Der Standard - 21.03.2020

(Ron) #1

34 |SA./SO.,21./22. MÄRZ 2020 Kommentarderanderen DERSTANDARDWOCHENENDE


Warum es jetzt einen freien Diskurs über unsereArt zu leben braucht und
das Coronavirus möglicherweise sogar ein Glück ist.

V


ielleicht sollten wir uns in diesen
Tagen auch einmal vor Augen halten,
dass wir mit Covid-19 und dem Coro-
navirus erstens noch Glück hatten, und
zweitens sogar in doppelter Hinsicht Glück.
Erstens, weil es, verglichen mit H1N1, dem
Influenza-Erreger von 1918/19, weniger ge-
fährlich ist. Zweitens, weil es als Warnung
genauzur richtigen Zeit kommt. Nämlich,
nicht so weiterzumachen wie bisher.
Die Spanische Grippe wurde im Ersten
Weltkrieg von US-Truppen aus den USA
nach Europa mitgebracht und erfasste die
ganze Welt. „Spanische“ hieß sie, weil spa-
nische Zeitungen über ihr dortiges Auftre-
ten berichtet hatten, während in den krieg-
führenden Staaten alle Nachrichten unter-
drückt wurden. Wie in Wuhan wurde auch
Anfang 1918 in den USA die Warnung
eines örtlichen Arztes vor einer neuen
Krankheit von den höheren Stellen miss-
achtet. Viel dagegen tun hätte man damals
aber nicht können.
IneinemArmy-AusbildungslagerinHas-
kellCountymit58.000Rekrutenwarenbin-
nen kurzem viele Soldaten infiziert, 1100
schwer erkrankt und 38 gestorben. Anders
als Covid-19 raffte die Spanische Grippe
vor allem 20- bis 40-Jährige dahin, etwa
Egon Schiele und seine Frau. Unmittel-
bare Todesursache war wie heute meistens
eine Lungenentzündung, 99 Prozent der
Opfer waren unter 65 Jahre alt. In Europa
und den USA starben mehr Menschen als
im Ersten Weltkrieg, weltweit nach jüngs-
ten Berechnungen an die 50 Millionen.
Die bei der arbeitenden Bevölkerung
meist milde verlaufende Coronavirus-Pan-
demie legt den internationalen Verkehr und
das gewohnte Leben lahm, mit unabsehba-
ren ökonomischen Folgen. Dabei ist Covid-
19beiweitemnichtsoinfektiöswiedieSpa-
nische Grippe. Wie wir dastünden,wenn
auch diesmal die Opfer junge Menschen
wären und die Ausbreitung noch schneller
verliefe, malt man sich lieber nicht aus.
Doch ein ebensooder noch gefährlicherer
Erreger kann jederzeit auftreten.


Exponentielles Wachstum


Wenige Monate vor der Coronavirus-
Pandemie wurden Millionen Menschen für
die Folgen einer weiteren Aufheizung des
globalen Klimas sensibilisiert. Und nun
das. Auf das Klimaproblem reagierte die
Politik etwa mit der Forderung von Angela
Merkel, die Wirtschaft dürfe unter den ein-
geleiteten Maßnahmen nicht leiden. Dies
kann nur als klare Absage an all jene ver-
standen werden, die ein Wirtschaftssystem
infrage stellen, das auf kontinuierliches
Wachstum angewiesen ist. Ausdruck die-


serHaltungistdiepolitischeForcierungdes
E-Autos.EsfährtineineSackgassedertech-
nischen Evolution, weil für die Akkus gro-
ße Mengen mehr oder weniger schnell da-
hinschwindender Rohstoffe gebraucht wer-
den. Man will das eine, die Reduktion des
CO 2 -Ausstoßes durch den Straßenverkehr,
auf Kosten des anderen erreichen, nämlich
der endlichen Vorräte. Hauptsache, es geht
weiter wie bisher.

EinWink,ein Fingerzeig


Hellmut Butterweck

Eine Durchhalteparole, gesehen in Wien: Ruhig bleiben, Hände waschen!

Foto: EPA

/C

hristian Bruna

Pandemie und Sinnsuche


DieUmdeutung der Coronavirus-Krisezur existenziellen Chancesollte wie dieVerharmlosung und blindePanik dringlichste Kritik erfahren


Nico Hoppe

G


efährlich werden Krisen
dann, wenn sie ein Ausmaß
erreichen, in dem sich of-
fenbart, wie die einzelnen Men-
schen im Katastrophenfall wirk-
lich ticken. Auch angesichts der
grassierenden Coronavirus-Pan-
demie werden vorher sorgsam
aufrechterhaltene zivilisatorische
Hemmungen schnell fallengelas-
sen.Währendessichdieeinenzur
Aufgabe machen, realitätswidrig
und mit eigentümlicher Borniert-
heit so zu tun, als gäbe es keinen
Grund zur Sorge, werden anders-
wo Lebensmittel gehamstert, als
wäre die Apokalypse inklusive
massiver Lebensmittelengpässe
nur noch eine Frage von Tagen.
Der Enthusiasmus, mit welchem
die jeweiligen Krisenbewälti-
gungsstrategien zelebriert wer-
den, verweist nicht zuletzt auf die
groteske Mischung aus Angst vor
und Lust am Ausnahmezustand,
der als heroischer Grenzgang ima-
giniert und schöngeredet wird.
Ausdruck dieser Entwicklung ist


der offen artikulierte Versuch, je-
der Krise irgendeinen positiven
Sinn abzugewinnen.
Mit einer Mixtur aus zynischem
Pragmatismus und parolenhafter
Kraftmeierei werden die Phrasen
von der „Krise als Chance“ seit
einigen Tagen auch im deutsch-
sprachigen Raum wieder salon-
fähig gemacht: Im Deutschland-
funk bewarb der Soziologe Ort-
win Renn die Pandemie als „eine
Chance zur Entschleunigung“.
Die Politikwissenschafterin Ulri-
ke Guérot merkte auf Twitter an,
dass die Krise für „Demut“ und die
„Besinnung auf das, was wirklich
wichtig ist im Leben“, sorge. Das
zurSüddeutschengehörende Ju-
gendmagazinJetztschwärmte in
einem vor Erbaulichkeit und Pa-
thos triefenden Pamphlet über die
Möglichkeit kollektiver, von Zu-
sammenhalt geschwängerter Auf-
brüche, in denen sich die „Ver-
einzelung“ auflöst und „ein echtes
Wir“ entsteht. All diesen Be-
schwörungen ist der zwanghafte
Hang zum positiven Denken ge-
mein, das an den realen Gegeben-

heiten der Coronavirus-Krise al-
lein deswegen scheitert, weil sich
erst noch zeigen wird, ob diese
Pandemie tatsächlich den Keim
für Solidarität untereinander ent-
hält oder ob nicht vielmehr das
Gegenteil–Paranoia und Irratio-
nalität–gefördert wird.

Positivität um jeden Preis
Zudem tendiert jene dezidierte
Positivität dazu, sich dort, wo
sie betont, welche archaisch an-
mutenden Tugenden nun endlich
wieder entstaubt werden, dem
schicksalhaft erscheinenden Ge-
schehen von vornherein zu erge-
ben und sich mit dem Elend der
Pandemie abzufinden: Wo der
Fokus darauf liegen müsste, sich
vorerst in einem vernünftigen
Maß zu beschränken und nüch-
tern abzuwägen, um die weitere
Verbreitung des Virus zu verhin-
dern, verlassen jene Litaneien, die
in der Krise bereits den Vorschein
des Besseren vermuten, diesen
Rahmen komplett und geben sich
stattdessen gemeinschaftlichen
Schwärmereien hin. Keineswegs

soll das heißen, dass Debatten dar-
über, was eine solche Krise ge-
sellschaftlich bedeutet, per se
überflüssig sind. Angesichts des
noch nicht absehbaren Endes der
Krise sind sie derzeit jedoch nicht
nur vorschnell, sondern verges-
sen auch, dass Positivität um je-
den Preis dort Illusionen erzeugt,
wo deutlich werden müsste, dass
die Lage alles andere als rosig ist.
In Überschriften wie „Gegen das
Coronavirussindalle gefordert“
lässt sich der drohende Unterton
kaum verbergen. Er erinnert unan-
genehmdaran,dass dort, wo gefor-
dertwird, auchmit Konsequenzen
bei fehlendem oder schlicht nicht
möglichemTatendrangzurechnen
ist; dass grundlegende zivilisato-
rische Übereinkommen in Krisen-
zeiten schnell über Bord geworfen
werden. Im Zeichen von Schick-
salsergebenheitund Bejahung des
sche inbar Unvermeidlichen ge-
schiehtdies bereits, wenn dasCo-
ronavirus im Internetmit der Ver-
quickung von „Satire“und purer
Menschenfeindlichkeit als „Boo-
mer-Remover“,also alsInstrument

zur schnellen Dezimierung der
Alten undimjunggeblieben-mi-
santhropischenDenkenÜberflüs-
sigen, bezeichnet wird. Beimöf-
fentlich-rechtlichen Portal Funk
pflichtete man bei: Mit dem Coro-
navirus heile sich derPlanet, denn
„es rafft die Altendahin, aber die
Jungen überstehen diese Infektion
nahezu mühelos“. Was sich dort
nochals gewagter Humor ausgab,
lässt in Wirklichkeitein Überein-
kommenmit jenen Klimaaktivis-
ten entstehen, denen die Umwelt
schon immer mehr galt als die
Menschen, die in ihr leben. Für
diese fungiert das Virusvor allem
als „Klimaretter“, wie es in einem
„Plädoyer“beidemsichalskritisch
und meinungsstark aufspielenden
MagazinTelepolisheißt.
Ob man sich mehr Sorgen we-
gen der Pandemie oder wegen der
Reaktionen der Menschen darauf
machen muss, bleibt anlässlich
solcher kaltblütigen Enthemmung
vorsichtig abzuwarten.

NICO HOPPEstudiert Philosophie und
arbeitet als freier Journalist in Leipzig.

Mit Covid-19 rückte plötzlich die Dyna-
mik exponentieller Wachstumsprozesse
ins Blickfeld. Auch die Wirtschaft wächst
exponentiell, und derzeit muss sie es tun,
wenn die Arbeitslosigkeit nicht explodie-
ren soll. Die Wirtschaftsleistung verdoppelt
sich nicht wöchentlich, sondern bei 1,5
Prozent kontinuierlichem Wachstum pro
Jahr in etwas mehr als 46 Jahren. Sollen
unsere Kinder anno 2066 doppelt so oft wie

wir ein neues Auto kaufen und in den
Urlaub fliegen, unsere Urenkel in 90 Jahren
den achtfachen Verkehr und die achtfache
Bautätigkeit ertragen und achtmal so oft
wie wir schnell eine Tasse Tee trinken? Um
einebestimmteWachstumsratezuerzielen,
müssen nämlich alle Bereiche entspre-
chend wachsen–oder Teile überproportio-
nal. Welche könnten das sein? Und wie soll
das Klima das aushalten?
Das Gerede vom qualitativen Wachstum
statt dem quantitativen ist eine schöne Illu-
sion. Wirtschaftswachstum drückt sich in
der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
aus, sonst ist es keines. Steigerungen der
Qualität gehen nur dann in sie ein, wenn
die Produkte auch teurer werden. Der tech-
nische Fortschritt findet heute aber groß-
teils bei sinkendem Einsatz von menschli-
cher Arbeit und gleichbleibenden oder sin-
kenden Preisen statt. In meinem BuchStaat
wach auf!(Böhlau, Wien 2019) exemplifi-
ziere ich das anhand der Autopreise.

Zügelloses Gewinnstreben
Zu den Wachstumsgrenzen, zum Klima-
problem, zur Verschleuderung von Res-
sourcen, zu einem brüchigen Wohlstand
auf Kosten aller nach uns lebenden Gene-
rationen kommt nun, durch Corona, die
drastische Erinnerung daran, dass sich
unsere technische Zivilisation durch im-
mer engere und kompliziertere Verflech-
tungen und einen anschwellenden Luftver-
kehr auch immer verwundbarer macht –
durch ökonomische Störungen, aber, wie
sich jetzt zeigt, auch durch Naturkatastro-
phen aller Art. Corona lässt uns noch ver-
hältnismäßig glimpflich davonkommen.
Wer an Gott glaubt, kann in Corona seinen
deutlichen Fingerzeig sehen. Wer nicht an
Gottglaubt,einenWinkdesgroßenDemiur-
gen namens Zufall.
Die treibende Kraft unserer Wirtschaft
ist das menschliche Gewinnstreben unter
AusschlussjederindieZukunftblickenden
steuernden Intelligenz. Es gibt keine In-
stanz, die einem überschießenden Gewinn-
streben Zügel anlegen könnte. Wenn wir
auch jetzt noch nicht beginnen, darüber
nachzudenken und einen von allen Vorga-
ben nach dem Muster von Merkels „Aber
die Wirtschaft darf nicht leiden“ freien Dis-
kurs über unsere Art zu leben einzuleiten,
ist uns möglicherweise wirklich nicht mehr
zu helfen.

HELLMUT BUTTERWECKwar Wissenschaftsredak-
teur und Theaterkritiker und schrieb Theaterstücke,
Hörspiele sowie ökonomische und zeitgeschicht-
liche Bücher, darunter ein Standardwerk über die
österreichische Nachkriegsjustiz.
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