Süddeutsche Zeitung - 20.03.2020

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Gleich neben Hölderlins Tübinger Turm,
im Garten am Neckar, wächst ein Quitten-
baum. Es war Glück, dass die Turmhüte-
rin, die bei einem Besuch vor Jahren Dienst
tat, nicht nur Teller mit Früchten bereitge-
stellt hatte, die Hölderlins Zimmer mit ih-
rem Duft schmückten, sondern mich sogar
eine der prachtvollen Scardanelliquitten
pflücken ließ, die mich auf der Fahrt zu-
rück nach Berlin berauschte. Seit diesem
Spätsommertag verbinde ich die Quitte
mit Hölderlins Versen, meine gar, ein zar-
tes Quittenarom wahrzunehmen, lese ich
ihn. Dass ich mit meinem Quittentick nicht
allein war, wurde mir klar, als ich auf einen
Tagebucheintrag Ernst Jüngers stieß: „An-
geregt durch die Fahrt um den Bodensee“,
notiert er, „las ich wieder einmal Hälfte des
Lebens, Hölderlins Gedicht. Mit gelben Bir-
nen hänget/ Und voll mit wilden Rosen/
Das Land in den See. Frühere Hölderlin-
Ausgaben brachten bis in unser Jahrhun-
dert hinein Blumen statt Birnen, einem Irr-
tum Gustav Schwabs folgend. Ich hatte,
wie ich es oft gesehen habe, an Quitten ge-
dacht.“ Soweit Jünger, mit dem mich wenig
verbindet, offenbar aber dies: ein Faible
für eine störrische Frucht, deren Süße er-
obert werden will – sowie die Neigung, die-
ses auf Hölderlins Poesie zu projizieren.
Die schlichte Wahrheit ist aber, dass in kei-
ner der Oden Hölderlins die Quitte ge-
nannt wird. Am Rhein mag alles „trunken
von Weinen und Obst“ sein – aber keine
Quitte. Neben den berühmteren Birnen
leuchten Trauben, tauchen Pomeranze,


Pfirsiche, Kirschen, sogar Granat- und Fei-
genbaum auf, aber nicht einmal in den spä-
ten Herbstgedichten, wo doch „Früchte
sich mit frohem Glanz vereinen“, erscheint
die königliche Quitte. Immerhin wird die
„Frucht der Hesperiden“, die goldenen Äp-
fel des Mythos also, die als Quitten inter-
pretiert wurden, genannt. Vor allem aber
ist zu bedenken, dass die Quitte mitunter
als „kretischer Apfel“ bezeichnet wird,
mehr noch: Das wohlklingende und rätsel-
hafte Wort „Quitte“ lässt sich herleiten von
Kydonía, dem antiken Namen der heute als
Chania bekannten kretischen Stadt. Dass
„Kreta steht und Salamis grünt, umdäm-
mert von Lorbeern,/ Rings von Strahlen
umblüht“, singt ja Hölderlin im „Archipela-
gus“, und wirklich ist man, geleitet vom
Duft, dann vom Namen der Quitte, jäh im


Herzen des Werkes angelangt, in jener idea-
len Landschaft, die Hölderlin nie mit eige-
nen Augen sah, die er vielmehr erst er-
schuf, sind wir, der Etymologie sei Dank,
von Tübingen bis zu den „schönen Inseln
Ioniens“ gereist, wo „unter kräftger Sonne
die Traube reift“, wo ein „Granatbaum, pur-
purner Äpfel voll“, gar ein „Limonenwald“
wachsen, niemals vergehen. Irgendwo hier
muss auch die Quitte versteckt sein, diese
heimliche Zentralfrucht in Hölderlins
Werk, Kernobst, Obstkern, streng und
hart, von unvergleichlicher Süße, ist man
ihrer würdig. Man darf nicht locker lassen,
muss sie zu nehmen wissen, ihr den Saft
entlocken, sie geduldig kochen. Oder aber,
wie ich es tat, nachdem sie lange auf dem
Schreibtisch gethront hatte, behutsam im
Ofen garen, stundenlang, so dass ich mich
immer wieder vor dem Herd, damit vor ihr,
verbeugen musste, Dichterfrucht, Hölder-
linquitte, bis das ganze Haus duftete, sie
schließlich mit einem Klacks Mascarpone
verspeist wurde. jan wagner

Jan Wagner lebt in Berlin. 2018 erschien
sein Gedichtband „Die Live Butterfly
Show“.

Friedrich Hölderlin gilt als einer der unver-
ständlichsten Dichter deutscher Sprache.
Schon die Zeitgenossen fanden seine Verse
dunkel und überspannt, der harsche Duk-
tus stieß auf wenig Gegenliebe, der ver-
schachtelte Satzbau erschwerte die Lektü-
re erheblich, und der komplexe philosophi-
sche Gehalt erschloss sich, wenn über-
haupt, nur unter Mühen. Daran hat sich,
auch wenn Hölderlin längst als kanonisiert
gilt, nichts Wesentliches geändert. Demge-
genüber wirken die spätesten Gedichte,
die schon in die Zeit des Wahnsinns fallen,
seltsam eingängig, und ihre Aussage
scheint leicht nachvollziehbar, ja klar.

„Ein Zeichen sind wir, deutungslos“,
hebt die zweite Fassung von „Mnemosy-
ne“ an und stellt implizit die Frage, wie
sich in diesem Kontext eines der traditio-
nellsten Motive der Lyrik, das Schafsmo-
tiv, deuten ließe, das einige Zeilen später er-
scheint: „und es girren / Verloren in der
Luft die Lerchen und unter dem Tage wei-
den / Wohlangeführt die Schafe des Him-
mels.“ Die Deutungsmöglichkeiten sind an
dieser Stelle recht konventionell, der
„Tag“, die Sonne, ein Christussymbol, gelei-
tet die Wolkenherde, die Seelen der Gläubi-
gen, durch die Lüfte. Es ist ein Bild der Ord-
nung, des Friedens, der Einbindung in eine
alte Tradition religiöser Landschaftsschil-
derung. Offenbar fand Hölderlin es selbst
zu eindeutig, da es in der dritten Fassung
ersetzt ist durch die rätselhaften Verse
„gut sind nämlich, / Hat gegenredend die
Seele / Ein Himmlisches verwundet, die Ta-
geszeichen.“
Schafe kommen in Hölderlins Gedich-
ten nur noch an einer weiteren Stelle vor.
Die späte Ode „Wenn aus dem Himmel hel-
le Wonne sich / herabgießt ...“ entwirft ei-
nen sonnigen Tag in einer vertrauten Land-

schaft, einer Gegend, die dem Dichter im
Turm vor Augen lag und aus der die anti-
ken Götter verschwunden sind. „Über
dem Stege beginnen Schafe // Den Zug,
der fast in dämmernde Wälder geht.“ Die-
ser Satz wäre vollkommen unauffällig, be-
gönne nicht nach den „Schafen“ nicht
nur eine neue Zeile, sondern eine neue
Strophe, täte sich nicht kurz nach diesen
„Schafen“, die man sich als „Zug“ auf ei-
nem „Steg“ in einer langen Reihe vorstel-
len darf, mit dieser Pause eine abgrund-
hafte, erschreckend große Lücke auf. Nur
„fast“ geht der Zug in „dämmernde Wäl-
der“, ins Dunkel, in den Tod, aber mit die-
sem Zeilen-, diesem Strophensprung ist
die Idylle aufgerissen, und die Schafe er-
scheinen nicht nur als Metapher für ein
friedliches Leben, sondern als konkrete,
sterbliche Wesen.
Die „Schafe des Himmels“ befinden
sich „unter dem Tage“, die Schafe der Ode
„beginnen“ „über dem Stege“, sie halten
sich gewissermaßen über dem Abgrund
und haben keinen festen Boden unter
den Hufen, nahezu schweben sie schon
wie die Wolken. Dann aber löst sich diese
Spannung scheinbar noch einmal auf:
„Da, auf den Wiesen auch / Verweilen die-
se Schafe.“
Und spätestens an diesem Punkt be-
ginnt man sich zu fragen: Was heißt das
eigentlich, Wiesen? Und was sind „diese
Schafe“? Handelt es sich nicht letztend-
lich um unverständliche Sprachgeschöp-
fe, auch wenn wir meinen, ein Schaf im
Gedicht jederzeit leicht zu verstehen?
marion poschmann

Marion Poschmann lebt in Berlin. 2020 er-
schien ihr Gedichtband „Nimbus“.

Pracht auch schon konterkariert wird.
„Aber was soll mir das? Das Geschrei des
Schakals, der unter den Steinhaufen des Al-
tertums sein wildes Grablied singt,
schröckt ja aus meinen Träumen mich
auf.“ Und so bleibt es ein ewig müßiger
Wunsch, „in die Arme der Natur, der wan-
dellosen, stillen und schönen“ fliehen zu
wollen, „in seliger Selbstvergessenheit“.
Und doch suggeriert Hölderlin stets von
neuem, was die Anziehungskraft dieser Na-
tur ausmacht: wie die „schattige(n) Bäume
säuseln im Mittag“, „das kochende Meer
der Woge des Kornfelds gleicht“, wie „die
zarte Welle der Luft“ und das „weite Blau“
bezaubern. Die Suggestion mit all ihrem
Pathos ist perfekt, muss es sein, damit das
„aber“ seine herbe Wirkung entfalten
kann. „Aber ein Moment des Besinnens
wirft mich herab“, so Hyperion in seinem
ersten Brief an Bellarmin. „Ich denke nach
und finde mich, wie ich zuvor war, allein,
mit allen Schmerzen der Sterblichkeit, und
meines Herzens Asyl, die ewig einige Welt,
ist hin; die Natur verschliesst die Arme,
und ich stehe, wie ein Fremdling, vor ihr,
und verstehe sie nicht.“ Und schon folgt ein
verzweifeltes „ach“: „Ach! wär’ ich nie in eu-
re Schulen gegangen. Die Wissenschaft,
der ich in den Schacht hinunter folgte, von
der ich, jugendlich töricht, die Bestätigung
meiner reinen Freude erwartete, die hat
mir alles verdorben.“


Naivität und Unschuld sind nicht zu ha-
ben, ebenso wenig Alleinheitsfantasien. Er-
nüchtert konstatiert Hyperion bereits am
Ende des ersten Briefs: „O ein Gott ist der
Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn
er nachdenkt, und wenn die Begeisterung
hin ist, steht er da, wie ein missratener
Sohn, den der Vater aus dem Hause stiess,
und betrachtet die ärmlichen Pfennige, die
ihm das Mitleid auf den Weg gab.“
Was am Anfang des Romans exponiert
ist, setzt sich fort: das Hin und Her zwi-
schen Suggestion und Desillusion, zwi-
schen begeisterter Beschwörung und in ka-
tegorische Sätze gefasster Ernüchterung.
Das Wörtchen „aber“ spielt dabei eine zen-
trale Rolle, denn es markiert den Bruch,
den das Erzähler-Ich in seiner Welt- und
Selbstwahrnehmung erfährt und oft mit ei-
nem schmerzlichen „ach!“ kommentiert.
Ambivalenz statt ersehnter Ganzheit. Kon-
trast von Traum und Erwachen, von Ideal
und schnöder Wirklichkeit. Davon ver-
steht Hölderlin mehr als die meisten. Vor al-
lem weiß er es, wie kein zweiter, in klingen-
de, bezwingende Sprache umzusetzen.


Ilma Rakusa lebt in Zürich. 2019 erschien
„Mein Alphabet“.


„Wenn aus der Ferne, da wir geschieden
sind, / Ich dir noch kennbar bin“ – so be-
ginnt eines der späten Gedichte Friedrich
Hölderlins, in dem der Dichter eine Lieben-
de sprechen lässt zu ihrem Geliebten, wohl
dem Empfänger der Zeilen, einem seltsam
anwesend-abwesenden Du, über das, wie
auch über die zurückliegenden Zusammen-
künfte, wir nur durch die Absenderin et-
was erfahren. Ob es sich bei dieser unvoll-
endet gebliebenen Ode um eine Fortschrift
des „Hyperion“, Hölderlins Briefroman,
handelt, ob hier die inzwischen verstorbe-
ne Diotima ihrem Geliebten, der ihr als „im-
mer verschlossener Mensch, mit finstrem
/ Aussehen“ erschien und der ihr dennoch
so lieb war, dass sie unumwunden gesteht:
„ich war die deine“, etwas aus dem Jenseits
mitzuteilen versucht oder ob Hölderlin die-
se Erinnerungen seiner großen Liebe Su-
sette Gontard in den Mund legt – wir wis-
sen es nicht. Wir können, müssen aber
nicht wissen, dass Hölderlin, geistig um-
nachtet oder nicht, sich bei der Nieder-
schrift des Gedichts im Tübinger Turmzim-
mer des Schreinermeisters Ernst Zimmer
befand. Wir können, müssen aber nicht
mitbedenken, dass im Jahr 1796 Susettes
Ehemann, der Frankfurter Bankier Jacob
Friedrich Gontard, den Hofmeister Hölder-
lin gemeinsam mit Susette Gontard aus
Furcht vor den Franzosen Richtung Ham-
burg schickte und die heimlich Liebenden
einander so noch näherbrachte und ihnen
Bilder einer Reise schenkte, die womöglich
Eingang fanden in dieses Gedicht.
So selbstverständlich es auch sein mag,
die Dichtung Hölderlins in ihrem privaten
wie auch in ihrem historischen Kontext zu
begreifen, so elementar ist es, sich der inni-
gen Ansprache des Gedichts, seiner – und
für Hölderlin ist das ungewöhnlich – Münd-
lichkeit und seinem samtenen Sound zu
überlassen. Und wenn es dann am Ende

heißt: „Es waren schöne Tage. Aber / Trau-
rige Dämmerung folgte nachher“, fühlt
man sich kurz an den Anfang der „Duine-
ser Elegien“ von Rilke erinnert, bevor man
vor dem abrupten Schluss des Gedichts,
der so tröstlich ist wie der Blick aufs offene
Meer, plötzlich innehält. „Du seiest so al-
lein in der schönen Welt / Behauptest du
mir immer, Geliebter! Das / Weißt aber du
nicht,“ – und da, nach diesem in der Luft
schwebenden Komma, endet es. Man
muss von Hölderlins Schicksal nichts wis-
sen und auch nichts von der Beklommen-
heit, die in diesem Frühjahr viele Men-
schen befällt, um von dem Abbruch mitten
im Vers, von diesem Trostwort einer Lie-
benden an ihren fernen Geliebten, ange-
rührt zu werden. Aber eingedenk all des-
sen ergreift einen die sich darin ausdrü-
ckende Hoffnung nur noch mehr.
nadja küchenmeister

Nadja Küchenmeister lebt in Berlin. 2020
erschien ihr Gedichtband „Im Glasberg“.

Wenn ihm, wie im Gedicht „Abschied“,
das Wünschen verblutete, alles Lebendi-
ge wieder „fieberhaft und angekettet“ er-
scheint, dann zieht es Hölderlin zu den
Flüssen, den „Strömen“, seinen „sehn-
süchtigen Bächen“: Neckar, Donau/Ister,
Rhein, Illiß, Skamandros, Cephiß, Phasis,
Kaister, Jordan, Ganges, Main, Vouga,
Rhône, Dordogne, Garonne, Themodon,
Paktol. Dann fühlt er, dass er sich Luft ver-
schaffen, Wasser verschaffen muss, das
ihn, den Dichter, erst erschafft. Denn
„nicht gehn im Troknen / die Ströme“ –
weder die urgewaltigen, noch, möchte
man an die poetologische Fruchtbarkeit
der Tautologie dieses im Manuskript
überlieferten Ister-Verses glauben, dieje-
nigen, die seiner Feder entspringen und
„gehn“ mit hexametrischen Füßen.
Ein Leben lang wird Hölderlin die ele-
mentare Kraft des Wassers, sein „Gäh-
ren“, „Rollen“ und „Schüttern“ beschwö-
ren. „Ströme machen urbar das Land“,
schreibt er; und sie machen urbar zu-
gleich einen dichterischen Verstand, der
seinerseits Schriftströme von rhyth-
misch Vollkommenem, ‚Fließenden‘ zu
generieren trachtet. Ströme, Flüsse, Bä-
che, Quellen – Chiffren für eine poetische
Methode, ein uneinholbares Verfahren,
mittels welchen Hölderlin Gedichte in
sich auslöst. „So gib unschuldig Wasser“,
fleht er inmitten der Homburger Ödnis,
diesem „Brand / Der Wüste“, dem er,
nach Poesie dürstend, Patmos abringt.
Zu viel des Guten soll es gleichwohl nicht
sein: „Und daß uns nicht“, hält er in ei-
nem anderen seiner Wassergebete fest,
„dieweil wir roh sind / mit Wasserwellen
Gott schlage“. Wellen und Wasser sind
ihm als Inbilder „lebendigen Lebens“
(Blumenberg) willkommen, aber nur
dann, wenn er bereit ist, mitgerissen zu
werden, bei klarer Vernunft, jedoch nicht
„roh“, das heißt vielleicht: nicht „unwirth-
bar“ irr. Nur dann darf der nymphische
„Stromgeist“ über ihn kommen und sich
ergießen „mit beruhigender Flut“.
Bisweilen sucht der Wanderer Hölder-
lin die Quellen der von ihm besungenen
Flüsse in Person auf. Von Bordeaux kom-
mend, überquert er am 7. Juni 1802, als
dies noch möglich ist, den Rhein zwischen
Straßburg und Kehl und läuft, wohl einer
spontanen Eingebung folgend, anstatt
nach Nürtingen zu seiner Mutter, rhein-
aufwärts. Er will dem Rätsel des „Reinent-
sprungenen“ auf die Schliche kommen –
der letzte Akt seiner Entscheidungsfrei-
heit als mündiger Mensch. Aber was er er-
lebt, explizit im späten Gedicht „Der gefes-
selte Strom“ bezeugt, ist ein sich an ihm
vollziehendes Wunder. Und zwar zeitigt
die physische Gegenwart der gespaltenen
Rheinquelle unterhalb von Scardanal eine
beachtliche Wirkung auf seine Dichtung,
die von ihr, scheint es, induziert wird. Zeit-
gleich sprudeln beide Quellen: „Schon
tönt, schon tönt es ihm in der Brust, es
quillt, / Wie, da er noch im Schoße der Fel-
sen spielt, / Ihm auf ...“
Hölderlin ist der große Strombeschwö-
rer, derRiver man, den Nick Drake, um
Jahrhunderte versetzt, besingen wird:
„Going to see the river man / Going to tell
him all I can / About the ban / On feeling
free“. Zu dem gehe ich jetzt, in Straßburg
selbst nun wie gefesselt, gehe, um ihm
die neuerliche Unfreiheit am Grenzfluss
zu klagen. Es fällt schwer, Pläne für die
Fliederblüte zu schmieden. Man lässt uns
nicht mal mehr bis zum Fluss. Hyperion
tröstet: „Glaube mir und denk, ich sags
aus tiefer Seele dir: die Sprache ist ein gro-
ßer Überfluss.“ dagmara kraus

Dagmara Kraus lebt in Straßburg. Gerade
erschien ihr Band „liedvoll, deutschyzno“.

Das Münchner Dokumentarfilmfestival
Dokfest wird aufgrund der Coronapande-
mie digital stattfinden. Das teilten die Ver-
anstalter am Donnerstag mit. Unter dem
Motto „Dokfest München@Home 2020“
wolle man „mit dem Onlinefestival ein Zei-
chen setzen, dass die Kultur ein wichtiger
Aspekt unseres gesellschaftlichen Aus-
tauschs und Zusammenhalts ist und unbe-
dingt weiter stattfinden muss“, sagte der
Leiter Daniel Sponsel. Das physische Dok-
fest hätte vom 6. bis 17. Mai stattfinden sol-
len, eine Verschiebung sei nicht möglich
gewesen. Deshalb die Online-Edition zum
Streamen im geplanten Zeitraum. Das
Team arbeite derzeit noch am Programm,
das in den nächsten Wochen vorgestellt
werden soll.
Derweil kündigte der Filmfernseh-
fonds Bayern ebenfalls am Donnerstag in
München an, „dass eine Unterbrechung,
Verschiebung oder Abbruch der Drehar-
beiten keine negativen Auswirkungen auf
erteilte Förderzusagen“ habe.
Das solle Filmemachern, die wegen des
Virus eine unfreiwillige und teure Zwangs-
pause einlegen müssen, ein bisschen
mehr Planungssicherheit geben. Außer-
dem befinde man sich im Gespräch mit
den anderen deutschen Landesfilmförde-

rungen, um alsbald „einheitliche Hilfs-
maßnahmen“ zu entwickeln, die „zeitnah
und unbürokratisch“ umgesetzt werden
könnten.
Obwohl weltweit und auch in Deutsch-
land reihenweise bereits Dreharbeiten ab-
gebrochen wurden, wird bei manchen Pro-
jekten trotz der Pandemie immer noch
weitergearbeitet, weil die Produzenten
Angst vor dem Ruin haben. Manche fürch-
ten, leider auf Kosten der Gesundheit der
Mitarbeiter. Deshalb fordert zum Beispiel
der Filmverband Südwest „sämtliche sze-
nischen und werblichen Dreharbeiten
und Vorproduktionen mit sofortiger Wir-
kung einzustellen.“
Kein Set der Welt sei es wert, „Men-
schenleben dafür zu gefährden“. Der
FVSW appelliert deshalb an die baden-
württembergische Landesregierung so-
wie die Gemeinden, „explizit Dreharbei-
ten zu untersagen und bereits ausgespro-
chene Drehgenehmigungen unverzüglich
abzusagen“. Viele Produktionsfirmen wür-
den sich nicht trauen, die Arbeit von sich
aus zu unterbrechen, weil das zu finanziel-
len Ausfällen führen würde, die zu zahlrei-
chen Insolvenzen führen könne. Deshalb
sei eine entsprechende staatliche Verfü-
gung unumgänglich. david steinitz

Im Fall der seit zehn Tagen in einem fran-
zösischen Gefängnis festgehaltenen Sän-
gerin Rokia Traoré regt sich Protest. Die
1974 bei Bamako geborene malisch-fran-
zösische Künstlerin wurde auf dem Weg
von Mali nach Belgien bei einem Zwischen-
halt in Paris festgenommen aufgrund ei-
nes internationalen Haftbefehls gegen
sie. Ihr belgischer Ex-Mann hatte sie der
Kindsentführung, Freiheitsberaubung
und Geiselnahme beschuldigt, weil sie die
fünfjährige Tochter aus dem gemeinsa-
men Haushalt in Belgien nach Mali ge-
bracht habe. Ein Brüsseler Gericht hat
ihm in erster Instanz Recht gegeben und
ihm als Vater das alleinige Sorgerecht zuer-
kannt. Traoré hat dagegen Berufung ein-
gelegt mit der Begründung, sie lebe seit
fünf Jahren mit ihren Kindern in Bamako.
Sie war unterwegs nach Brüssel zu einer
Vorladung des belgischen Gerichts.
Mit ihren bisher sechs Alben ist die
stark von Billie Holiday beeinflusste Musi-
kerin eine international geachtete Persön-
lichkeit. Für die Bühne hat sie auch mit
der Schriftstellerin Toni Morrison und
dem Regisseur Peter Sellars zusammenge-
arbeitet. 2015 gehörte sie der Jury des
Filmfestivals von Cannes an. Seit 2016 ist
sie Botschafterin des Guten Willens beim
UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge.
Ihr dafür vom Staat Mali ausgestellter
Diplomatenpass hat ihr bei der Festnah-
me in Paris allerdings nichts genützt. In ei-
ner von ihrem Anwalt veröffentlichten Er-
klärung gibt sie an, ihr malischer Diploma-
tenstatus sei vom Richter für in Europa
wirkungslos abgetan worden. Traorés An-
walt kritisiert außerdem, dass das belgi-
sche Gericht aus ihrer Weigerung, das
Kind dem Vater zurückzugeben, die Straf-
tat der Kindsentführung konstruiert ha-
be.

Die Künstlerin hat ihrerseits gegen den
Vater eine Klage wegen sexueller Übergrif-
fe auf die fünfjährige Tochter eingereicht.
Seit ihrer Einlieferung in die Haftanstalt
Fleury-Mérogis bei Paris steht die Künstle-
rin im Hungerstreik. Laut ihrem Anwalt
ist sie sehr geschwächt und laufe Gefahr,
vom Covid-19-Virus infiziert zu werden.
Mittlerweile setzen sich Persönlichkei-
ten aus Kultur und Wissenschaft für sie
ein. Die Schriftstellerin Annie Ernaux, die
Philosophin Barbara Cassin, die Kunsthis-
torikerin Bénédicte Savoy, sowie Thomas
Oberender, Direktor der Berliner Festspie-
le, protestierten in einem Aufruf in der Zei-
tungLibération,es sei unzulässig, „dass ei-
ne Mutter, die sich zu einem Gerichtster-
min über das Sorgerecht ihres Kindes be-
gibt, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt
wird“. Das Pariser Gericht will am 25.
März entscheiden, ob Rokia Traoré an Bel-
gien ausgeliefert wird. jhan

Es gibt kaum etwas Traurigeres als einen
leeren Club mit guter Musik. Wobei diese
Wahrheit, wie viele Wahrheiten, auch nur
bis vergangene Woche galt. Jetzt gibt es
sehr viel Traurigeres, und die Berliner
Clubs, die geschlossen haben müssen und
sich sorgen, wie sie ihre Mitarbeiter wei-
ter bezahlen, wollen gegen den Corontäne-
Blues anspielen. Sie haben sich zur Initiati-
ve „United We Stream“ (unitedwestre-
am.berlin) zusammengeschlossen und
bieten in Kooperation mit Arte Concert
und Radioeins seit Mittwochabend täg-
lich von 19 Uhr an einen Live-Video-Stre-
am aus einem der beteiligten Clubs an.
Dort wechseln sich dann verschiedene
DJs hinter dem Pult ab und spielen ihre
Platten für eine frontal installierte Kame-
ra, vor leerer Tanzfläche.
Dass so durchaus die Stimmung etwas
steigen kann, zeigte am Mittwoch der ers-
te Stream. Im Watergate in Kreuzberg leg-
te Monika Kruse ihre harten, funktiona-
len Funky-Techno-Tracks auf und warf
sich zwischendurch immer wieder mit je-
mandem im Raum Lacher zu. Vermutlich
war es der Kameramann. Publikum war ja
keines vor Ort. Vorher hattenGheist, ein
Duo aus Berlin, vermutlich etwas zu dicht
nebeneinander hinter dem Pult gestan-
den, aber der Hit, den sie spielten, passte
zur Lage: „We’re Not Alone!“ ging der Re-
frain, wir sind nicht allein! Genau das ist ja
gerade die Herausforderung: Nähe und
Verbundenheit mit anderen zu spüren, oh-
ne sich physisch auf die Pelle zu rücken.
Zuhause vor einem Laptop tanzend geht
das vielleicht auch.
Die Berliner Clubszene steht derzeit
mit ihren geschätzt 9000 Mitarbeitern
(Barpersonal, Türsteher, Booker und viele
mehr) sowie den unzähligen in der Stadt le-
benden DJs und Produzenten vor der Her-
ausforderung, über die Dauer der Corona-
Krise nicht ihre Anziehungskraft zu verlie-
ren, die zuletzt rund drei Millionen Touris-

ten pro Jahr auf die Tanzflächen der Stadt
lockte. Andererseits will man auch nicht
den Eindruck erwecken, es gehe nur ums
Weiterfeiern. Der Empfang der abendli-
chen Streams ist kostenfrei, aber es wird
zu Spenden aufgerufen. Die Clubs – betei-
ligt sind unter anderem auch das Gret-
chen, Kater Blau und Tresor – wollen sie
untereinander aufteilen, um ihre Einnah-
menausfälle etwas zu kompensieren.
Wenn die DJs sich abwechseln, werden
dann für einige Momente Texttafeln mit
den neuen Regeln in den Stream geblen-
det: Abstand halten, Hände waschen, über
digitale Kanäle Kontakt zu den Lieben hal-
ten – man sollte das inzwischen alles wis-
sen. Hoffentlich wird derweil im Hinter-
grund auch kurz das Pult desinfiziert.
Dann geht es weiter.

Das reale Clubgefühl lässt sich so aber
nicht wirklich digitalisieren. Profis sagen,
dass es sich ohnehin erst einstellt, wenn
man eine halbe Stunde vor dem Klo anste-
hen muss, bis eine Kabine frei wird.
Zu Hause kann man nur so Abhilfe
schaffen: Sich selbst beim Tanzen mal auf
den Fuß treten oder, wenn man Durst hat,
sich nicht einfach ein Bier holen, sondern
sich eine Viertelstunde lang auf Zehenspit-
zen vor den Kühlschrank stellen und sich
den Barkeeper, der einen ignoriert, dazu
denken. Und wenn der Laptop-Bass nicht
fett genug ist, kann man sich ja im Rhyth-
mus der Beats ein Kopfkissen auf den Un-
terbauch schlagen. Vielleicht wird man
sich so an Home-Clubbing mit „United We
Stream“ schneller gewöhnen, als man
dachte. Dass es nur eine Simulation ist,
daran erinnern ja die Spendenaufrufe.
jan kedves

Ströme, Quellen,


Flut und Überfluss


Die Schafe


des Himmels


Mit gelben Quitten


hänget


Wenn der Laptop-Bass nicht
fett genug ist, schlägt man sich
ein Kopfkissen auf den Bauch

Kino & Corona


Dokfest geht online, Filmförderer wollen helfen


Naivität und Unschuld sind


nicht zu haben, ebenso wenig


Alleinheitsfantasien


„Über dem Stege beginnen Schafe
// Den Zug, der fast in
dämmernde Wälder geht“

So allein in der


schönen Welt


Man darf nicht locker lassen,


muss ihr den Saft


zu entlocken wissen


Haft mit Diplomatenpass


Prominente fordern Freiheit für Rokia Traoré


Ekstase


zu Hause


Berliner Clubs probieren digitales Home-Clubbing


DEFGH Nr. 67, Freitag, 20. März 2020 (^) FEUILLETON 13
Sitzt in Paris im Gefängnis: die mali-
sche Sängerin Rokia Traoré. FOTO: AFP
Hölderlins eigenhändiges
Gedicht „Aussicht“
vom 24. März 1671, unter-
zeichnet „Mit Untertänig-
keit / Scardanelli“ – das
war das bekannteste
Pseudonym des Dichters.
FOTO: DLA MARBACH


über ihre Lieblingsmotive
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