Süddeutsche Zeitung - 20.03.2020

(nextflipdebug5) #1
In den Büros der Gegenwart lauern überall
Ablenkungen – und für das Home Office
gilt das erst recht. Die Verlockungen des In-
ternets sind stets nur einen Click vom
Buchhaltungssystem oder anderen lästi-
gen Anwendungen entfernt. Nur mal kurz
bei Facebook schauen und dann geht es
weiter. Die schlimmste aller Verführungen
aber liegt stumm auf dem Tisch und quen-
gelt doch ähnlich penetrant um Beachtung
wie ein übellauniges Kindergartenkind:
das Smartphone. Selbst wenn dieses Gerät
keinen Mucks, kein Brummen oder Blin-
ken von sich gibt, greifen viele Menschen
danach und drücken oder wischen ein we-
nig darauf herum. „Mikropausen“ nennen
Psychologen um Jonas Dora von der Rad-
boud Universität in Nijmegen diese kurzen
Unterbrechungen und stellen die Frage, ob
dies der Entspannung gestresster Arbeit-
nehmer förderlich ist oder vielleicht sogar
kontraproduktiv sein könnte. Wie sie in ei-
ner Studie berichten, greifen die Men-
schen in der Arbeit mit höherer Wahr-
scheinlichkeit nach dem Smartphone,
wenn sie müde und gelangweilt sind. Und
nach getaner Ablenkung scheinen sie das
kleine Quälgerät noch ein wenig müder
und noch ein wenig stärker angeödet wie-
der wegzulegen. Das klingt fast nach ei-
nem kleinen Büro-Teufelskreis.

„Es ist nur zwei Jahrzehnte her, dass die
Menschen während der Arbeit von ihrem
Privatleben weitgehend getrennt waren“,
schreiben die Psychologen in ihrer Studie,
die auf dem Preprint-ServerPsyArXivver-
öffentlich wurde. Heute drängelt sich das
Private tagsüber ins Berufliche, am Abend
und Wochenende ist es dann umgekehrt –
und stets spielt das Smartphone als Ein-
fallstor die wesentliche Rolle. Im Büro gilt
das speziell dann, wenn Arbeitnehmer mal
wieder im ewigen Zielkonflikt des Lebens
stecken: Sollen sie weiter an einer fordern-
den, aber sterbenslangweiligen Aufgabe ar-
beiten (Arbeit)? Oder sich einer anstren-
gungslosen und dafür belohnenden Tätig-
keit hingeben (Freunde bei Social Media
kontaktieren)? Wenn Müdigkeit und Lan-
geweile auf die Augenlider und das Gemüt
drücken, dann erscheint die zweite Mög-
lichkeit umso verlockender.
Für ihre Studie brachten die Psycholo-
gen ihre Probanden dazu, je einmal pro
Stunde an drei Arbeitstagen ihren gegen-
wärtigen Grad an Müdigkeit und empfun-
dener Langeweile anzugeben. Zugleich
überwachten die Wissenschaftler per App
die Häufigkeit, mit der die Teilnehmer
nach ihrem Smartphone griffen. In den 20
Minuten nach einer Abfrage des Gemütszu-
stands verwendeten Probanden in 52 Pro-
zent der Fälle ihr Handy. Im Schnitt daddel-
ten sie dann 92 Sekunden mit dem Gerät
herum. Erschöpfung und Langeweile kor-
relierten demnach mit erhöhtem Drang,
sich das Smartphone zu nehmen. Ein An-
stieg der Erschöpfung um zehn Punkte auf
einer von den Forschern erstellten
100-Punkte-Skala, ging mit einer um 40
Prozent erhöhten Wahrscheinlichkeit ein-

her, das kleine Nervgerät in die Hand zu
nehmen und sich damit abzulenken. Wie
lange damit herumgespielt wurde, hing
hingegen nicht davon ab, wie müde oder ge-
langweilt die Teilnehmer waren. Auch aus
anderen Studien gibt es Befunde, dass mü-
de Menschen sich eher per Smartphone-
Gedaddel aus Aufgaben ausklinken. Der
potenzielle Wert der aktuellen Arbeit liegt
auch darin, dieses Verhalten in der soge-
nannten echten Welt beobachtet und quan-
tifiziert zu haben statt in einer der oft artifi-
ziellen Situationen, wie sie für psychologi-
sche Experimente typisch sind.
Bemerkenswert war, dass der Smart-
phone-Gebrauch offenbar Müdigkeit und
Langeweile verstärkte statt durch Entspan-
nung geistig zu erfrischen. Allerdings, das
betonen die Psychologen aus den Nieder-
landen, handele es sich hier um einen sehr
kleinen Effekt, der mit Vorsicht zu genie-
ßen sei. Aus der Fachliteratur ist bekannt,
dass es kognitiv fordernd ist, zwischen ver-
schiedenen Aufgaben und Tätigkeiten hin
und her zu wechseln. Da klingt es zumin-
dest einleuchtend, dass es erschöpft, zwi-
schen Smartphone und Arbeit zu springen.
Es reicht auch die eigene Erfahrung aus
dem Büro, um zu wissen: Es schlägt einem
halt auf die Laune, wenn man sich schon
wieder vor der eigentlichen Aufgabe weg-
geduckt hat und nun nach einem sinnlo-
sen Ausflug in die Scheinwelt von Insta-
gram abermals Anlauf nehmen muss. Allei-
ne dieser permanente innere Kampf kostet
Energie, die danach fehlt. Wenn es nur
nicht so schwer wäre, die Finger vom Han-
dy zu lassen. sebastian herrmann

Derzeit lernen Ärzte und Wissenschaftler
in rasantem Tempo hinzu. Was heute noch
als unumstößliche Wahrheit gilt, kann in
ein paar Tagen schon nicht mehr gültig
sein. Ein paar Erkenntnisse zum Verlauf ei-
ner Infektion und späteren Erkrankung
mit dem Virus Sars-CoV-2 gibt es aller-
dings schon – und je länger die Corona-
Pandemie noch anhält, desto genauer wer-
den die Beschreibungen des Krankheits-
verlaufs und der beobachteten Symptome
ausfallen.


Wann treten Symptome auf?
Im Mittel dauert es fünf bis sechs Tage von
dem Moment der Ansteckung bis zu dem
Zeitpunkt, an dem die ersten Symptome
auftreten. Die Inkubationszeit mit dem Co-
ronavirus kann aber auch bis zu 14 Tage be-
tragen. Leider gilt es als sicher, dass Men-
schen häufig auch dann bereits anste-
ckend sind und das Virus übertragen,
wenn sie selbst noch keinerlei Beschwer-
den spüren und sich pudelwohl fühlen.
Weil Menschen zumeist erst nach Be-
ginn der ersten Symptome getestet wer-
den, also frühestens fünf, sechs Tage nach
der Ansteckung, und die zentrale Erfas-
sung der Meldungen zusätzlich ein bis
zwei Tage beansprucht, hinken die offiziel-
len Angaben zur Zahl der Infizierten min-
destens eine Woche hinterher.


Welche Symptome sind typisch für eine
Infektion mit dem Coronavirus?
Hundertprozentig sicher lässt sich eine In-
fektion mit Sars-CoV-2 anhand der klini-
schen Symptome weder feststellen noch


ausschließen. Allerdings wurden in diver-
sen Untersuchungen und Erfahrungsbe-
richten Fieber und trockener Husten als
häufigste Beschwerden genannt. Sie treten
bei mehr als drei Viertel der Patienten auf.
Auch unklares Fieber allein könnte auf Co-
vid-19 hindeuten. Erschöpfung und Glie-
derschmerzen sind ebenfalls relativ häufig
und wurden bei fast der Hälfte der Patien-
ten beobachtet. Kopfschmerzen und Hals-

schmerzen sind seltener, können aber
auch vorkommen. Das Gleiche gilt für
Schnupfen und eine triefende Nase, auch
Durchfall kam bei einigen Patienten vor.
Die letztgenannten Symptome allein ma-
chen eine Infektion jedoch eher unwahr-
scheinlich, da Fieber und trockener Hus-
ten dabei fast immer vorkommen.
Kurzatmigkeit, die sich bis zur Atemnot
steigert, weist eher auf einen schwereren

Krankheitsverlauf hin. Sie zeigt sich dar-
an, dass die Atemfrequenz in Ruhe nicht
mehr bei den üblichen zwölf bis 16 Atem-
zügen pro Minute liegt (bei Kindern ist sie
höher), sondern auf deutlich mehr als
20 Atemzüge pro Minute ansteigt. Ein wei-
teres Zeichen besteht darin, bei geringer
Anstrengung bereits außer Atem zu kom-
men, ohne dass dies zuvor in ähnlichen Si-
tuationen der Fall gewesen wäre. Wer auf-
geregt oder ängstlich ist, hat ebenfalls eine
höhere Atemfrequenz, deshalb sollte sie
nicht dann gezählt werden, wenn die Aufre-
gung gerade groß ist.

Ist eine Infektion mit dem Coronavirus
bei Schnupfen ausgeschlossen?
Wie bereits erwähnt, kann es bei einer In-
fektion mit dem Erreger Sars-CoV-2 auch
zu Schnupfen kommen, auch wenn dies
deutlich seltener ist als trockener Husten.
Eine laufende Nase ist deshalb kein Aus-
schlusskriterium; die Angaben zur Häufig-
keit schwanken bisher zwischen fünf und
30 Prozent.

Was sagt die Art des Auswurfs über die
Erkrankung aus?
Trockener Husten zeichnet sich nicht nur
durch das bellend-heisere Geräusch aus,
sondern auch dadurch, dass dabei nur ver-
gleichsweise wenig Auswurf produziert
wird. Das Gegenteil davon ist „produktiver
Husten“. Dabei gilt die Faustregel, dass
grün-gelb gefärbter Auswurf eher auf bak-
terielle Infektionen hindeutet, durchsich-
tig-glasiger hingegen für eine Virus-Infek-
tion spricht.

Sind Geruch und Geschmack bei einer In-
fektion beeinträchtigt?
Es wurde darüber berichtet, dass Patien-
ten während der Erkrankung nichts mehr
riechen oder schmecken. Wie häufig dies
vorkommt, ist noch unklar. Leider sind die-
se Symptome nicht exklusiv auf eine Infek-
tion mit dem Coronavirus beschränkt. Je
nach Erreger wird auch bei grippalen Infek-
ten oder einer Grippe von Patienten dar-
über geklagt, dass sie während der Krank-
heit – und manchmal auch Wochen da-
nach – nichts riechen oder schmecken.

Wie lange dauern die Symptome an?
Bei Menschen mit leichten Beschwerden
klingen die Symptome meist nach zehn bis
14 Tagen ab. Wer schwerer betroffen ist
und in der Klinik behandelt werden muss,
kann drei bis sechs Wochen lang krank
sein und an Einschränkungen leiden.

Wer bekommt überhaupt Symptome?
Bisher gilt als gesichert, dass mehr als
80 Prozent der Infizierten keine oder nur
leichte Symptome bemerken. Bei etwa
15 Prozent der Betroffenen kommt es zu ei-
nem schweren Krankheitsverlauf, bis zu
fünf Prozent müssen intensivmedizinisch
behandelt werden. Wenn sich die Vermu-
tung bestätigt, dass die Zahl der Infizierten
um den Faktor 10 höher liegt, als es aktuel-
le Zahlen vermitteln, würde der Anteil der
schwer Erkrankten entsprechend geringer
ausfallen. Unter den bisherigen Infizierten
waren mehr ältere Menschen, mehr Män-
ner und mehr Patienten mit Vorerkrankun-
gen. werner bartens

von hanno charisius

N


och Anfang Februar hätten wahr-
scheinlich die wenigsten Menschen
geglaubt, dass bald in Deutschland
Schulen und Geschäfte schließen, Fußball-
spiele in leeren Stadien ausgetragen oder
ganz abgesagt werden, Weltkonzerne die
Produktion stoppen und gefühlt die Hälfte
der Bevölkerung täglich mehrfach auf die
Zahl der neuen Coronavirus-Infektionen
starrt. Wächst sie immer noch exponenti-
ell? Hat sich der Verzicht der letzten Tage,
auf Kneipe, Sport und Konzerte, auf Arbeit
und Schule vielleicht schon gelohnt? Wann
ist es endlich wieder vorbei? Dürfen in vier
Wochen wieder alle tun, was man im Früh-
ling gerne tut?
„Nein“, sagt der Epidemiologe Gérard
Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infek-
tionsforschung in Braunschweig, „das Vi-
rus wird durch die aktuellen Maßnahmen
nicht gestoppt, wir verschaffen nur den
Krankenhäusern mehr Luft, damit sie mit
weniger Fällen gleichzeitig umgehen müs-
sen“. Auch die Virologin Ulrike Protzer von
der TU München und dem Helmholtz Zen-
trum München glaubt nicht an ein rasches
Ende des Seuchenzugs: „Wir werden es
nicht schaffen, dass das Virus ganz wieder
verschwindet.“


Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ in
ihrer Fernsehansprache am Mittwoch-
abend offen, wie es weitergeht mit der Epi-
demie in Deutschland. Doch ihr Auftritt
verdeutlichte den Ernst der Lage. „Besten-
falls“, so sagt Protzer, „kann es durch die
richtigen Maßnahmen und Geduld gelin-
gen, die Ausbreitung vielleicht so weit
bremsen, dass wir mit den dann kleinen
Fallzahlen so gut umgehen können, wie
mit dem ersten Ausbruch Ende Januar bei
München. Das ist das Ziel.“ Die Virologin
bezweifelt allerdings, dass fünf Wochen
Pause reichen. „China hatte fast acht Wo-
chen und kehrt jetzt allmählich zum nor-
malen Alltag zurück.“
Protzer rechnet damit, dass es auch in
Deutschland wenigstens acht Wochen dau-
ern könnte, bis das Virus wieder halbwegs
kontrollierbar sei, „wenn man massiv
durchgreift“. Vergleicht man den Aus-
bruch mit einem Flächenbrand, könnte
durch Maßnahmen wie Schulschließun-
gen, Einschränkungen des öffentlichen Le-
bens und vielleicht auch noch Ausgangs-
sperren die Hitze so weit gemindert wer-
den, dass nur noch wenige Flammen hoch-
schießen, die durch schnelles Reagieren ge-
löscht werden. Das hieße: Sobald irgendwo
ein Erkrankungsfall auftaucht, müssten
sogenannte Contact Tracer alle Kontakt-
personen des Infizierten der vergangenen
Tage aufspüren und in Quarantäne brin-
gen. Bis dahin müsste das Virus auf ein be-
herrschbares Maß eingedämmt werden.
Das es klappen kann, hat China gezeigt



  • zumindest wenn man den Zahlen der
    Volksrepublik traut. Ob die dortigen Behör-
    den die wahrscheinlich bald wieder auf-
    flammenden Ausbrüche schnell genug wie-
    der bändigen können, bleibt abzuwarten.
    Südkorea hat seinen Ausbruch innerhalb
    kurzer Zeit mit weniger drakonischen Maß-
    nahmen als Ausgangssperren und Schul-
    schließungen in den Griff bekommen.
    Stattdessen wurde dort massenhaft getes-
    tet. Alle Menschen, bei denen der Virustest
    ansprach, wurden schnell isoliert und alle
    Verdachtsfälle gleich mit ihnen. Über die
    Mobilfunkdaten wurden Menschen aufge-
    spürt, die sich in der Nähe von Infizierten
    aufgehalten hatten. So schaffte es Südko-
    rea, die Zahl der täglichen Neuinfektionen
    von 909 am 29. Februar in gut zwei Wo-
    chen auf weniger als einhundert zu drü-
    cken. Ob das so bleibt? Ungewiss.
    Einschränkungen des öffentlichen Le-
    bens gepaart mit permanenter Wachsam-
    keit liefern nach Ansicht vieler Wissen-
    schaftlerinnen und Wissenschaftler der-
    zeit das optimistische Szenario für den Um-


gang mit dem Erreger. Auf diesem Weg
könnte es immer wieder einige Wochen
mit weniger Einschränkungen geben, bis
das Virus sich wieder zu breit macht.
Schlimmstenfalls droht ein dauerhafter
Lockdown über Monate hinweg, bis ein
Impfstoff gefunden ist. „Wir leben in einer
neuen Realität“, sagte der Europa-Direk-
tor der WHO Hans Kluge in dieser Woche.
Welcher Weg richtig ist, muss jeder
Staat für sich selbst herausfinden. „Es
wird Tage dauern, bis man vielleicht einen
Effekt sieht, und man wird nachjustieren
müssen“, sagt Ulrike Protzer. Andere Län-
der versuchten es derzeit auf ihre Weise,
mit der Zeit werde man lernen, „welche
Maßnahmen in welchen Kombinationen et-
was bringen, und wo man vielleicht wieder
etwas lockerer werden kann“.

Mit etwas Glück und vor allem Disziplin
könnte die wochenlange Abschottung den
Kollaps des Gesundheitssystems vorerst
verhindern – zumindest in der ersten Jah-
reshälfte. „Wir laufen in die Sommermona-
te hinein“, sagt Ulrike Protzer, „das UV-
Licht der Sonne kann die Aktivität der Vi-
ren einschränken. Dass kann uns helfen,
es wird aber nicht reichen, um das Virus zu
stoppen.“ Sie geht wie viele andere Exper-
tinnen und Experten davon aus, dass mit
großer Wahrscheinlichkeit im Herbst eine

zweite Coronaviruswelle über die Nordhälf-
te der Erde rollt. „Für einen wellenförmi-
gen Verlauf sprechen historische Erfahrun-
gen“, sagt Epidemiologe Gérard Krause. In
der Vergangenheit sind Influenzapande-
mien über zwei bis drei Jahre in Wellen um
den Globus gezogen. Stärkere und schwä-
chere Verbreitung in verschiedenen Erdtei-
len wechselten sich ab. „Es wäre ein Fehler,
mit der Bekämpfung nachzulassen, wenn
die Infektionszahlen kleiner werden“, sagt
Protzer.
Vielmehr sollte die Zeit, die jetzt viel-
leicht gewonnen wird, genutzt werden, um
die Kapazitäten von Krankenhäusern aus-
zubauen und die Testinfrastruktur zu ver-
stärken. China macht das laut Medienbe-
richten bereits vor und wappnet sich mit
mehr Beatmungsmaschinen, Kranken-
hausbetten, Pflegern, Ärzten und Contact
Tracern gegen die Rückkehr der Viren.
Auch WHO-Direktor Tedros Adhanom
Ghebreyesus hat in dieser Woche unabläs-
sig betont, wie wichtig es ist, Ansteckun-
gen aufzuspüren. Infizierte zu erkennen
und zu isolieren sowie ihre Kontaktperso-
nen aufzuspüren und zu überwachen, müs-
se im Zentrum jeder Abwehrmaßnahme
stehen, nur so könnten Ausbrüche im
Zaum gehalten werden. Menschen auf Dis-
tanz zu halten, werde allein nicht genügen.
„Testen, testen, testen“, rief Tedros wäh-
rend einer Pressekonferenz. „Blind kann
man kein Feuer bekämpfen.“ Jeder Ver-
dachtsfall müsse getestet werden. Und für
ihn ungewöhnlich harsch kritisierte er Län-
der, die auf Schulschließungen und Aus-

gangssperren setzen, aber das Aufspüren
von Infizierten vernachlässigen. „Wir kön-
nen die Pandemie nicht stoppen, wenn wir
nicht wissen, wer infiziert ist.“
Die in Deutschland verhängten Maßnah-
men sollen es ermöglichen, wieder alle Ver-
dachtsfälle zu finden. Momentan ist die
Zahl der Infizierten zu hoch, um sie selbst
mit einer starken Contact-Tracer-Truppe
in den Griff zu bekommen. In Norditalien
mussten Ärzte bereits darüber entschei-
den, wem sie helfen, und wem nicht, weil
es zu viele Patienten gleichzeitig gab. Ob
die Neuinfektionen so weit gebremst wer-
den können, dass es in Deutschland nicht
zu ähnlichen Situationen kommt, wird sich
in den kommenden Wochen zeigen.

Wie lange die Einschränkungen beste-
hen bleiben, vermag niemand zu sagen.
Vielleicht will aber auch niemand die
schlechte Botschaft überbringen. Eine ak-
tuelle Modellrechnung des Covid-19-Res-
ponse-Teams vom Imperial College in Lon-
don macht zumindest keine Hoffnung auf
ein baldiges Ende der empfohlenen Ab-
standswahrung. Die Forscher simulierten
im Computermodell verschiedene Vorge-
hensweisen. Mal ließen sie dem Erreger
freien Lauf, was zu einem exponentiellen
Anstieg der Fallzahlen führte, mit 500 000
Toten in Großbritannien und garantiertem

Kollaps der Gesundheitsversorgung in we-
nigen Wochen. Mal bremsten sie das Virus
in der Simulation durch milde, kurzzeitige
Eingriffe ins öffentliche Leben. Die so abge-
schwächte Epidemie könnte noch immer
zu Hunderttausenden Todesfällen führen
und die Gesundheitsversorgung zusam-
menbrechen, allerdings etwas später als
beim Nichtstun.
Nur die möglichst vollständige Unter-
drückung der Epidemie, so wie es Deutsch-
land derzeit im Ansatz versucht, sei eine
wirkungsvolle Strategie gegen den Erre-
ger, schreiben die Forscherinnen und For-
scher in ihrem Fazit. Das gelte zumindest
bis es einen Impfstoff gibt – frühestens En-
de des Jahres, wahrscheinlicher Mitte
nächsten Jahres. Doch der Aufsatz, der ver-
mutlich bereits viele politische Entschei-
dungen beeinflusst hat, benennt auch die
sozialen und ökonomischen Folgen der
Maßnahmen. Diese könnten umwälzende
Effekte haben. „Noch nie wurden so weit-
reichende Maßnahmen zum Schutz der öf-
fentlichen Gesundheit für einen so langen
Zeitraum versucht. Wie die Gesellschaft
darauf reagiert ist unklar.“
Selbst einige Experten verzweifeln ange-
sichts der Herausforderung: „Ich habe lan-
ge nachgedacht, wie man diese Pandemie
eindämmen könnte. Mir ist keine gute Lö-
sung eingefallen“, sagte Francois Balloux,
Professor für Computational Systems
Biology am University College London.
„Schlimmer noch: Ich bin mir nicht sicher,
ob es eine akzeptable Lösung für das Pro-
blem gibt, dem wir gegenüberstehen.“

Nur ganz


kurz gucken


Wie Müdigkeit und Langeweile
Menschen zum Smartphone treibt

Das optimistische Szenario:


Immer wieder Einschränkungen


und permanente Wachsamkeit


„Testen, testen, testen“, mahnt
der WHO-Chef – man könne blind
kein Feuer bekämpfen

Zeichen und Symptome


Was über den Verlauf der Infektion mit Sars-CoV-2 und die Merkmale einer Erkrankung bisher bekannt ist


Nach einem halb freiwilligen
Ausflug in die sozialen Medien
ist die Laune im Keller

Wie lange noch?


Viele hoffen, nach einigen Wochen Ausnahmezustand wieder zum Alltag zurückkehren zu können.


Doch selbst optimistische Berechnungen zur Corona-Pandemie lassen daran zweifeln


Das pessimistische Szenario:
Hunderttausende Tote und ein
Kollaps des Gesundheitssystems

(^14) WISSEN Freitag, 20. März 2020, Nr. 67 DEFGH
Eine erhöhte Körpertemperatur kann ein Hinweis auf Covid-19 sein – ist aber
noch kein Beweis dafür. FOTO: JOHANN GRODER / DPA
Das Virus ist im deutschen Alltag angekommen. FOTO: FRANK RUMPENHORST/DPA
Arbeiten oder lieber schnell bei Insta-
gram eintauchen? FOTO: AFP

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