Samstag, 21. März 2020 AlbumA3
Industrie zur Kompensation ihrer Verluste
die Produktion wieder hochfahren wird
und motorisierte Sardinenbüchsen wie eh
und je die Menschen bei Arbeit und Urlaub
abliefern.
Doch der Keim der Subversion ist gelegt,
wenn das Vogelzwitschern da draußen da-
von kündet, dass es auch ganz anders ge-
hen könnte: nicht von kitschiger Eintracht
mitderNatur,sonderndavon,dassderLärm
der Wachstumsmaschine nicht den natur-
notwendigen Soundtrack unseres Lebens
vorstellt. Wenn durch den Horror Vacui be-
engterFamilienverhältnissederstupideAb-
lauf von Hackeln und Shoppen als recht be-
scheidene Façon des eigenen Menschseins
durchschaut wird und all die Talkshows,
Serien, Gewinnspiele, digitalen Selbstdar-
stellungen, Lovesongs und automatisierten
Mut-Schweiß-und-Tröpfchen-Ansprachen
nicht mehr erquicken und ablenken können
von den doch recht einfachen Fragen, war-
um die soziale Schere unterschiedliche Le-
benserwartungen, unterschiedliche Stress-
und Zufriedenheitsniveaus, unterschiedli-
chen Zugang zu medizinischer Versorgung,
sozialer Infrastruktur und den Grundgü-
tern des Lebens und folglich unterschied-
lich starke Immunsysteme bedeutet; wei-
ters wozu der ganze produzierte Plunder
und seine Produktionsmaschinerie gut sind,
wenn nicht zu ihrem eigenen tumorhaften
Wachstum und der Wohlfahrt ihrer Profi-
teure, und warum es lachhaft wäre, wenn
die höchste Produktivität aller Zeiten nicht
die Wohlfahrt ausnahmslos aller garantie-
ren könnte.
Zum Schluss die Auflösung der kniffeli-
gen Corona-Dialektik: Die autoritären Maß-
nahmensindnotwendig,umdieAnsteckung
zuunterbinden.Zugleichsindsieaberprak-
tische Manöver zur Unterbindung mögli-
cher Konsequenzen dieser autoritären Maß-
nahmen. Der Schuss kann nämlich immer
nach hinten losgehen. Zum Beispiel dann,
wenn der Ausnahmezustand nicht zur Fes-
tigung von Untertanengeist, Dankbarkeit
und Patriotismus, sondern zu wahrer De-
mokratisierung führt. Wenn unsere „Syste-
me“ irgendwann nach Ostern wiederauf-
erstehen und dann flugs –
zugunsten humanerer –
zur Hölle fahren.
RichardSchuberthistfreier
Autor und lebt in Wien.
Zuletzt erschien von ihm
„Narzissmus und Konformität“
beim Berliner Matthes-&-Seitz-
Verlag (2019).
D
ass Sebastian Kurz die erste ÖVP-
Generation repräsentiert, die nicht
mehr ministriert hat, merkt man,
wenn er sich bei seinen Mut-
Schweiß-und-Tröpfchen-Ansprachen in
Predigerpathos übt. Am 13. März hoffte er
vor laufender Kamera auf eine „Wiederauf-
erstehung unserer Systeme nach Ostern“.
Würde er das christliche Glaubensbekennt-
nis kennen, aus dem er seine schiefen Bil-
der baut, wüsste er, dass alles, was um Os-
tern herum wiederaufersteht, sich nicht
lange mit irdischem Alltagsquatsch auf-
hält,sonderndirettissimo gen Himmel düst,
um zur Rechten Gottes, des allmächtigen
Vaters, zu richten die Lebenden und die
Toten.
Nimmt man den verhinderten Ministran-
ten Kurz also beim Wort, das er nicht ver-
steht, so wird nach Corona nichts beim Al-
ten bleiben. Das gibt Anlass zur Sorge, birgt
aber wie jede historische Kippbewegung
auch wunderbare Chancen in sich.
Das Erschreckende und zugleich Faszi-
nierende an Katastrophenszenarienist nicht
allein, dass alle ein bisschen überschnap-
pen, sondern dass der Wahn wie ein Retro-
virus auch die Vernunft befällt und deren
genetische Codes dupliziert. Richtiges wird
aus falschen Motiven behauptet, Falsches
bedient sich richtiger Argumente. Die Lin-
ke zum Beispiel ist gespalten in radikale
Quarantänisten und Etatisten auf der einen
und Corona-Verharmloser und Diktatur-
warner auf der anderen Seite. Dass in jedem
politischenLager ähnliche Spaltungen exis-
tieren–rechte Virusrassisten contra Fans
der natürlichen Auslese, liberale Etatisten
gegen Boris Johnsons Masernparty zur Ret-
tung britischer Wettbewerbsfähigkeit –, lie-
fert den Linken einen reichen Fundus an
gegenseitigen Vorwürfen.
Ob die Angst vor der tatsächlichen Ge-
fährlichkeit des Virus nun überzogen ist
oder nicht, die drakonischen Maßnahmen
dagegen sind es nicht. Denn um wie viel
höher die Todesrate bei Covid-19 als bei
der Influenza ausfällt, scheint weniger re-
levant, als durch Verzögerung der Epide-
mie die meist unvorbereiteten und krank-
gesparten nationalen Gesundheitssysteme
vor ihrer Überlastung zu bewahren. Und
die politischen Systeme vor der Peinlich-
keit, ihre Distanz zu elementaren zivili-
satorischen Grundstandards einzubeken-
nen, die der Sozialstaat einmal gewährleis-
tete und derjenige der Zukunft gewährleis-
ten muss.
Manche Kritiker wie Giorgio Agamben
scheinen nicht befähigt zu sein, ihre rich-
tige Analyse von Biomacht und Ausnahme-
zustand ohne eine Verharmlosung der Co-
rona-Gefahr zu formulieren. Leider ist es
komplizierter. Was Türkis-Grün tut, ist
grundvernünftig und problematisch zu-
gleich. Eine neoliberale Re-
gierung nimmt nicht aus Jux
und Tollerei eine Rezession
in Kauf und verzichtet auf
ihren ideologischen Fetisch
des Nulldefizits. Demons-
trationen sind ebenso unter-
sagt wie Gottesdienste. Und
wenn Sebastian Kurz ver-
kündet, der Schutz älterer
Menschen habe oberste Prio-
rität, hat das schlicht mehr
ethische Glaubwürdigkeit, als zugunsten
der Kritik an Vater Staat Mutter Natur tau-
sende Alte und Kranke mehr zu opfern. Um
der Theorie vom Putsch per Notverordnung
mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, müs-
sen ihre Vertreter das Virus zum medialen
und politischen Konstrukt erklären. Dabei
wäre das nicht notwendig.
Dieschleichende Transformationder bür-
gerlichen Demokratien als Bewahrerinnen
von Eigentum und Kapitalverkehr zu popu-
listischen Führer-Demokraturen vollzieht
sich seit Jahrzehnten, der Notstand bietet
bloß eine praktische Gelegenheit, einige
Etappen zu überspringen und das Modell
des „Verantwortungsuntertanen“ zu testen.
Dessen Gefahr besteht nicht in der ver-
mutlich notwendigen Einschränkung von
Grundrechten, sondern in der Gewöhnung
CoronaalsBadundKurzalsGoodCop
Die Notverordnungen sind beides: unverzichtbare epidemiologische Maßnahmen
und Einübungen in den autoritären Staat. Unglück im Unglück sind sie–und Chance.
Samstag, 21. März 2020 Essay AlbumA3
So ein Virus ist aufgrund seiner Gesichtslosigkeit das ideale konzeptuelle Alien für die gesamte Nationalfamilie.
Foto: Helmut Fohringer
daran, in jenemkollektiven Stockholm-Syn-
drom, das jetzt schon–der Lenz ist da–ers-
te Symptome der Verliebtheit in den un-
widerstehlichen Charme einer Souveräni-
tät zeitigt, „die über den Ausnahmezustand
entscheidet“ (C. Schmitt). Corona als Bad
und Kurz als Good Cop arbeiten vorbildlich
zusammen.
So ein Virus ist aufgrund seiner Gesichts-
losigkeit das ideale konzeptuelle Alien für
die gesamte Nationalfamilie, es trägt weder
jüdische noch islamische Züge, kommt we-
der von der Wall Street noch vom Kreml,
ohne schlechtes Gewissen lässt es auch den
progressiven Besserverdiener sich gutes Ge-
wissen bezüglich nationaler Einheitsfront
und Entmündigung machen. Ob berechtigt
oder nicht, Angst ist der Lieblingsnektar
aller autoritären Viren. Papa prügelt Mama,
kürzt uns Kindern das Taschengeld, bevor-
zugt seinen Sohn aus erster Ehe und jagt
die Flüchtlingskinder vor der Tür mit der
Schrotflinte davon. Doch Virus, Zombies
und Aliens haben uns gezeigt, wie lieb wir
Papa dann doch haben, denn schließlich
sind wir Family ...
Nein, sind wir nicht. Der Staat hat
schlichtweg die Verantwortung, seine Be-
wohner zu schützen. Das ist kein Grund
zur Sentimentalität. Je we-
niger Gesellschaft, umso
mehr muss Gemeinschaft
verordnet werden. Wir sind
kein Team, wie Kurz mit En-
gelszungen verkündet, son-
dern ein von willkürlichen
Staatsgrenzen umfangenes
Sammelsurium konträrer
Interessen, die umso un-
versöhnlicher ausfallen, je
mehr der Staat die Interes-
sen weniger bevorzugt.
Der wahre Horror des Coronavirus ist,
wie sehr es–national, europaweit und im
Verhältnis reicher zu armen Staaten–die
volle Klassengrausamkeit und soziale Fra-
gilität des neoliberalen Regimes entblößt.
WährendMacronausAngstvorgelbenWes-
ten Zwangsverstaatlichungen in Aussicht
stellt, entdeckt Kurz den Jungpfarrer in sich
und predigt sorgfältigen Umgang miteinan-
der –einer nationalen Familie, deren Mit-
glieder die Notverordnungen mit unter-
schiedlicher Härte trifft. Was für die einen
ein willkommener Kurs in selbsttherapeu-
tischer Bedürfnislosigkeit ist, bedeutet für
dieanderen–einHeerprekarisierterSelbst-
ständiger, Arbeitsloser, Kleinunternehmer,
Saisonniers, Leiharbeiter, Obdachloser –
eine unmittelbare existenzielle Bedrohung
und Betteln um Almosen, die für sie auf je-
den Fall geringer ausfallen werden als bei
denen, die too big to fail sind.
Wie exklusiv der Klub der nach Markt-
wert gestaffelten Anspruchsberechtigtenist,
verrät Kurz, wenn er in seinen Kurzpredig-
ten ausschließlich zu „lieben Österreichern
und Österreicherinnen“ spricht (während
sich Van der Bellen immerhin an „alle in
Österreich Lebenden“ richtet). Wie es sich
anfühlt, Ausländer zu sein, davon bekom-
men jetzt alle eine lehrreiche Lektion, die
einander im öffentlichen Raum als wan-
delnde Seuchenherde beargwöhnen, denn
eine der Kollateraleffekte der Epidemie ist,
dass sie keine Vorurteile kennt, die Vor-
urteile der Bedrohten aber brüderlich auf
alle Mitmenschen verteilt. Entgegen dem
obligatorischen Nationalgesülze von Team
und Community gibt die Krise das traurige
Ausmaß der Vereinzelung der Menschen zu
erkennen und Quarantäne und Ausgehver-
bot als Allegorie einer längst vollzogenen
sozialen Verkapselung.
Viele haben jetzt viel Zeit
Sie entlarvt zudem den wahren Charak-
ter der politischen Familienzusammenfüh-
rung durch soziale Isolierung: Während die
Polizei bereits eine Zusammenkunft von
fünf Menschen im Park auflöst, bleibt die
Ansammlung von Hunderten bis Tausen-
den in den Werkshallen der Produktion
nicht lebensnotwendiger Güter in der Tex-
tilindustrie, bei Swarovski, auf den Groß-
baustellen und bis vor einigen Tagen bei
VW erwünscht. Fernbleiben von der Arbeit
aus Angst vor Ansteckung gilt als Kündi-
gungsgrund. Magna Steyr schickte kürzlich
6000 Arbeiter und Arbeiterinnen bis 30.
März in Betriebsurlaub, nicht um ihre Ge-
sundheit zu schützen, sondern aus „Man-
gel an verfügbaren Teilen für die Gesamt-
fahrzeugproduktion“.
Die Maßnahmen dienen auch–bestimmt
nicht geplant–als Waffenübung gegen ein
weitaus gefährlicheres Virus. Sehr viele
Menschen haben jetzt sehr viel Zeit. Auch
zum Denken. Ein Erreger mit nicht zu un-
terschätzender epidemischer Potenz. Nein,
nicht allein die Bildungsbürger sind damit
gemeint, die ihre selbstgeernteten Zwiebeln
nun noch langsamer schneiden und aus
Dankbarkeit von ihren Balkonen die „Ode
an die Freiheit“ singen, ein Lied, zu dessen
Melodie sich die Wertegemeinschaft Euro-
pa vor Kriegsflüchtlingen schützt. Viel kol-
portiert ist die Corona-bedingte Erholung
von Luftqualität und Natur, die sich partout
inRauchschwadenauflösenwird,wenndie
Richard Schuberth
Was Türkis-Grün tut,
ist grundvernünftig und
problematisch zugleich.
Eine neoliberale Regie-
rung nimmt nicht aus Jux
eine Rezession in Kauf
und verzichtet auf ihr
Nulldefizit ...
„
“