken gibt es nur weni-
ge tausend Fälle, weshalb sich alle entspan-
nen könnten, ergebe ein trügerisches Bild.
Aber stimmendiese Annahmen über-
haupt? GesundheitsministerRudolf An-
schober (Grüne) hatte diese Woche in einem
ZiB 2-Interview gemeint, dass Analysen dar-
aufhindeuten, dass die Dunkelziffer in
Österreich relativniedrig ist. Wie kommt

schenauf Corona getestet wird. Selbst bei
Menschen, die mit Infizierten in Kontakt
waren, wird nur getestet, wenn Symptome
auftreten. Und Menschen, die husten und
fiebern, werden nicht getestet, sofernsie
keinenKontakt zu Infiziertenhatten.
Das liegt an den Kapazitäten im System.
Testkits gibt es genug. Allein die Thalgau-
er Biotech-Firma Procom Cure gibt an, dass
sie 100.000 Corona-Tests täglich ausliefern
könnte. Nur braucht es zusätzlich Labor-
kapazitäten für die Auswertung der Proben.
Hier ist ein Nadelöhr. Hinzu kommt noch
eines: Da Menschen, ohne schwer erkrankt
zu sein, nicht in Spitäler sollen, wird in die-
sen Verdachtsfällen zu Hause getestet. Das
Rote Kreuz gibt an, dass man aktuell 3700
mobile Tests am Tag durchführen kann. In-
kludiert sind hier Testungen bei mobilen
Stationen, zu denen Betroffene selbst kom-
men. In Wien sind 20 Fahrzeuge unterwegs
–daran sieht man, dass nur eine begrenzte
Zahl von Menschen untersucht wird.

Experiment in einem Dorf
WürdesichdurchMassentestungenetwas
ändern? SeitTagen kursiertdie Geschichte
des italienischen Städtchens Vo Euganeo.
Dorthat dasRote Kreuz mit Forschern der
Uni Paduabei allen Bewohnern einen Ab-
strich gemacht. Dadurch wurden symptom-
loseVirusträger erkannt. Die Betroffenen
wurden isoliert, konnten also niemanden
anstecken. In dem Ort gibt es laut Andrea
Crisanti,Professor für Mikrobiologie in Pa-
dua,keine Erkrankungen mehr. Für größere
Orte, wo der Erreger bereitsverbreitetsei,
eigne sichdieserAnsatz aber nicht, die not-
wendigen Ressourcen fehlten. Und: Auch
nach einem negativenTest können Patien-
ten erkranken, wenndas Virus zirkuliert.

Sind flächendeckende Tests sinnvoll?Erfahrungen gibt
es aus einem italienischen Ort.

Foto:Reuters

Karin Pollack, András Szigetvari, Klaus Taschwer

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