AlbumA2 Samstag, 21. März 2020
te, nie dazu, sie je zu entdecken.
Die Barriere existiert, auch heute.
Ich mache mir das immer wieder
klar, weil ich zurückschauen
kann. Bis ganz nach hinten, an das
andere Ende, von wo ich herkam,
dort, wo Literatur nichts zählt,
eine Spinnerei darstellt.
In meinem Schreiben möchte
ich Anschlussstellen bieten und
dennoch die Sprache nicht verra-
ten. Das heißt nicht, dass Literatur
ausschließlich einen Nutzen ha-
ben muss. Aber sie soll sich offen-
halten, meine ich. Das Wichtige
ist, dass es Lesende gibt, die sich
in der Literatur erkennen und so
aus ihrer Einsamkeit erlöst wer-
den. Dass sie lesend Handlungs-
möglichkeiten einüben. Das kann
von Anweisungen, wie man ge-
gen einen übermächtigen Fisch
kämpft, sich aus restriktiven Fa-
milienverhältnissen löst, bis zur
Lust an Rhythmen und lautmale-
rischen Worten reichen. Dieses
Hineinschlüpfen in andere We-
senheiten, so wie bei Schneeweiß-
chen und Rosenrot. Dort ist der
Ort, an dem Le-
sende und Schrei-
bende einander
begegnen.
Sabine Scholl,
„O.“.€22,–/300 Sei-
ten.Secession, 2020
AlbumA2 Samstag, 21. März 2020
Wenn die Nachrichten konsu-
miert worden sind, das Bier und
der Rotwein getrunken, das gute
Buch gelesen, das Mittagessen
gegessen, die 25. Staffel der Net-
flix-Serie vonAbis Zange-
schaut, der Kleiderkasten aufge-
räumt ist, die Telefonate mit Fa-
milie, Freunden und Bekannten
absolviert, die Zehennägel ge-
schnitten sind, wenn all das pas-
siert ist und stattgefunden hat
und einem auch die Sit-ups und
Liegestütze im Wohnzimmerzum
Hals heraushängen, dann, ja dann
kann es in interessanten Zeiten
wie der unserenmanchmal ein
bisschen langweilig werden.
Aber nur keine Panik. Selbst
wenn alle Stricke reißen, bleibt
immer noch ein letzter verlässli-
cher Ausweg und Zeitvertreib:
sich ins Bett legen und einfach
die Zimmerdecke anschauen.
Meditative Deckenschau. Dem
Club der Ceiling-Watchersbeitre-
ten. Kein Mensch weiß, wie lange
wir noch zu unserem neuen
knastoiden Lebensstil verpflich-
tet sein werden.Man tut also gut
daran, sich mit seiner Zimmerde-
cke anzufreunden. Man wird sie
in nächster Zeit vermutlichhäu-
fig zu sehen bekommen.
Leicht fällt mir das Mich-An-
freunden nicht, denn meine
Zimmerdecke ist alles andere als
attraktiv. Es tut mir leid, dies so
grob formulieren zu müssen,
aber es ist wahr. Sie verfügt über
keinerlei fantasievolle Stuckatu-
ren, keine Intarsien, keine schö-
nen alten Holzbalken, die sie
anmutig strukturieren, von köst-
lichen Deckenmalereienàla
Michelangelo einmal ganz zu
schweigen. Nein, sie ist quadra-
tisch, praktisch, nicht ungut,
reinweiß gepinselt und in der
Mitte mit einer Leuchte in der
Form eines unregelmäßigen Di-
nosaurier-Eis versehen. Damit
hören sich die Lustbarkeiten und
Attraktionen, die sie zu bieten
hat, aber auch schon auf.
Das Aufregendste, wozu sie
sich anböte, wäre eine exakte Be-
schau aller Schlieren und mini-
malen Unregelmäßigkeiten, die
der Malermeister bei seiner
Arbeit hinterlassen hat. Womög-
lich ließe sie sich auch als Pro-
jektionsfläche für allerlei Ideen
verwenden, die einem so durch
den Kopf schießen, als eine Art
Überkopf-Rorschachtest, auf der
hehre, reine und schmutzige Ge-
danken Platz finden können. Zu
sehr viel mehr, fürchte ich, ist
die Zimmerdecke nicht zu ge-
brauchen, aber ich bin ihr ja al-
leine dafür dankbar, dass sie mir
nicht auf den Kopf fällt. Mal
sehen, ob dies in sechs, sieben,
acht, neun, zehn, elf Wochen
immer noch der Fall ist.
Meine neue Freundin,
die Zimmerdecke.
Blickenachoben
als Zeitvertreib
DA MUSS
MAN DURCH
Die Krisenkolumne
Von Christoph Winder
AlbumA2 Lesen in Zeiten von Krisen Samstag, 21. März 2020
iFortsetzung vonSeiteA1
Sabine Scholl,geb.
1959 in Grießkirchen,
ist Schriftstellerin.
Sie lebteinden USA,
Japan, Berlinund jetzt
wieder in Wien.
Foto: Corn
durch Worte sie ihrer Erlösung
dennoch näher. Denn eigentlich
wollte sie ihr Leben lang nur ster-
ben. Was ihr schließlich gelang.
Die Bücher haben meine Mutter
aber auch zum Schreiben ange-
regt. Ich denke nicht gern daran.
Weil diese Worte, die sie in end-
losen Briefen zu Papier brachte,
dazu dienten, ihr todessüchtiges
System festzumauern.
Viel zu spät erst bat ich sie, die-
se Manifeste ihres Schmerzes
nicht mehr an meine Adresse zu
schicken, weil mein eigenes Le-
ben viel zu schwierig geworden
war. Nach ihrem
Tod fragte mein
Vater, ob er den
Wust ihrer Schrif-
ten durchlesen
solle, und ich sag-
te Nein. Also hat er
alles so gelassen.
Die Bücher, die
Nähmaschine, die
Briefe, die Musik-
kassetten, die sorg-
fältig geordneten Nähgarnrollen,
die Reißverschlüsse, die Stoffres-
te, die Saumbänder, gerollt und in
Laden geräumt. Ihre selbst ge-
strickten Jacken hängen seit fast
neun Jahren an der Garderobe
gleich beim Eingang. Ich vermei-
de es, dieses Zimmer zu betreten,
wenn ich zu seltenen Anlässen
das Elternhaus betrete, weil ich es
überhaupt vermeide, das Eltern-
haus zu betreten. Die Nähstube ist
ein Schrein der Hilflosigkeit, der
auch die Literatur nichts ent-
gegensetzen konnte.
Gegen dieses Erbe, das ich in
mir trage, hilft der Schreibtisch.
Die Hilflosigkeit bringt mich zum
Schreiben. Dieser Horror ist mein
Motor. Deswegen fange ich immer
wieder an. Weil ich in Texten mit
Sprache eine Welt entwickle.
Eine, die ich nicht kenne, bevor
ich beginne. Die sich mir öffnet.
Für die ich schwitze und um die
ich bange. Und der ich schließlich
wieder entkomme, reicher an
Erfahrungen und unerlöst. Durch
Erzählen kann ich überleben,
durch Geschichten zögere ich den
Tod hinaus.
Worte können trösten
Um feststellen zu können, ob
die Literatur ein Mittel gegen Hilf-
losigkeit darstellt, ist es nötig, zu
unterscheiden, ob wir von Lesen-
den oder Schreibenden sprechen
und ob es sich beim Geschriebe-
nen um Literatur handelt. Dass
Schreiben, sich eine Erzählung
für schmerzhaftes Geschehen
schaffen, hilft, ist inzwischen
neurowissenschaftlich erwiesen.
Worte können trösten. Ihr Klang
entscheidet über die emotionale
Färbung, die sie auslösen. Ihre
lautlichen Strukturen evozieren
Bilder des Gegenstands, den sie
benennen. Allein das Wort hüpfen
zu hören löst Reaktionen in
Gehirnarealen aus, die die Bewe-
gungen des Hüpfens aktivieren.
Schreiben kann heilen, psy-
chisch, sogar physisch. Aber das
heißt erstens nicht, dass daraus
auch immer Literatur wird, und
zweitens wirkt Literatur nicht per
se einfach ins Blaue wie die Luft
oder die Düfte, die Kräuter und
Blüten verströmen. Zu Literatur
muss der Zugang gefunden wer-
den, und das ist bei weitem nicht
selbstverständlich. Wenn es keine
Bibliotheken, keine Schulen, kei-
ne Lehrerinnen mehr gibt, die das
Lesen fördern, kommen diejeni-
gen, denen Literatur helfen könn-
malige Bubenzimmer, richtete
sich dort eine Nähstube ein. Weil
Nähen nützlich war und sie sich
dadurch eigenes Geld verdiente.
Aber sie hortete dort auch Bü-
cher. Las viel. Sie war unglück-
lich. Immer schon. Suchte sich
Lektüre, die ihr das Unglück nicht
nur erklärte, sondern bestätigte.
Sie war es ja gewesen, die uns Kin-
der mit der mächtigen Welt der
Sprache bekanntgemacht hatte.
Das Essen, die Kleider, die Spra-
che waren ihr Zutun. Die Mär-
chenwelt. Das zerrissene Fell des
Bären. Da schimmerten wertvolle
Seidenstoffe durch, die den Kör-
per eines Prinzen darunter andeu-
teten. Die Zerrissenheit, nicht zu
wissen, welches von den beiden
Mädchen ich war. Schneeweiß-
chen oder Rosenrot? Jahrelang
war ich auch Rotkäppchen und
lief mit meinem Korb zwar nicht
durch den Wald, aber den Fluss
entlang ins Haus meiner Groß-
mutter. Jahrelang hingen flache
Stoffzwerge an meinem langen ge-
bauschten Rock. Identifikationen,
die meine Mutter mir nahege-
bracht hatte, mittels Sprache und
Nähmaschine.
Für sich selbst suchte meine
Mutter die düsteren Geschichten
aus und bestand darauf. Die Kom-
munikation misslang. Erbitterte
Streitereien. Die Bücher, die ich
ihr schenkte, vergrößerten den
Graben zwischen uns. Was sie da-
von nicht verstand, entäußerte
sich als Vorwurf. Ich wolle ihr mit
der Auswahl dieser Bücher vor-
führen, dass sie dumm sei, die
Welt nicht begreifen könne, in die
ich mich inzwi-
schen begeben hat-
te. Trotz aller Ver-
bote. Ich wolle ihr
zeigen, dass ich
klüger sei als sie.
Wolle sie herunter-
machen. Meine
Mutter hatte die
Hilflosigkeit als
einzige Form ihrer
Existenz erlernt.
Die Literatur, die sie las, konnte
diese Gegebenheit verstärken.
Ihren Lesestoff wählte sie gemäß
ihrerdunklenStimmung.DasBild
der Welt, das sie sich daraus zu-
sammensetzte, kam ohne Hoff-
nung aus. Je selbstzerstörerischer,
desto besser. Sprache diente dazu,
noch inniger zu schweigen.
Literatur befreit nicht selbstre-
dend aus der Hilflosigkeit, weil
die Worte und inneren Bilder je
nach den Bedürfnissen des Lesen-
den interpretiert werden. Es gibt
immer mehrere Möglichkeiten,
einen Text auszulegen. Meine
Mutter schuf sich im Lesen eine
Festung, in die niemand dringen
sollte. Indem sie diese Mauern er-
richtete,brachtedieBestätigung
Als Kind gelangesmir, im Lesen für die Dauer eines Buches alles um mich herumzuvergessen.
Foto: picturedesk.com
ALBUM
Mag. Mia Eidlhuber(Ressortleitung)
E-Mail: [email protected]
Wie viele Leute waren
da vor mir in der U-Bahn
an der Halteschlaufe?
Eine neue Art von
Händewaschen
D
ass man sich jetzt die Hän-
de wäscht, bewusst, das ist
neu, ein anderes Hände-
waschen als das, was man bisher
gemacht hat, nachdem man viel-
leicht sein Fahrrad repariert hat
oder in der Erde gewühlt.
Mir ist beim jetzigen Händewa-
schenaufgefallen, dass ich mir bis-
her nie bewusst die Hände gewa-
schenhabe,vollerVerachtung hab
ich die Männer immer angeschaut,
auf öffentlichen Klos, nachdem sie
also das gemacht haben, was man
eben so macht, so als hätten sie
sich an sich schmutzig gemacht,
dabei ist doch in der Regelder In-
timbereich stets sauber, sauberer
zumindestals etwa die Füße, wer
wäscht sich denn bewusst täglich
die Füße? Sie werden doch so „mit-
genommen“, wenn man sich
duscht, sie sind so weit weg von
uns, am anderen Ende unserer
Körper, anders als die Hände, sie
sind uns näher, sind sichtbarer, sie
sind die Hauptdarsteller, alles,
was sie machen, geschieht unter-
bewusst, alles passiert automa-
tisch,ein eingespieltesTeam, auch
dass wir uns so oft mit ihnen in
unserGesicht fassen, das bekom-
men wir gar nicht mit, vorher noch
an so vielen Türklinken, an Gelän-
dern, im Bus an der Halteschlaufe,
an der so viele andere Hände wa-
ren, die ebenfalls in den Gesich-
tern ihrerBesitzer waren, plötzlich
wirddas allessichtbar, Geschich-
ten des Ekels, Biografien, Schick-
sale,wie viel Leute warenda vor
mirander Schlaufe und sind dann
also auch durch mein Gesicht spa-
zieren gegangen?
Jetztein echtesVirus
Hygiene war bisher einWort,
mit demman seinen Geistreinge-
halten hat, sich geschützthat vor
demganzen Müll und den schlech-
ten Witzen und lahmen Reflexen
in den sozialen Tummelplätzen,
den Robotern, den Bots, die die Vi-
ren im Kofferhaben, der Paranoia,
der Angst,der gespielten Stärke,
den verborgenen Schwächen, und
jetztplötzlich tritt das alles an die
Oberfläche, sichtbar gemacht
durch ein echtes, kein elektroni-
sches Virus, das man paradoxer-
weise nicht sehenkann, aber von
dem man erzähltbekommt,von
dem jetzt alle wissenund vor dem
jeder warnt, sichtbardurchdas
Unsichtbare,jetzt tummelt sich et-
was auf uns, es könnte sich etwas
auf uns tummeln, davon gehen wir
aus, das haben wir gelernt.
Dasist gutso, irgendwann wa-
chen alle auf und beginnen zu se-
hen und sich bewusst zu waschen
und einen kleinen Abstand zuei-
nander zu halten, man küsst sich
nicht mehr, Umarmungen entfal-
len, das, was mir sowieso schon
immer ein Rätsel war, Zeitver-
schwendung, mit Zuneigung hatte
das meines Erachtensnichts
zu tun, das ist unreflektiertes
Schwarmverhalten, jetzt ist das ge-
fährlich, die Herde ist der Herd,
das hab ich nicht gewollt, ich woll-
te euch dafür auch nicht verach-
ten, auch nicht, dass man sich die
Hände wäscht, ich dachte, Viren
machen uns immun, stärken uns,
aber jetzt ist es nicht mehr so,
nichts ist mehr so, alles muss um-
gedacht werden, neue Regeln wer-
den gemacht, jetzt waschen wir
uns die Hände, damit wir uns ir-
gendwannmal wiedertreffen, um-
armen und küssen können.
Tex Rubinowitz
Um feststellen zu
können, ob die Literatur
ein Mittel gegen Hilf-
losigkeit darstellt, ist es
nötig, zu unterscheiden,
ob wir von Lesenden
oder Schreibenden
sprechen...
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