AlbumA4 Samstag, 21. März 2020
vor Falschmeldungen. Es gilt die
höchste Reisewarnstufe. Was
bedeutet dasfürmein Kind?Was
für uns alle?
Ist es nicht gut, dass die Maß-
nahmen weniger streng sind als
erwartet? Aber es ist ein Kom-
promiss. Lokalöffnung bis 15
Uhr, das ist nicht Fisch, nicht
Fleisch. Jetzt läuten alle Glo-
cken. Seltsam. Um 15 Uhr. Ist
mir noch nie aufgefallen.
Die Frage ist, ob bis Sonntag
die „Tausendergrenze“ erreicht
ist, also mehr als 1000 Covid-19-
Erkrankungen in Österreich. Ich
mache Hochrechnungen, ver-
rechne mich ständig. In welcher
Zeitspanne verdoppeln sich die
Fälle? Alle zwei Tage oder täg-
lich? Ich bin nicht sicher. Wenn
es am Sonntag 1300 wären,
könnten es am Dienstag 1900
sein, ich komme auf immer ab-
surdereZahlenbiszumEndeder
nächsten Woche.
Am Donaukanal sind außerge-
wöhnlich viele Menschen unter-
wegs, vor allem Junge. Alle wir-
ken fröhlich und gelassen. Die
Sonne scheint. Ich sehe keine
Gesichtsmaske, keine einzige.
Samstag, 14. März 2020
Wir haben unseren Wochenend-
ausflug ins Weinviertel abge-
sagt. Mit wem war ich in den
letzten beiden Wochen in Kon-
takt? Vielleicht haben wir uns
längst angesteckt und entwi-
ckeln keine Symptome? Ich füh-
le mich gesund, aber das heißt ja
nichts. Ich gebe seit Anfang der
Woche nicht mehr die Hand,
Busseln ist eingestellt. Ich fahre
nicht mehr mit den Öffis, gehe
zu Fuß oder fahre mit dem Rad.
Ich habe am Mittwoch noch
einen letzten Termin im Kaffee-
haus gemacht, war am Donners-
tag mit einer Freundin Mittages-
sen. Wir saßen am Markt an
einem Tisch mit drei fremden
Studenten, alle sprachen von
Corona. Wer wo festsitze, USA,
Frankreich. Auch Corona-Witze
wurdengemacht:„Ichhabschon
Fieber.“ „Das trifft sich gut, ich
auch.“AberderErnst schimmert
durch. Die Ahnung: Das war
jetzt der letzte Lokalbesuch für
die nächsten Wochen. Eine
Freundin ruft an: Alle ihre Trai-
nings seien storniert, sie hat kei-
ne Arbeit. Auch mir wurden ges-
tern die allerletzten Termine für
März und April abgesagt.
Ich habe meiner Mutter noch-
mals empfohlen, nicht auf den
Markt zu gehen. Ich bin froh,
Donnerstag, 12. März 2020
Der Tag des ersten Covid-19-To-
ten in Österreich. „Bald haben
wir hier italienische Verhältnis-
se!!!“ Befreundete Ärzte, die bis-
her beschwichtigt haben, schrei-
benNachrichtenmitdreiRufzei-
chen. Hoffentlich nur, was die
Ausgangssperre betrifft, denke
ich. Das ist er also, Tag eins.
Bisher galt meine Sorge mei-
nem 18-jährigen Sohn, der gera-
de ein Freiwilliges Soziales Jahr
in Israel macht–und meiner 79-
jährigen Mutter, die als Diabe-
tikerin zur Hochrisikogruppe
zählt. In Israel wurden Maßnah-
men schon früher gesetzt als in
Österreich, keine Versammlun-
gen mit mehr als 100 Personen,
Einreiseverbote aus diversen
Ländern, strikte Heimquarantä-
ne nach der Einreise.
Wie wird das in Österreich
aussehen, wenn der Kanzler am
Freitag neue Maßnahmen ver-
kündet? Wann werden sie in
Kraft treten? Ab Montag ergibt
Sinn, weil so die meisten Pend-
ler an ihren jeweiligen Wohnor-
ten bleiben. 180.000 pendeln al-
lein täglich nach Wien, 80.000
aus der Stadt ins Umland. An-
geblich angedachte Maßnahmen
werden auf Social Media geteilt:
Jeder hat auf einmal eine Freun-
din, deren Bekannter gehört hat
...Ich werde ab morgen für mei-
ne Mutter einkaufen gehen. Sie
wohnt zum Glück nebenan. Als
Schriftstellerin arbeite ich zu
Hause am Laptop, für mich än-
dert sich also vorerst nicht so
viel. Zu Ostern wären wir nach
Italien gefahren. Der geplatzte
Urlaub kümmert mich wenig,
aber das Gefühl, nicht zu mei-
nem Kind reisen zu dürfen, ist
unheimlich und beängstigend.
Mich sorgt dieser Rückfall in
die Nationalstaaten, ein Land
nach dem anderen macht die
Grenzen dicht, es gibt kein ein-
heitliches europäisches Vorge-
hen. Die EU wirkt schwach. Ge-
rade bei dem globalen Problem
einer Pandemie sollte es ein
überstaatliches Vorgehen geben.
Ich habe gestern Lebensmittel
gekauft, nur eine Tasche voll für
das Wochenende. Und Narzis-
sen. Ich glaube, es wird wichtig
sein, Blumen im Haus zu haben,
wenn wir nicht rausdürfen.
Freitag, 13. März 2020
In einer Minute beginnt die Pres-
sekonferenz. Ich bin schon am
Laptop in den Livestream einge-
stiegen, weil ich fürchte, dass er
zusammenbrechen wird. Noch
gibt es Bild, aber keinen Ton.
Fünf nach geht es los: „... Auf Mi-
nimalbetrieb herunterfahren ...“
ist die zentrale Nachricht–und
dann: Paznauntal und St. Anton
am Arlberg unter Quarantäne.
Also doch! Ein typisches „Hl. St.
Florian, zünd’s Haus vom Nach-
barn an“-Gefühl stellt sich ein:
Erschrecken –und Erleichte-
rung. Es ist nicht Wien, das iso-
liert wird. Noch nicht? Ein Er-
kennen flackert auf: Das ist erst
der Anfang. Es betrifft uns alle.
Morgen wird ein erstes Hilfs-
paket beschlossen.
Italien habe „einen Vorsprung
von zwei Wochen“ mit 15.000
Erkrankungen. Es soll ein Be-
suchsverbot in Spitälern geben.
Und gleichzeitig bleiben die Lo-
kale bis 15 Uhr offen? Was soll
das? Der Innenminister warnt
„Das ist erst der Anfang“
Tanja Paar
CORONA-T
dass wir ihre Medikamente
schon letzte Woche besorgt ha-
ben. Sie soll in keine Arztpraxis
oder Apotheke gehen.
In Israel heute die nächste
Eskalationsstufe. Der „War on
Corona“ wird erklärt: alle Bars,
Shops, kulturellen und Sport-
einrichtungen geschlossen. Ge-
heimdienstliche Maßnahmen
werdengegenCoronaeingesetzt,
also Tracking einzelner Perso-
nen möglich gemacht, was qua-
si Bürgerrechte aussetzt.
Sonntag, 15. März 2020
Also kein Spaziergang mehr im
Prater. Dabei scheint die Sonne
so schön. Zum Glück haben wir
einen kleinen, begrünten Innen-
hof. In der Früh war klar: Die
Restaurants bleiben geschlos-
sen. Ich bin erleichtert. Ich
fürchte, dass die Menschen
nicht verstanden hätten, warum
sie nicht hingehen sollen, wenn
bis 15 Uhr offen bleibt. Über-
haupt herrscht Verunsicherung:
Muss ich in die Arbeit fahren,
wenneseineschriftlicheAnwei-
sung vom Samstag gibt? Muss
das Kind wie von der Lehrerin
angeordnet am Montag noch in
die Schule, um Arbeitsblätter
abzuholen? Zum Glück gibt es
Whatsapp und Telefon. Es gibt
nur noch drei Gründe, um raus-
zugehen. In der Sonder-ZiBam
Abend ist dann von vier die
Rede: Auch Gassi gehen, Joggen
allein oder mit einem Angehöri-
gen ist erlaubt. Ich fürchte, dass
das manche verwirrt. Auch das
Wording ist nicht einheitlich:
Einmal ist von Ausgangsbe-
schränkung die Rede, in Schal-
tungen aus Tirol von Verkehrs-
beschränkungen, andererseits
wird gesagt, die Regelung sei in
ganz Österreich die gleiche.
Dann wäre es wichtig, dasselbe
Wort zu verwenden. „Ausgangs-
sperre“ sagt noch keiner, das ist
sicher kein Zufall.
Montag, 16. März 2020
Ich war gerade am Eingangstor,
um es zu schließen. Ein Blick auf
die Straße, keine Schlange vor
der Trafik, keine vor dem Super-
markt. Aber es sind Menschen
unterwegs. Ich habe ständig den
SongIt’s the End oft the World as
We Know Itim Kopf. Auch der
Flugbetrieb wird demnächst ein-
gestellt. Ob Corona ein länger-
fristiges Umdenken bewirkt,
was das Fliegen betrifft? Wird
sich unser Konsumverhalten än-
dern?Ichglaube,vieleverstehen
erst jetzt, was Globalisierung be-
deutet. Jemand schreibt auf So-
cial Media, dass die Demi-Sel-
Butter aus sei. Ich bin gespannt,
wie lange der Galgenhumor an-
hält. Das neueste Schimpfwort:
Du Kitzloch!
Tanja Paarist
Schriftstellerin.
Sie warjahrelang
Redakteurin des
ΔTANDARD.
2018 erschien ihr
Debütroman.
Tanja Paar,
„Die Unversehrten“.
€17,90 /
160 Seiten.
Haymon-Verlag,
Graz 2018
Narzissen!
Ich glaube, es wirdwichtig
sein ,Blum en imHaus
zu haben, wennwir nicht
rausdürfen!
AlbumA4 Tagebücher Samstag, 21. März 2020
Montag, 16. März 2020
Es ist acht Uhr, ich hole meine
Tochter, vierte Klasse Gymna-
sium, von ihrer Mutter ab.
„Yeah!“, begrüßt sie mich. „Wir
haben jetzt vier Wochen frei!“
Bevor ich mich noch mit elterli-
cher Sorge über ihre Interpreta-
tion der Lage infizieren könnte,
beruhigt sie mich Boomer. In
Wahrheit hat sie längst einen
Plan, nach dem sie die versäum-
ten Unterrichtsstunden zu Hau-
se abarbeiten wird. In Englisch
muss sie ein Buch von Roald
Dahl lesen. „Die Frau Professor
hat gesagt, es ist mehr so für Kin-
dergartenkinder.“ Ihr Englisch
schult sie normalerweise eifrig
beim Schauen von Serien im
Original. Mal sehen, wie eifrig
sie lesen wird.
Um uns in der U-Bahn nicht
anzustecken, gehen wir zu Fuß
vom sechsten Bezirk in den 15.,
gehen diese Strecke wie der mi-
santhropische Jack Nicholson in
As Good As It Gets,weichen je-
dem aus, der wie ein Mensch
aussieht, und kommen sicher
nach Hause. Vor der Tür fragt sie
mich: „Hier wohnen wir also?“
Im städtebaulichen Verhältnis
zum Wohnort ihrer Mutter näm-
lich. „Die Krise“ bietet eine ers-
te Gelegenheit für lebenslanges
Lernen, heute: räumliches Ver-
ständnis.
Ich habe zwei Seifenspender
gekauft, einen gelben und einen
blauen:„Suchdireinenaus!“Sie
befummelt beide ausgiebig mit
ihren Händen („Nein!“) und ent-
scheidet sich für den gelben. Wir
lernen also gleich weiter, dies-
mal sich zu entscheiden, ohne
vorher alles anzufassen. „Außer,
du willst irgendwann heiraten!“
Die sonst üblichen Bussis und
Umarmungen werden per Ver-
ordnungausgesetzt,derEllenbo-
gengruß wird per Dekret einge-
führt.Umneunsitztsieanihrem
Schreibtisch, dass sie jetzt ein-
mal nicht rausgehen soll, findet
bei ihr überwältigende Zustim-
mung. Für eine 13-Jährige ist die
Wand an der Decke spannender
als draußen oder gar die Natur.
Ich selbst gehe einmal ins Büro,
um mir einen Kaffee zu machen.
Beim Rausgehen entwickelt
sich an der Tür–„Bitte, nach
dir!“–ein Fachgespräch mit der
Nachbarin: „Jetzt haben sie beim
Hofer nur noch das Klopapier
mit den rosa Herzerln, aber das
willichnicht.“Ichbieteihrmein
dreilagiges an, falls bei ihr alle
Stricke reißen sollten–man hilft
sich ja wieder! –, aber sie winkt
ab: „Ach was! Ich habe grad mit
meiner Mutter telefoniert, und
die hat gesagt, dass sie früher ...“
Die Älteren mögen manch guten
Rat parat haben, aber man muss
nicht jeden befolgen.
Beatrix, die jeden Tag mit
ihrem kleinen Hündchen in der
Allee vor meiner Bürotüre vor-
beikommt, schreit schon von
weitem: „Host scho amoi so vü
Depperte gesehen? Ka Müch! Ka
Joghurt! Nix krieagimehr! Wos
mochan de Deppatn olle mit
zehn Lita Müch? Weghauen in
zwaa Wocha!“ Das eröffnet
einen interessierten Blick nach
vorne: Wie viel von dem Zeug,
das wir jetzt unnötig einkaufen,
werden wir dann tatsächlich
wegschmeißen?
Am Abend tun uns die Ellen-
bogen weh, und meine Tochter
„Wollen wir die Bun
Manfred Rebhandl
hat das Roald-Dahl-Buch schon
fast fertig: „Es ist wirklich für
Kindergartenkinder.“ Nach dem
Händewaschen knotzen wir uns
auf die Couch und schauen eine
Hyänen-Doku. Hyänen, lernen
wir schon wieder was, sind gar
keine hinterhältigen Aasfresser,
sondern erfolgreiche Jäger. Bra-
vo! Ich zeige ihr im Internet die
Fotos von Pieter Hugo, der in Ni-
geria Männer mit ihren „Hyänen
an der Leine“ fotografiert hat,
riesige Viecher, die dort als
Haustiere gehalten werden. Wir
einigen uns darauf, uns eine
Hyäne anzuschaffen, sobald
man wieder rausdarf. Oder doch
einen Elefanten?
Vor dem Zubettgehen schau-
en wir in den Käfig, in dem unse-
re Maus Scratchy lebt, sein
Freund Itchy ist bereits verstor-
ben. Scratchy lebt seither allein
und gräbt und frisst sich im Kä-
fig durch die Klopapierrollen,
die wir ihm hineinwerfen. Wir
fragen uns besorgt, wie lange es
für ihn noch Klopapierrollen ge-
ben wird?
In der Nacht kreist ein, in
Beatrix’ Worten, „Depperta“ mit
seinem PS-starken Geschoss
durch die leeren Straßen. Wenn
ich eine Bitte an die Bundesre-
gierung äußern dürfte: Quaran-
täne auch für „Depperte“.
Dienstag,17. März 2020
Täglicher Anruf bei meiner Mut-
ter in Oberösterreich. Sie lebt al-
lein im Haus und erzählt fröh-
lich, dass ihr langsam die Spa-
ziergehfreundinnen ausgehen,
die Kaffeekränzchen auseinan-
derbrechenunddasssieumsechs
UhrfrühvonderTanteFrieda,die
ein Haus weiter vorn wohnt, an-
gerufenund an dasBereitstellen
der Mülltonne für die Müllabfuhr
erinnert wurde. Trotzdemklingt
sie fröhlich, sie ist, wie man heu-
te sagt, „resilient“ und hat Lebku-
chen für meine Tochter gemacht
–SpezialserviceeinerOmifürdas
Enkerl, dem jeder Wunsch er-
füllt wird. Aber was jetzt tun
Zeit,dieFensteraufzureißen!Ge
Samstag, 21. März 2020 AlbumA41
W
ie so oft brauchte ich
eine Therapiestun-
de, um festzustellen,
ob ich spinne oder
die anderen. Wie praktisch im-
mer stellte sich heraus, dass die
anderen spannen, einschließlich
meiner Therapeutin.
„Kein Händeschütteln?“, sagte
sie, zog eine Augenbraue hoch
und die Hand zurück. „Solche
Angst haben Sie?“
„Ich möchte mich ehrlich ge-
sagt auch nicht auf die Couch le-
gen“, sagte ich.
„Obwohl jeder Patient ein
eigenes Pölsterchen bekommt?“,
lächelte sie.
„Man kann auch neben das
Pölsterchen husten“, sagte ich
schuldbewusst und setzte mich
auf den Fauteuil, ohne die Arm-
lehnen zu berühren.
Hysterie, Soziophobie,Berüh-
rungsängste. Mysophobie: die
krankhafte Angst vor Ansteckung
mit Bakterienoder Viren. Symp-
tome: extremes Kontaktvermei-
dungsverhalten sowieüberstei-
gerterWasch-und Putzzwang.
Fünfzig Minuten lang erzählte
ich also von meinen Ängsten. Im
Familienkreise war mir unter-
sagt worden, über das Corona-
Virus zu sprechen, insbesondere
in Gegenwart meiner Schwäge-
rin. Sie war vor kurzem Mutter
geworden, und ihre Seelenruhe
würde am ehesten dadurch zu
gewährleisten sein, dass man
sie von Informationen zur In-
fektionsverhinderung tunlichst
fernhielt. Ein Freund erzählte
mir schmunzelnd, dass es in Ita-
lien nur deshalb so viele Corona-
Fälle gebe, weil dort so viel ge-
testet würde, den faszinierenden
Umkehrschluss implizierend,
dass das Virus durch Abschaf-
fung des Tests auf einfache Wei-
se beseitigt werden könne. Auf
Veranstaltungen und Dinner-
partys wurde gebusselt, was das
Zeug hielt, immunsupprimierte
und stark hustende Personen fie-
len einander um den Hals, wäh-
rend ich als schwarze Kassandra
körperkontaktlos herumstand
und verächtliches Gelächter
über meine „irrationale Panik“
zu hören bekam.
Ein bisschen fühlte ich mich
wie Camille Claudel. Sie soll an
der Wahnvorstellung gelitten ha-
ben, Auguste Rodin würde in ihr
Atelier einbrechen lassen, um
ihre Skulpturen zu zerstören –
was höchstwahrscheinlich da-
ran lag, dass Rodin in ihr Atelier
einbrechen ließ, um ihre Skulp-
turen zu zerstören.
„Woran könnte es liegen, dass
Sie das Coronavirus mehr in
Angst versetzt als andere Men-
schen?“, fragte meine Thera-
peutin.
„Weil ich italienische Zeitun-
genlese?“,sagteich.Sieschwieg.
Es war nicht nötig, dass sie etwas
sagte. Da man die Welt nicht än-
dern kann, ist der therapeutische
Ansatz immer der, dass der Pa-
tient etwas an sich ändern muss.
Das bedeutete im konkreten Fall,
dass ich mich besser fühlen wür-
de, wenn ich keine italienischen
Zeitungen mehr las.
Vielleicht,fuhrichfort,liegees
auch daran, dass ich die Reis-
korn-Parabel kenne und daher
eine deutliche Vorstellung von
exponentiellemWachstumhätte.
Ich hätte mich im Zusammen-
hang mit Vampirendamit be-
schäftigt. Der logische Haken an
allen Vampirgeschichten sei Fol-
gendes: Wenn jeder Vampir je-
den Monat einen Menschen aus-
saugen, also „infizieren“ würde,
wären schon nach wenigen Mo-
naten alle Menschen Vampire.
„Vampire ...“, sagte meine Thera-
peutinbesorgt.Ichendetemitder
Erklärung, dass meine größte
Angst darin bestehe, die österrei-
chischeBundesregierungwürde
sich genausoirrationalverhalten
wie mein durchwegs aus intelli-
genten Menschen bestehender
Bekanntenkreis. „Sogar Ärzte
spielen alles herunter!“, rief ich
und wusste, dass ich mich spä-
testens in diesem Moment argu-
mentativ ruiniert hatte.
Am nächsten Morgen verkün-
dete die österreichische Bundes-
regierung erste Maßnahmen zur
Eindämmung des Coronavirus.
Nun ging es ums Einkaufen. Be-
ziehungsweise um die entspann-
te Verweigerung, etwas einzu-
kaufen, zumindest nicht mehr
als das Übliche, am besten maxi-
maleinSemmerlundzweiÄpfel,
denn allesandere wäre ja dum-
mes Hamstern gewesen.
Alles Nötigebesorgen
IchbeschlossinallerRuhe,Le-
bensmittel, Tierfutter und Hygi-
eneartikel aufzustocken. Immer-
hin hatte ich lebenslange Erfah-
rung mit jenem entspannten Teil
der Bevölkerung, der uns Hyste-
rische mit Hohn und Spott über-
häuft, sich aber gnadenlos auf
uns verlässt. Bei einer Bergwan-
derung etwa pflege ich einen Li-
ter Wasser mitzunehmen sowie
etwas Wegzehrung für den Fall
der Unterzuckerung. Zunächst
werde ich ausgelacht wegen der
uncoolen Vorbereitungen und
der spießigen Schlepperei. Spä-
testens nach einer halben Stun-
de Aufstieg aber fleht man um
ein Schlückchen von meinem
Wasser, und nach eineinhalb
Stunden wird dramatisch an
mein Gewissen appelliert, doch
mein Jausenbrot an Bedürftige
abzugeben, bevor noch etwas
Schlimmes geschieht.
Nun also sagtendie Entspann-
ten: Wozu denn etwas einlagern
–wenn es so weit kommen soll-
te,dassmaninQuarantänemuss,
kann man noch immer Freunde/
Verwandte/Nachbarn bitten,
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Man kann aber,finde ich, seine
Umwelt schonen und sich um sich
selber kümmern, anstatt vor lauter
Lässigkeit die anderen zu Dienst-
leistungen zu zwingen.
Wer in Quarantäne mussund
nicht genügend Lebensmittel zu
Hause hat, verlässt sich darauf,
dass Menschen für ihn sorgen, die
noch nicht infiziert sind–mög-
licherweise weil
sie etwas „hysteri-
scher“, sprich vor-
sichtiger waren.
Bettina Balàkaist
Schrif tstellerin und
lebt in Wien. Von ihr
erschien zuletzt „Die
Tauben von Brünn“
(Hanser-Verlag).
Das Corona-Tagebuch
des Literaturhauses
Graz geht jeden
Freitagonli ne:
pwww.literatur-
haus-graz.at
„Wir Hysterischen!“
Für das Literaturhaus Grazschreiben20Autorinnen und Autoren ein
Corona-Tagebuch. GuterLesestoff–und eine Therapiesitzung.
Bettina Balàka
Samstag, 21. März 2020 Tagebücher AlbumA5
ndeshymne singen?“
damit, wenn wir am Wochenen-
de nicht kommen?
Das Enkerl macht sich hungrig
über„Bruchtermen“her.„Bruch-
termen“? Nie gehört. Sind das
Warmwasserrechnungen? Ich
gebe vor, zur Post in die Lugner-
City zu müssen. Auf dem Weg
dorthin wurde im Park die Hun-
dezone bereits von den Hunde-
besitzern aufgelöst, „die Krise“
wirkt auf manche wie die Einla-
dung, sich wieder aufzuführen.
„Die Lugner“ ist praktisch
leer. Vom Merkur herauf hört
man unglaublich laut das Ge-
räusch des Scanners (Frage: Wie
halten die VerkäuferInnen das
sonst eigentlich aus?), der Sex-
shop Orion ist geschlossen (Fra-
ge: Was ist eigentlich mit der
„Grundversorgung“ der Be-
völkerung?), und in der Trafik
verkaufen sie zurzeit vor allem
AsterixundMicky Maus-Hefterl,
Zigarettenhamsterkäufe waren
letzte Woche.
Im Internet verbreitet sich
über den Schachinger vom
ΔTANDARDder Begriff Kalsari-
känni, die finnische Entspan-
nungstechnik des Sich-Betrin-
kens in Unterhosen. Eine Freun-
din hat das entsprechende Emoji
geteilt und berichtet nun, dass
„die Geilheit im Internet“ bereits
auffallend zunehme: „Hast du
vielleicht Fotos?“, wird sie nun
(noch öfter) gefragt.
Verzweifelter als die Geilen
sindnurnochdieKulturschaffen-
den.Eserreic ht micheine E-Mail
mitderdringendenBitte,dieFor-
derung nach einem Grundein-
kommen für Künstler zu unter-
schreiben.Wirdgemacht,sobald
die elektronische Post raus ist:
„Hast du vielleicht ...?“
Mittwoch,18. März 2020
Die Tochter lernt jetzt Deutsch,
Multiple-Choice-Fragen, die sie
erstmalszumirtreiben.„Wasbe-
deutet ‚Etwas für bare Münze
nehmen‘“?–„Na ja, wenn du
den ganzen Schwachsinn in
den Schwachsinnszeitungen
glaubst?“–„Also soll ich ‚Etwas
Unwahrscheinliches glauben‘
ankreuzen?“–„Tu das!“
Zeit,die Fenster aufzureißen!
Gegenüber steht auf seinem
Halbbalkon der imBademantel,
der dort immer einen Tschick
raucht. Auf demHalbbalkon da-
neben steht seineNachbarin im
Bademantel und putzt sich die
Zähne. Ich rufe hinüber: „Wol-
len wir die Bundeshymnesin-
gen?“ Aber wir sind alles in al-
lem keine Italiener, wird uns
schmerzlich bewusst,weil
schon unsere Hymne so unsexy
ist wie Zähneputzen im Frottee-
bademantel.
Donnerstag, 19. März 2020
Ich mache mir einen Kaffee im
Büro. Kathi gegenüber lehnt sich
aus ihrem Mezzanin-Fenster he-
raus, ihr Mundwerk hat sie bei
einem bekannten Wiener Heuri-
gen im Service geschult: „Heast,
des muasst da amoi vorstölln,
jetzt woaidodrüben beim Hofa,
und aoide Frau brauchtaKilo
Möh! Ana mit zehn Kilo Möh im
Wagerl wü ihr oba koans gebm!
Sog izueahm, du gibst ihr jetzt
sofortaMöh, du Trottel, oder i
nimms da weg!“
Ein Kehrbesen der MA 48
fährt vorbei. Die Viren sinken zu
Boden, habe ich irgendwo ge-
hört. Vielleicht ist ja der Kehrbe-
sen die Lösung?
Manfred Rebhandl
ist Autor undDreh-
buchschreiber und
lebt in Wien-Fünf-
haus. Gerade er-
schien von ihm ein
neuer Krimi.
Manfred
Rebhandl,
„Sommer ohne
Horst“.€12,95 /
232 Seiten.
Haymon-Verlag,
Graz 2020
egenüberstehtaufseinemHalbbalkonsonstimmerderimBademantel!
Mysophobie: die krankhafte
Angstvor Ansteckung.
Symptome: extremes Kon-
taktvermeidungsverhalten.
Fotos: Picturedesk, privat (3), Pamela Russmann