Süddeutsche Zeitung - 20.03.2020

(nextflipdebug5) #1
Berlin –Mehrere Spitzenfunktionäre west-
licher AfD-Landesverbände haben den
Bundesvorstand der Partei aufgefordert,
dem vom Verfassungsschutz als rechtsex-
trem eingestuften „Flügel“ Einhalt zu ge-
bieten. Auch Ordnungsmaßnahmen gegen
den „Flügel“-Gründer Björn Höcke und
den zweiten „Flügel“-Frontmann, Andre-
as Kalbitz, sind im Gespräch.sz  Seite 5

Berlin– Nach dem ersten Verbot einer
Reichsbürgergruppe in Deutschland sind
Polizisten in zehn Bundesländern gegen
den Verein „Geeinte deutsche Völker und
Stämme“ vorgegangen. Dabei wurden
Schusswaffen sichergestellt. Verbale Mili-
tanz und „massive Drohungen gegenüber
Amtsträgern und ihren Familien belegen
die verfassungsfeindliche Haltung dieser
Vereinigung“, sagte Innenminister Horst
Seehofer (CSU). Reichsbürger lehnen den
Staat ab und gelten als waffenaffin. Bay-
erns Innenminister Joachim Herrmann
(CSU) begrüßte das Verbot als „konsequen-
te Reaktion des Rechtsstaats auf die antise-
mitischen, rassistischen und demokratie-
feindlichen Umtriebe“. Der FDP-Politiker
Benjamin Strasser nannte Reichsbürger ei-
nen „integralen Bestandteil der extremen
Rechten“. lion  Seiten 4 und 5

Meinung


Was Deutschland verliert,


wenn es seine Kultur


jetzt nicht rettet 4


Panorama


Die Corona-Krise belastet


auch die Insassen in


deutschen Gefängnissen 10


Feuilleton


Schriftsteller gratulieren


Friedrich Hölderlin


zu seinem 250. Geburtstag 12


Wirtschaft


Fällt die Spargelsaison aus?


Wegen Reisebeschränkungen


fehlen die Erntehelfer 17


Medien


Die EU-Kommission bittet Netflix,


seine Videos in niedrigerer


Auflösung zu streamen 23


TV-/Radioprogramm 24
Forum & Leserbriefe 9
München · Bayern 28
Rätsel 23
Traueranzeigen 26


von caspar busse
und cerstin gammelin

München/Berlin– Ökonomen erwarten
durch die Coronavirus-Krise einen der
stärksten Wirtschaftseinbrüche der Nach-
kriegszeit. „Die deutsche Wirtschaft stürzt
in die Rezession“, sagte Ifo-Präsident Cle-
mens Fuest. Zudem wird eine Pleitewelle
gerade bei kleineren Firmen, Kleinstunter-
nehmen und bei Solo-Selbständigen be-
fürchtet, weil die wegen der Corona-
Schutzmaßnahmen derzeit keine oder
kaum Geschäfte machen können. Betrof-
fen davon könnten sehr viele Arbeitneh-
mer sein. Die Bundesregierung sowie meh-
rere Länder wollen nun mit Milliardenzu-
schüssen gegensteuern.
Das Corona-Kabinett der Bundesregie-
rung hatte am Donnerstag über zusätzli-
che Hilfen beraten. Geplant ist ein Härte-
fallfonds, der mit mindestens 40 Milliar-
den Euro gefüllt wird und von Ende kom-
mender Woche an betriebsbereit sein soll.
Kleinstunternehmen mit bis zu zehn Voll-
zeitbeschäftigten sollen nach Unterneh-
mensgröße gestaffelte Zuschüsse abrufen
können; die Anträge sollen schnell und un-
bürokratisch bearbeitet werden. Die
Kleinstunternehmer sollen eine Pauschale
abrufen können, mit der sie Betriebskos-
ten für drei Monate zahlen können. Der Zu-
schuss soll am Jahresende versteuert wer-
den. Umstritten war am Donnerstag noch,
was alles als Betriebskosten angerechnet
werden kann und wie mit Sonderfällen um-
gegangen wird; etwa Frühjahrskollektio-
nen, die produziert, aber im Sommer un-
verkäuflich sind.
Der Härtefonds sollte am späten Abend
noch vom Corona-Kabinett beschlossen
werden. Am Montag ist er im Bundeskabi-
nett, danach soll das Gesetz sofort durch
Bundestag und Bundesrat, sodass es Ende
der Woche beschlossen ist. Die Hilfen des
Fonds sollen voraussichtlich über die Fi-
nanzverwaltungen der Länder abgewi-

ckelt werden. In Berlin hieß es, Bund und
Länder koordinierten die Hilfen, um zu ver-
hindern, dass Zuschüsse doppelt ausge-
zahlt würden.
Denn auch immer mehr Bundesländer
kündigen entsprechende Maßnahmen an.
Deutschlands bevölkerungsreichstes Bun-
desland Nordrhein-Westfalen legte das
größte Hilfsprogramm der Landesge-
schichte auf. Kein gesundes Unternehmen
soll wegen Corona an fehlenden liquiden
Mitteln scheitern, sagte Ministerpräsident

Armin Laschet (CDU), der NRW-Rettungs-
schirm habe eine Höhe von 25 Milliarden
Euro. Hessen beschloss ein 7,5 Milliarden
Euro umfassendes Paket mit Soforthilfen,
Bürgschaften und formlosen Steuerstun-
dungen. Baden-Württembergs Minister-
präsident Winfried Kretschmann (Grüne)
legte ein Milliardenprogramm auf, auch
Hamburg. Berlin, Brandenburg und Bay-
ern hatten bereits vorgelegt. Bundesfinanz-
minister Olaf Scholz (SPD) forderte die Län-
der auf, ihre Programme zu koordinieren.

Es sei wichtig, dass die Politik massive
und gezielte Maßnahmen ergreift, um da-
mit die Schäden zu begrenzen, die das Ein-
frieren der Wirtschaft verursacht, sagte Ifo-
Chef Fuest, nur so könne eine Insolvenz-
welle abgewendet werden.
Wirtschaftsexperten erwarten ohnehin
eine tiefe Krise. Das Institut für Weltwirt-
schaft in Kiel rechnet im schlimmsten Fall
mit einem Konjunktureinbruch 2020 von
bis zu neun Prozent. Das Ifo-Institut erwar-
tet einen Rückgang von bis zu sechs Pro-
zent, im besten Fall, also bei einer kurzen
Krise und einer schnellen Erholung, werde
das Minus immer noch 1,5 Prozent betra-
gen. Laut Ifo haben sich auch die Erwartun-
gen der Unternehmen für die kommenden
Monate eingetrübt, die Stimmung der be-
fragten Manager fiel im März auf den tiefs-
ten Stand seit Mitte 2009.
Das Deutsche Institut für Wirtschafts-
forschung (DIW) spricht dagegen von ei-
nem nur leichten Minus von 0,1 Prozent.
Das sei jedoch ein sehr optimistisches Sze-
nario, räumte DIW-Chef Marcel Fratz-
scher ein. Es könne die deutsche Wirt-
schaft auch deutlich härter treffen. Europa-
weit müsse die Finanzpolitik noch mehr
tun, um eine Pleitewelle zu verhindern.
KfW-Chefökonomin Fritzi Köhler-Geib

hält einen Einbruch der Wirtschaftskraft
im zweiten Quartal um zehn bis 15 Prozent
für leicht vorstellbar. „Problematisch ist
vor allem die enorme Unsicherheit dar-
über, ab wann eine Rückkehr zur Normali-
tät möglich sein wird“, sagte sie.
Während der Finanzkrise war das Brut-
toinlandsprodukt (BIP) in Deutschland um
fast sechs Prozent gesunken. Diesmal ist
die Situation aber anders. Viele kleine Fir-
men und Selbständige sind nun in Gefahr,
da durch das Herunterfahren des öffentli-
chen Lebens ihre Umsätze teilweise kom-
plett wegfallen, keine Aufträge mehr kom-
men, Geschäfte, Gastronomiebetriebe und
Hotels geschlossen werden müssen – auf
unabsehbare Zeit. Bei vielen laufen aber
gleichzeitig die Kosten weiter, da sind even-
tuelle Reserven schnell aufgebraucht.
Wirtschaftsminister Peter Altmaier
(CDU) und Finanzminister Scholz (SPD) hat-
ten vergangene Woche Liquiditätshilfen in
unbegrenzter Höhe zugesagt – vor allem
über KfW-Kredite und Bürgschaften. Au-
ßerdem wurde das Kurzarbeitergeld ausge-
weitet. Beides hilft aber eher größeren Un-
ternehmen. Die Bundesregierung rechnet
mit rund 2,35 Millionen Beschäftigten, die
aus konjunkturellen oder saisonalen Grün-
den Kurzarbeitergeld beziehen werden.
Dies geht aus einem Entwurf des Arbeits-
ministeriums hervor. Die Kosten für die
Bundesagentur für Arbeit werden auf
mehr als zehn Milliarden Euro beziffert.
Die steuerlichen Hilfen sind inzwischen
abrufbereit. Am Donnerstagabend teilte
das Bundesfinanzministerium mit, dass
Unternehmen, Selbständige und Freiberuf-
ler ab sofort Anträge bei den Landesfinanz-
behörden stellen können, um konkrete
steuerliche Erleichterungen zu beantra-
gen; etwa die Stundung von Steuerzahlun-
gen, die Anpassung von Vorauszahlungen
oder das Aussetzen der Vollstreckung von
Steuerschulden. Der Zoll ist angewiesen,
auch die Forderungen für die Energie- und
Luftverkehrsteuer zu stunden.

Vorbereitet:Was taugt eine 13 Jahre alte
Notfallübung?  Seite 2
Klein und allein:Solo-Selbständige brau-
chen jetzt dringend Hilfe  Seite 15
Zeitung auf:Eine ganze Seite für Kinder,
die daheimbleiben müssen  Seite 22
Passion 2022:Freiluftspektakel in Ober-
ammergau wird verschoben  Seite 28
 Alle aktuellen Entwicklungen im Netz:
http://www.sz.de/coronavirus

München– Da offenbar viele Menschen
die Vorschriften zur Eindämmung des Co-
ronavirus ignorieren, drohen mehrere Lan-
deschefs mit flächendeckenden Ausgangs-
sperren. „Wenn sich viele Menschen nicht
freiwillig beschränken, dann bleibt am En-
de nur die bayernweite Ausgangssperre“,
warnte etwa der bayerische Ministerpräsi-
dent Markus Söder (CSU), der viele Maß-
nahmen gegen das Coronavirus in Deutsch-
land als erster umsetzte. Drei bayerische
Gemeinden haben bereits eine Ausgangs-
sperre verhängt.
Auch Winfried Kretschmann (Grüne),
Ministerpräsident von Baden-Württem-
berg, sieht Ausgangssperren kommen,
wenn die Bürger ihr Verhalten nicht grund-
legend umstellen. „Es kann nicht sein,
dass jetzt junge Leute zu Corona-Partys

rennen“, sagte er. Der saarländische Minis-
terpräsident Tobias Hans (CDU) kündigte
„eine schnelle und harte Ausgangssperre“
an, falls die Menschen den Appellen nicht
folgten. Auch der Regierende Bürgermeis-
ter Berlins Michael Müller (SPD) warnte:
Über ein Ausgangsverbot könne schnell
entschieden werden. „Jeder Einzelne hat
es in der Hand zu verhindern, dass es Aus-
gangssperren gibt“, sagte der nordrhein-
westfälische Regierungschef Armin La-
schet (CDU).
An vielen Orten scheinen die Menschen
die mahnenden Worte, auch von Bundes-
kanzlerin Angela Merkel (CDU), soziale
Kontakte auf ein Minimum einzuschrän-
ken, nicht zu interessieren. In München et-
wa berichtete Oberbürgermeister Dieter
Reiter (SPD), dass sich noch immer Men-

schen in größeren Gruppen treffen wür-
den, etwa auf Spielplätzen oder in öffentli-
chen Parks. Auch Feiern an der Isar seien
keine Seltenheit. „Ich bitte Sie alle ein-
dringlich, dies ab sofort nicht mehr zu
tun“, sagte Reiter. Eine Ausgangssperre
soll in München am Donnerstag kein The-
ma gewesen sein. In Baden-Württemberg
beschlossen die Städte Konstanz und Hei-
delberg, Ansammlungen von mehr als fünf
Personen im Stadtgebiet zu verbieten.
Bayerns Ministerpräsident Söder ver-
suchte es auch mit Verständnis. „Ich weiß,
das schöne Wetter verführt jetzt zum Raus-
gehen“, sagte er, trotzdem solle das Haus
nur verlassen, wer zur Arbeit, zum Lebens-
mitteleinkauf oder zum Helfen gehe: „Al-
les andere kann und muss warten.“ Söder
kündigte zudem ein hartes Durchgreifen

der Polizei an. Die Sicherheitsbehörden
hätten die klare Anweisung einzugreifen,
etwa wenn ältere Menschen aus Jux ange-
hustet würden oder bei sogenannten Coro-
na-Partys. Auch Niedersachsens Innenmi-
nister Boris Pistorius (SPD) sagte, die
Durchsetzung der Regelungen bekomme
Priorität. Bei Verstößen würden Geschäfte,
Cafés oder Restaurants geschlossen, Men-
schenansammlungen aufgelöst und Buß-
gelder verhängt.
Ausgangssperren allerdings kann sich
Niedersachsens Ministerpräsident Ste-
phan Weil (SPD) derzeit nicht vorstellen.
Sie sollten zum gegenwärtigen Zeitpunkt
in Deutschland vermieden werden, sagte
er. Die jetzigen Einschränkungen reichen
in seinen Augen aus – sofern die Menschen
sich auch an sie hielten. lisa schnell

Rom– Italien hat im Zuge der Coronavirus-
Pandemie mehr Todesfälle als China be-
kannt gegeben und ist damit das Land auf
der Welt mit den meisten offiziell gemelde-
ten Toten. Bisher seien 3405 mit dem Erre-
ger infizierte Menschen gestorben, teilte
der Zivilschutz am Donnerstag mit. Unklar
ist aber, inwieweit die offizielle Statistik in
China die wahre Lage beschreibt und wie
hoch die Dunkelziffer ist.dpa  Seite 7

Xetra Schluss
8610 Punkte

N.Y. 20 Uhr
20226 Punkte

20 Uhr
1,0667 US-$

HEUTE


Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Dichte Wolken bringen im Norden und der
Mitte örtlich Regen. Im Süden wechseln
sich nach Frühnebel Sonne und Wolken ab.
In Alpennähe später lokale Schauer oder
Gewitter möglich. Im Norden bis 12, sonst
13 bis 20 Grad.  Seite 9

Außerdem in


dieser Ausgabe


NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HF3 MÜNCHEN, FREITAG, 20. MÄRZ 2020 76. JAHRGANG / 12. WOCHE / NR. 67 / 3,50 EURO


Sturz in die Rezession


Die starken Einschränkungen des öffentlichen Lebens könnten viele kleine Firmen in die Pleite


treiben, erwarten Ökonomen. Bund und Länder wollen mit hohen Zuschüssen dagegenhalten


Ministerpräsidenten drohen mit Ausgangssperren


Viele Bürger halten sich offenbar nicht an den Aufruf von Kanzlerin Merkel, Ansammlungen zu vermeiden


AfD-Funktionäre wollen


Höcke-„Flügel“ stoppen


Seehofer verbietet


Reichsbürgerverein


Bei Durchsuchungen findet
die Polizei Schusswaffen

Italien meldet


mehr Todesfälle als China


+ 2,00% + 1,62% - 0,

20 °/0°


Problematisch sei vor allem
die enorme Unsicherheit darüber,
wann wieder Normalität herrscht

UnperfektDie Künstlerin Heike Bollig
sammelt fehlerhafte Dinge. Ihnen wohnt
eine Schönheit inne, an die Makellosigkeit
nicht heranreicht.
Ungerecht Die vielfach ausgezeichnete
Philosophin Martha Nussbaum forscht zu
Liebe, Freundschaft und Tierethik. Im Ge-
spräch führt sie ihren Erfolg auch auf ihr
Lächeln zurück und findet es bedauerlich.
UnerträglichEltern, die sich mit den Na-
men ihrer Kinder vorstellen
Liegt nicht der gesamten Auslandsauflage bei

Fußgängerzonen ohne Fußgänger: Viele Innenstädte bleiben dieser Tage leer – wie hier in Wernigerode. FOTO: KLAUS-DIETMAR GABBERT / DPA

FOTO: DPA

Bestätigte Corona-Fälle in Deutschland

SZ-Grafik; Quellen: Johns Hopkins University, SZ; Stand: 19:30 Uhr

14 481Infizierte 43 Tote

Verdopplung
der Infektionen
alle 2,9 Tage

0

3000

6000

9000

1 000

27.1. 19.3.

Süddeutsche ZeitungGmbH,
Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0,
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ES (Kanaren): € 4,00; dkr. 31; £ 3,50; kn 34; SFr. 5,

Dax▲ Dow▲ Euro▼


Wie lange noch? Szenarien zum Fortgang der Krise Wissen


(SZ) Am sechsten Tag schuf Gott das Büro.
Er legte einen Teppich hinein, auf dem die
Kaffeeflecken und Kekskrümel nicht wei-
ter auffielen, stellte Stühle und Resopal-
tische darauf und sorgte für reichlich Ma-
gnetwände, an welchen die Insassen Fotos
ihrer Kinder, Katzen und Dackel befesti-
gen konnten, von deren übergriffiger Leib-
haftigkeit sie fein säuberlich getrennt blie-
ben, auf dass sie ihrer Arbeit nachgehen
konnten in Wohlgefallen. Das Büro versah
er mit einer Tür, die jedwede Laut- und
Lebensäußerung bis auf geschäftiges Ge-
murmel und konzentrierte Telefonie aus-
blendete, wie er auch die Aussicht meist so
wählte, dass die Insassen froh sein durf-
ten, sich drinnen und in Sicherheit für Leib
und Leben zu befinden. Er schuf Flure, auf
denen der Klatsch funkte, und Konferenz-
räume, in denen sich so viele Labertaschen
versammelten, dass jede einzelne von ih-
nen froh war, abends zu ihren Liebsten
heimkehren zu dürfen, was die Scheidungs-
rate konstant bei unter 50 Prozent hielt.
Weil es gerade so funzte, addierte der
Schöpfer aus schierem Jux noch eine klei-
ne Albernheit. Und unten auf der Erde be-
gannen sich die Menschen zum Entsetzen
ihrer Arbeitgeber zu fragen, warum sie ih-
re kuschelige Wohnung eigentlich verlas-
sen sollten für einen stickigen Raum mit
enervierendem Personal, wo der liebe Gott
kurz vor Mitternacht des sechsten Tages
doch das Internet erschaffen hatte.
Home-Office, Tag 4: Das Internet funkti-
oniert, wenn es soll, nicht. Die durchs offe-
ne Fenster hereinwalzenden Paarungsak-
korde der Vögel implizieren einiges, nicht
aber den nächsten Job auf der To-do-Liste.
Die Gesichter der Kollegen beginnen in der
Erinnerung zu verschwimmen, man weiß
nur noch, dass es wackere Menschen sind,
gesegnet mit Schönheit, Güte und leuch-
tender Intelligenz. Alles andere ist weitge-
hend außer Kontrolle. Müsste man jetzt ei-
ne Liveschalte fürs Fernsehen machen, sa-
gen wir über eine weltweite Pandemie: Im
Hintergrund, wo sich die Schachteln des
lokalen Pizza-Bringdienstes auf Hüfthöhe
stapeln, ginge zur Unzeit die Tür auf, und
das Kind käme heulend herein, es habe
den Nachbarsjungen auf den Kopf gehau-
en, nachdem dieser es in den Bauch geboxt
habe, nachdem es mit ihm gewettet habe,
ob er eine Tasse Spülmittel auf ex trinken
könne, außerdem sei ihnen langweilig.
Dann ginge abermals die Tür auf, und
der Partner, der sein Arbeitslager in der Kü-
che aufgeschlagen hat, bellte herein, ob
diese Schalte nicht auch leiser ginge, er be-
finde sich in einem wichtigen Call, und ob
man übrigens wisse, dass man im Schlaf-
anzug vor der Kamera stehe. Dann flöge
ein obszöne Flüche ausstoßender Papagei
durchs Bild. Wenn man den Aufsager in-
haltlich auch dahingehend seriös zu Ende
brächte, dass keinerlei Grund zur Panik be-
stehe, so wüsste die Nation vor den Bild-
schirmen doch, dass nicht nur das Büro,
sondern einfach alles verloren ist.


DAS WETTER



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