Die Welt - 20.03.2020

(C. Jardin) #1

F


antasie ist wichtiger als Wis-
sen, denn Wissen ist be-
grenzt.“ Für dieses Zitat und
ein kleines Foto von Albert
Einstein ist noch Platz. An-
sonsten ist die große blaue Doppel-
wandtafel im Arbeitszimmer von Ro-
bert Gütig übersät mit Formeln. Auch
wenn es hier um neuronales Lernen, das
Modellieren neurologischer Prozesse
und später um die Übersetzung gewon-
nener Erkenntnisse in Anwendungsfor-
men der künstlichen Intelligenz geht –
manches stellt sich analog besser dar.
Zumal hier noch Grundlagenforschung
betrieben wird und fundamentale Fra-

gen gestellt werden. „Ich will wissen,
wie das Gehirn denkt. Wir verstehen
noch nicht, warum die neuronalen Net-
ze so gut funktionieren und welche Al-
gorithmen im Gehirn laufen“, sagt der
Neurowissenschaftler, der im April 2018
an die Charité berufen wurde und seit-
dem sowohl dort als auch am Berlin In-
stitute of Health (BIH) eine W3-Profes-
sur für „Mathematische Modellierung
des neuronalen Lernens“ bekleidet.
„Das Herzstück unserer Forschung
ist es, zu verstehen, wie Nervenzellen
Informationen repräsentieren und ver-
arbeiten. Nervenzellen im Gehirn sind
nicht durchgängig aktiv. Sie ‚sagen‘ nur
etwas, wenn sie etwas zu sagen haben.
Ansonsten sind sie quasi ausgeschaltet.
Ich will verstehen, was dieser Algorith-
mus in unserem Gehirn ist“, so der ge-
bürtige Berliner, der nach Stationen am
Max-Planck-Institut für Experimentelle
Medizin in Göttingen, an der Heb-
räischen Universität von Jerusalem, in
Cambridge und Freiburg nun wieder in
seiner Heimatstadt tätig ist.
Mit seinem Team geht er auch der
Frage nach, wie sich Gedanken in einem
Netzwerk aus Nervenzellen darstellen
lassen. Dies sei erforderlich, um nach-
vollziehen zu können, wie das mensch-
liche Gehirn Informationen verarbeite
und „wie wir überhaupt lernen“. Dafür
entwickelt Robert Gütig mathemati-
sche Modelle von biologischen und neu-
ronalen Netzen. Mittels dieser Simula-
tionen können dann etwa die Verarbei-
tung von Sinnesreizen, wie Gerüche
oder Geräusche, im Gehirn dargestellt
werden. Ziel ist es, die Funktionsweise
von biologischen neuronalen Netzen zu
analysieren sowie zu erfahren, wie sich
das Lernen steuern lässt und welche Re-
geln daraus abzuleiten sind. „An der
Charité möchte ich die Modellierung
von mehrschichtigen neuronalen Net-
zen weiter vorantreiben, damit wir die-
se auch für komplexere neuronale
Schaltkreise verwenden und zelluläre
Prozesse noch realistischer abbilden
können“, sagt Gütig, der seine For-
schung im Rahmen des durch Bund und
Länder geförderten Exzellenzclusters
„NeuroCure“ betreibt. Die Übertragung
theoretischer Erkenntnisse in die Pra-
xis sieht er als mittelfristigen Prozess
an: „Klinisch helfen können sie viel-
leicht schon in einigen Monaten oder
aber in wenigen Jahren.“
Die Umsetzung von Forschungser-
gebnissen ist an der Charité ohne Um-
wege möglich. Für Peter Gocke, Leiter
der Stabsstelle Digitale Transformation,
ist das „der große Vorteil von Universi-
tätskliniken“. Man könne, „sehr schnell
etwas erproben, selbstverständlich im
Rahmen der ethischen und gesetzlichen
Rahmenbedingungen – Patientinnen
und Patienten dürfen auf gar keinen Fall
gefährdet werden“. Künstliche Intelli-

genz wird dabei immer wichtiger, spe-
ziell Diagnostik und Qualität der Prog-
nosen sollen so stetig verbessert wer-
den. Über trainierte Algorithmen sind
Informationen aus den großen Daten-
mengen herauszulesen, die bei einer
Auswertung durch menschliches Perso-
nal vielleicht gar nicht oder erst sehr
spät erkannt werden würden. „So wis-
sen wir, wann sich Schäden oder Zu-
stände verändern, bevor sie direkt über
die herkömmliche Datengewinnung in
Laborergebnissen oder auf einem Moni-
tor sichtbar sind, und können so umge-
hend reagieren, etwa Behandlungsart
oder Medikation anpassen.“
Was dem Experten Sorge macht, ist
der geringe Grad der Digitalisierung des
deutschen Gesundheitssystems. Gehe
man nach EMRAM, das den Digitalisie-
rungsgrad von Krankenhäusern misst,
stehe es nicht gut, so Peter Gocke. Das

Electronic Medical Record Adoption
Model kenne acht Level, von null bis
sieben. „Nur auf Level sechs und sieben
ist man wirklich digital. Im Durch-
schnitt erreicht Deutschland den Wert
2,4, womit wir im Vergleich zu anderen
Ländern eher schlecht aufgestellt sind.“
Die Charité liegt deutlich über diesem
Schnitt, die stetig steigenden Daten-
mengen werden von einem eigenen
Hochleistungsrechenzentrum in Berlin-
Buch unterstützt. Ein Grund für den all-
gemein geringen Digitalisierungsgrad
sei, dass man in Deutschland noch über
kaum strukturierte Daten verfüge.
„Noch immer ist zu viel nur in PDF-
Form hinterlegt“, und damit könne man
nicht richtig digital arbeiten, schon gar
nicht, wenn es um KI-basierte Anwen-
dungen gehe. Diese erforderten struk-
turierte Daten in hoher Qualität. „Jetzt
aber tut sich einiges, es ist viel Bewe-

gung insbesondere bei den Digitalisie-
rungsbestrebungen im Gesundheitswe-
sen zu registrieren“, so der Digitalchef
der Charité.
KI verändert auch die Radiologie, den
wohl visuellsten medizinischen Fachbe-
reich. Nicht zuletzt erlaube sie es, „we-
sentlich treffsichere Diagnosen zu stel-
len, weil man in hochdimensionale Räu-
me und viel tiefere Ebenen eindringen
kann“, sagt Tobias Penzkofer von der
Klinik für Radiologie an der Charité. Ein
prädestiniertes Einsatzgebiet ist das
aufwendige Sichten und Analysieren
von Bildern, auch weil moderne CT-
oder MRT-Geräte Organe immer fein-
teiliger vermessen. Ein einziges Lun-
gen-Screening produziert bis zu 800
Bilder. Deshalb sei es bei „einfacheren,
sich wiederholenden Tätigkeiten gut
möglich, dass die KI uns bald deutlich
entlasten wird“. Bei komplexen Fällen
werde allerdings wohl noch lange der
Mensch gefragt bleiben. „Aufgrund sei-
nes breiteren Verständnisses und der
Begabung, über den Tellerrand hinaus-
blicken zu können, kann er eine umfas-
sendere Einschätzung der Situation
treffen.“ Unabhängig von KI sieht Tobi-
as Penzkofer die Radiologie als den
Fachbereich an, bei dem die Digitalisie-
rung am weitesten fortgeschritten ist.
„Bilder, Befunde, Daten – in der Radio-
logie ist seit geraumer Zeit fast alles di-
gital.“
Unterdessen treibt den studierten
Physiker Robert Gütig eine Frage be-
sonders um: „Gibt es den einen, kom-
pakten Algorithmus – oder spielen sich
in unserem Gehirn doch viele Einzellö-
sungen für unterschiedliche Situatio-
nen ab?“ Würde es sich als „eine Art
großer Baumarktkiste mit einer An-
sammlung von einzelnen Lösungen“
entpuppen, wäre das schon eine Enttäu-
schung. „Mein Traum ist es, etwas zu
finden, mit dem sich die Arbeitsweise
des Gehirns mit wenigen Grundprinzi-
pien verstehen lässt, etwa so wie in der
klassischen Mechanik.“ Gelingt ihm
das, wäre ein Nobelpreis unabwendbar.
Nicht nur der kleine Einstein rechts un-
ten an der Wandtafel wäre stolz auf Ro-
bert Gütig.

Neurowissenschaftler Robert Gütig erforscht


vor allem die neuronalen Netze im menschlichen


Gehirn. Kommt man hinter ihre Geheimnisse,


kann dies Behandlungsmethoden revolutionieren –


mittels Künstlicher Intelligenz


VON JOCHEN CLEMENS

GETTY IMAGES/ARTPARTNER-IMAGES

Professor
Robert Gütig
will an der
Charité die
Möglichkeiten
der
KKKünstlichenünstlichen
Intelligenz
ausloten

JOCHEN CLEMENS

AAAuf deruf der


SUCHE nach


dem einen


Algorithmus


Computergenerierte Abbildung von Nervenknoten, die zum
neuronalen Netzwerk gehören

WR 3


20.03.20 Freitag,20.März2020


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DIE WELT FREITAG,20.MÄRZ2020 MEDIZIN DER ZUKUNFT 3


rité eingebettet in die Berlin University
AAAlliance, den Zusammenschluss der Ber-lliance, den Zusammenschluss der Ber-
liner Exzellenzuniversitäten.

Was tut die Charité, um exzellenten
wissenschaftlichen Nachwuchs zu be-
kommen?
Das ist eine ganz wesentliche Frage, die
sich in den nächsten Jahren noch ver-
schärfen wird, wenn der demografische
Wandel greift und die ersten geburten-
starken Jahrgänge in den Ruhestand ge-
hen. Darauf müssen wir vorbereitet
sein. Die Charité hat insbesondere im
Bereich des ärztlichen Nachwuchses er-
folgreich agiert. Um einen Facharzt zu
erwerben, müssen Nachwuchskräfte zu
100 Prozent ärztlich tätig sein. Die For-
schungszeit wird üblicherweise nicht
angerechnet. Das hat die Charité, auch
weil es in Berlin eine bemerkenswert
progressive Ärztekammer gibt, mit dem
Clinician Scientist Programm und der
BIH-Academy sehr gut gelöst. Es ist das,
glaube ich, deutschlandweit größte
Nachwuchsprogramm, in dem die ange-
henden Ärzte in einem geschützten
Rahmen sich ihrer Forschung widmen
können. Unsere Clinician Scientist sind
sehr erfolgreich. Sie sind häufig habili-
tiert, haben viele Drittmittel oder Publi-
kationen. Das wird jetzt mit dem Digital

in einer geeigneten Rechtsform zu verei-
nen. Wir hätten damit die Option auf ein
wirklich international wettbewerbs-
fffähiges Herzzentrum. Eine andere großeähiges Herzzentrum. Eine andere große
AAAktivität betrifft die Kooperation mitktivität betrifft die Kooperation mit
der Berliner Krankenhauskette Vivantes,
die über 5.800 Betten verfügt. Wir stre-
ben eine „Public-Public“-Partnerschaft
an, in der jeder zweite Patient in Berlin
in einem Bett der „öffentlichen“ Hand
liegt, was uns große Vorteile in der For-
schung, etwa bei klinischen Studien zu
Seltenen Erkrankungen, eröffnen würde.
Neben diesen Aktivitäten auf Kranken-
hausebene gibt es weitere im For-
schungsbereich. Eine davon betrifft das
Berliner Institut für Gesundheit (BIH),
das zum Ziel die schnelle Übertragung

erliner Institut für Gesundheit (BIH),
as zum Ziel die schnelle Übertragung

erliner Institut für Gesundheit (BIH),

von Forschungsergebnissen in die Klinik
hat. Es wird vom Bund und Land im Ver-
hältnis 90 zu 10 finanziert, mit einem
Jahresetat von 80 Millionen Euro und
soll zum 1. Januar 2021 strukturell in die
Charité integriert werden. Das entspre-
chende Gesetz ist in Vorbereitung. Die
andere institutionelle Zusammenarbeit,
die mir sehr wichtig ist und die wir gera-
de intensiv verhandeln, ist die mit dem
Max-Delbrück-Zentrum (MDC). Am
MDC gibt es hervorragende Grundlagen-
ffforschung, die wir näher an die Klinik he-orschung, die wir näher an die Klinik he-
ranrücken wollen. Außerdem ist die Cha-

Clinician Scientist Programm des BIH
ausgeweitet, um die Herausforderung
der Digitalisierung in der Nachwuchs-
ausbildung gezielt zu adressieren.

Welche Rolle messen Sie der Digitali-
sierung zu?
Wir sind dabei, eine Zukunftsstrategie
zu entwickeln: ‚Charité 2030 – gemein-
sam ein Ziel.‘ Dabei spielt auch der digi-
tale Wandel eine ganz zentrale Rolle.
Der demographische Wandel der nächs-
ten Jahre wird gerade in einem Univer-
sitätsklinikum nur dann zu bewältigen
sein, wenn alles, was nicht unbedingt
von Menschen an Menschen gemacht
werden muss, durch digitale Systeme
geleistet werden kann. Auf diesem Weg
wird sich das Narrativ der Digitalisie-
rung verändern. Das Ziel der Digitalisie-
rung ist nicht mehr, Arbeitskräfte ein-
zusparen, sondern Ressourcen freizu-
bekommen, um sich wieder mehr dem
individuellen Patienten zuzuwenden.
Noch sind dabei viele Probleme zu lö-
sen. Das betrifft die digitale Ausstat-
tung der Kliniken, aber auch Fragen des
Datenschutzes. Die Medizin wird in den
nächsten zehn Jahren einen ähnlichen
Veränderungsprozess durchlaufen wie
die Autoindustrie. Digitalisierung ist ein
Schlüssel für die Zukunft der Medizin.

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