Süddeutsche Zeitung - 20.03.2020

(nextflipdebug5) #1

A


ngela Merkel wollte so etwas
nie tun. Eine Fernsehanspra-
che in Notlage? Das hat sie im-
mer abgelehnt, auch in schwers-
ten Augenblicken. Da konnten
die Banken in der Finanzkrise den Zusam-
menbruch fürchten; da konnten die deut-
schen Unternehmen in der Weltwirt-
schaftskrise um Unterstützung betteln.
Ja, da konnte die Aufnahme von Hundert-
tausenden Flüchtlingen an den Nerven
von Politikern, Parteien, Bürgermeistern
und Helfern zerren – eine Ansprache ans
Volk, gar ein pathetischer Appell kam für
diese Kanzlerin nie infrage.
Daran muss man erinnern, damit klar
wird, welche Bedeutung die Fernsehan-
sprache der Kanzlerin am Mittwochabend
hatte. Schon die Tatsache, dass es sie gab,
war eine Sensation. Und die Botschaft an
die Bevölkerung war unmissverständlich:
Schlimmer kann die Krise kaum noch wer-
den. Merkels Auftritt war der schon fast
letzte Versuch, die Menschen wachzurüt-
teln. Und er belegt eindrücklich, dass die
Kanzlerin die Bedrohung durch Covid-
für existenziell hält; existenziell für das
Land als Ganzes, aber auch für jeden ein-
zelnen Menschen. Deshalb ist es richtig
und unverzichtbar gewesen, dass sie sich
zu diesem Auftritt durchrang.


Wer in den vergangenen Tagen gese-
hen hat, wie viele Menschen auf den Stra-
ßen, in den Parks, in den Supermärkten al-
le bisherigen Warnungen in den Wind
schlagen, hofft längst, dass die Regierung
alles unternimmt, um diesen Leuten den
Ernst der Lage bewusst zu machen. Was
im Kern ja bedeutet: Haltet Abstand und
verzichtet auf soziale Kontakte. Denn nur
so können die besonders Gefährdeten, vor
allem die Alten, geschützt werden. Schon
die Schulschließungen sollten dazu beitra-
gen. Dann folgte die Einschränkung des
Geschäftslebens für die nicht lebenswich-
tigen Branchen. Geholfen hat das alles
aber nicht, jedenfalls nicht so wie nötig. Al-
so sprang Merkel über ihren Schatten und
tat, was überfällig war: Sie hat einen dra-
matischen Appell an alle gerichtet.
Allerdings nutzte sie ihren Auftritt
nicht dazu, das Allerhärteste zu verkün-
den. Sie hat keine Ausgangssperre ange-
droht; sie ist vor die Kameras gegangen,
um ebendiese doch noch verhindern zu
können. Merkel zeichnete zwar das Bild
von der größten Herausforderung seit
dem Zweiten Weltkrieg, aber sie sprach
nicht von „Krieg“. Sie setzt nicht auf marti-
alische Worte oder Gesten, sondern nach


wie vor auf die Vernunft der Menschen.
Sie hat also versucht, was sie seit zwanzig
Jahren zum Herzstück ihres Handelns
macht: nicht den großen Zampano geben,
sondern mit Vernunft versuchen, Gutes
zu bewirken und Schlimmes zu verhin-
dern. Ob das reicht, weiß niemand. Aber
ihre Tonlage wird zumindest nicht dazu
führen, dass die Bevölkerung in Verunsi-
cherung und Angst versinkt.
Mehr noch: Im Wissen um die Sorge,
die viele derzeit bei der Preisgabe ihrer
Grundfreiheiten umtreibt, hat Merkel
auch das eigene Unbehagen und das dau-
ernde Abwägen hervorgehoben. Für jene,
die sich nach einer harten Hand sehnen,
ist das sicher zu wenig. Demokraten aber,
die in der aktuellen Not um ihre Freihei-
ten fürchten, erkennen darin die wohltu-
ende Selbstbescheidung einer Regierungs-
chefin. Merkel hat ihre Zweifel an solchen
Auftritten überwunden und ist sich doch
treu geblieben.
Mit einer Ausnahme freilich: Sie ist so
pathetisch geworden, wie das öffentlich
kaum jemand vorher von ihr erlebt hat.
Sie hat die Wissenschaft verteidigt und
vor den Verschwörern gewarnt. Sie hat an
die Leute an „vorderster Linie“ erinnert
und den Blick auf jene gelenkt, die wie
Pfleger und Kassiererinnen zu oft wenig
Anerkennung erhalten, aber plötzlich zu
entscheidenden Akteuren werden. Und
sie hat denen ins Gewissen geredet, die
vielleicht schon mit dem Gedanken liebäu-
geln, man solle für die besonders bedroh-
ten alten Menschen nicht gleich den gan-
zen Wohlstand aufs Spiel setzen. Wer
spürt, wie sehr Solidarität und sozialer Zu-
sammenhalt in der Krise bedroht sind,
kann ihr dafür nur danken.
Mit all dem zeigt Merkel indes auch,
dass sie etwas gelernt hat. Dass sie heute
anders agiert als zu Zeiten der Flüchtlings-
krise. Niemand kann sicher sagen, was ge-
wesen wäre, wenn sie damals das eigene
Tun, die Motive, Abwägungen, Beschlüsse
ähnlich ausgebreitet hätte. Aber viele ha-
ben bis heute das Gefühl, dass das gefehlt
hat. Nun hat sie – fast schon einem Ver-
mächtnis gleich – erklärt, zu „offenen De-
mokratien“ gehöre es, dass Regierungen
ihr Handeln „transparent“ machen, „gut
begründen und kommunizieren“, damit
es „nachvollziehbar“ sei. Das ist nicht nur
ein Satz. Es ist eine Selbstverpflichtung,
hinter die sie nicht mehr zurückkann.
Angela Merkel hat die Lage als „dyna-
misch und offen“ beschrieben. Offen ist
leider auch die Antwort auf die Frage, ob
die Kanzlerin mit diesem Auftritt Erfolg
haben wird. Einem Auftritt, der vielleicht
als ihr wichtigster, auf alle Fälle aber als
ihr dramatischster in die Geschichte einge-
hen könnte. Nicht, weil sie das wollte. Weil
sie es musste.

Es war um 22 Uhr am Mittwochabend, als
Günther Platter auf Facebook ein Video
freischaltete: Schlecht ausgeleuchtet
stand der Tiroler Landeshauptmann vor
der Kamera, linker Hand die Flagge mit
dem roten Adler. Er schaute ernst, er kne-
tete die Finger, und er sagte: „Tirol isoliert
sich selbst.“ Von Mitternacht an bis zum


  1. April hat der Regierungschef eine
    Quarantäne verhängt über alle 279 Ge-
    meinden und alle 750000 Einwohner sei-
    nes österreichischen Bundeslandes. Von
    „Kraft und Konsequenz“ hat er noch ge-
    sprochen und zum Abschied mit dialekt-
    gefärbtem Pathos erklärt: „Gemeinsam
    pack ma des.“ Doch ob er selbst es schafft,
    aus dieser Nummer heil herauszukom-
    men, ist keineswegs gewiss.
    Denn der 65 Jahre alte ÖVP-Politiker,
    der so gern den gemütlichen Landesvater
    gibt, muss sich schwere Versäumnisse bei
    der Bekämpfung des Coronavirus vorwer-
    fen lassen. Die Skigebiete im schönen Ti-
    rol und allen voran der feierwütige Ort
    Ischgl gelten mittlerweile als Ausgangs-
    punkt einer Infektionskette, die sich quer
    durch Europa zieht. Hunderte, eher sogar
    Tausende Touristen dürften das Virus
    von hier aus unter anderem nach Deutsch-
    land, in die Niederlande und nach Skandi-
    navien gebracht und dort verbreitet ha-
    ben. Als dieses schöne Tirol dann anders-
    wo längst zum Risikogebiet erklärt wor-
    den war, haben die dortigen Behörden, of-
    fenbar mit Rücksicht auf die Einnahmen
    aus dem Tourismus, viel zu lange gezö-
    gert, die Skilifte und die Après-Ski-Bars
    zu schließen. Obendrein haben sie dann
    noch bis ins Bizarre hinein geleugnet, ir-
    gendetwas falsch gemacht zu haben.
    Erst als der Druck wohl auch aus Wien
    kam, hat Platter nun die Reißleine gezo-


gen und sein Bundesland abgeschottet, in
dem allein ein Viertel aller rund 2000 ös-
terreichischen Infektionsfälle gezählt
werden. Sogar ein wenig Selbstkritik hat
er sich abgerungen: „Es ist auch keine
Schande zu sagen, dass man mit den
Erkenntnissen von heute durchaus noch
früher Entscheidungen getroffen hätte.“
Aber: „Das Buch jetzt von hinten zu lesen,
ist leicht.“
Mit Büchern immerhin kennt er sich
aus, als Buchdrucker hat er sein Berufs-
leben begonnen. Danach ist er zur Gendar-
merie gegangen, und dass er schließlich
in der Politik gelandet ist, bezeichnet er

selbst immer als „Zufall“. Dieser Zufall
trägt ihn nun schon durch mehr als drei
Jahrzehnte. Begonnen hat er als Gemein-
derat und Bürgermeister in seinem Hei-
matort Zams im Tiroler Oberland. Dort
lebt er auch heute noch mit seiner Frau,
die beiden Söhne sind erwachsen. Karrie-
re gemacht hat er als Politik-Pendler
zwischen Wien und Innsbruck. Im Bund
diente er erst als Verteidigungs-, dann als
Innenminister. Am Ziel war er 2008, als er
nach Tirol zurückkehrte und zum Landes-
hauptmann gekürt wurde.
Jüngst hat er die Bayern und die Bun-
desregierung in Berlin das Fürchten ge-
lehrt als Kämpfer gegen den Transitver-
kehr. Das sichert ihm die Dankbarkeit der
lärm- und abgasgeplagten Tiroler. Die
Wahlerfolge sind zudem der stets beton-
ten Bodenständigkeit geschuldet. Im Bier-
zelt greift er gern mal zur Gitarre und
singt Tiroler Lieder. In der Jugend hat er
es auch mal lauter geliebt.Satisfaction of
the Nighthieß seine Rockband, doch das
ist lange her. Neben der Musik gilt seine
Leidenschaft dem Skifahren und Wan-
dern. „Tirols Berge sind für mich der
beste Platz, um Kraft für meine tägliche
Arbeit zu tanken“, hat er kürzlich erst in
einem Interview gesagt.
Die Quarantäne wird nun auch ihn bis
auf Weiteres in den Niederungen gefan-
gen halten. Den Landsleuten hat er auf-
munternd empfohlen, nun nicht zu verza-
gen oder zurückzublicken: „Jetzt müssen
wir nach vorn schauen und unsere volle
Kraft und Energie und Konzentration auf
die Bewältigung dieser Krise legen.“
Sechs Minuten hat Platters Ansprache ins-
gesamt gedauert. Dann gingen die Kame-
ra und die Lichter aus, und es wurde still
in Tirol. peter münch

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Detlef Esslinger (komm.)
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
MÜNCHEN, REGION UND BAYERN:Nina Bovensiepen,
René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
Karin Kampwerth, Stefan Simon
ARTDIRECTOR:Christian Tönsmann; Stefan Dimitrov
BILD:Jörg Buschmann
CHEFS VOM DIENST: Fabian Heckenberger, Michael König
Die für das jeweilige Ressort an erster Stelle Genannten
sind verantwortliche Redakteure im Sinne des Gesetzes über
die Presse vom 3. Oktober 1949.
ANSCHRIFT DER REDAKTION:
Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. (089) 21 83-0,
Nachtruf: 21 83-77 08, Nachrichtenaufnahme: 21 83-481,
Fax 21 83-97 77, E-Mail: [email protected]
BERLIN:Nico Fried; Robert Roßmann,
Cerstin Gammelin (Wirtschaft), Französische Str. 48,
10117 Berlin, Tel. (0 30) 26 36 66-
LEIPZIG:Ulrike Nimz, Hohe Straße 39,
04107 Leipzig, Tel. (0 341) 99 39 03 79
DÜSSELDORF:Christian Wernicke, Bäckerstr. 2,
40213 Düsseldorf, Tel. (02 11) 54 05 55-
FRANKFURT:Meike Schreiber,Kleiner Hirschgraben 8,
60311 Frankfurt,Tel. (0 69) 2 99 92 70
HAMBURG:Peter Burghardt, Poststr. 25,
20354 Hamburg, Tel. (0 40) 46 88 31-
KARLSRUHE: Dr.Wolfgang Janisch, Sophienstr. 99,
76135 Karlsruhe, Tel. (07 21) 84 41 28
STUTTGART:Stefan Mayr, Rotebühlplatz 33,
70178 Stuttgart, Tel. (07 11) 24 75 93/
HERAUSGEBERRAT:
Dr. Johannes Friedmann (Vorsitz);
Dr. Richard Rebmann, Dr. Thomas Schaub
GESCHÄFTSFÜHRER:
Stefan Hilscher, Dr. Karl Ulrich
ANZEIGEN:Jürgen Maukner (verantwortlich),
Anzeigenaufnahme: Tel. (0 89) 21 83-10 10
ANSCHRIFT DES VERLAGES:Süddeutsche Zeitung GmbH,
Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. (0 89) 21 83-
DRUCK:Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH,
Zamdorfer Straße 40, 81677 München

von daniel brössler

E


ine schwere Krankheit sucht Euro-
pa heim. Sie zeigt sich in kilometer-
langen Staus an den Grenzen, frisst
sich durch die sozialen Netzwerke, äu-
ßert sich in Schuldzuweisungen und feh-
lender Empathie. Es ist dies die Krank-
heit des Egoismus und der Kleinstaate-
rei. Diese Krankheit ist noch schwerer zu
bekämpfen als das neuartige Coronavi-
rus. Auch dann noch, wenn die notwendi-
gen Medikamente entwickelt sein wer-
den und ein Impfstoff gefunden ist, wird
die Europäische Union in tödlicher Ge-
fahr bleiben. Wenn die Menschen eines
hoffentlich nicht fernen Tages zur Norma-
lität zurückkehren, wird diese in Europa
nicht mehr dieselbe sein. Das Versagen
der EU in größter Not wird sich tief einge-
graben haben ins kollektive Gedächtnis
einer ganzen Generation. Die Folgen sind
noch gar nicht abzusehen.
Das hätte nicht so kommen müssen.
So notwendig es ist, dass die Menschen
nun auf Abstand gehen, so falsch war
dies im Umgang der EU-Mitgliedstaaten
miteinander. Hätten die Europäer früh-
zeitig gemeinsam auf die Bedrohung
durch das Virus entschlossen reagiert,
müssten sie nun ihr Heil nicht verzweifelt
in der Abschottung des Nationalstaates
suchen. Wertvolle Wochen sind verstri-
chen, bis sich die Staats- und Regierungs-
chefs auf Rudimente einer einheitlichen
Politik verständigt haben. Als einzig wirk-
lich verlässliche Gemeinsamkeit in Euro-
pa erweist sich die des Versagens. Schwer
zu ertragen ist deshalb die Rechthaberei
etwa eines Sebastian Kurz, der sich damit
brüstet, die ganze EU sei dem glorreichen
Beispiel Österreichs gefolgt.
Es bringt nun wenig, auf den österrei-
chischen Ski-Ort Ischgl zu verweisen, die-
se europäische Virenschleuder. Zum ei-
nen, weil Ischgl fast überall hätte sein
können. Zum anderen, weil auch das wie-

der nur Teil des Problems wäre. Europa
ist zu einem Raum des Misstrauens und
gegenseitiger Schuldzuweisungen gewor-
den. Und das nicht erst während der jetzi-
gen Pandemie. Die erbitterten Konflikte
der Euro-Krise, der west-östliche Graben
im Streit über Migration, Rechtsstaat
und Demokratie – das alles hat der EU zu-
gesetzt. So ist das Coronavirus in Europa
auf die denkbar leichteste Beute gesto-
ßen, einen geschwächten Organismus.

Die geschlossenen Grenzen und das
hoffentlich nur zeitweilige Ende der groß-
artigen Errungenschaft des vor 35 Jahren
geschlossenen Abkommens von Schen-
gen sind nur sichtbares Zeichen dieses be-
sorgniserregenden Zustandes. Die Völker
Europas ziehen sich in ihre nationalen
Schneckenhäuser zurück, auch und gera-
de die Deutschen. In der wichtigsten An-
sprache ihrer Amtszeit hat Bundeskanzle-
rin Angela Merkel kein Wort über Europa
verloren und auch keines über das Leid
der anderen, der Italiener vor allem, aber
auch der Spanier. Dabei müsste der not-
wendige Appell zur Solidarität gerade
jetzt auch ein europäischer sein.
Ob die Europäische Union mit offenen
Grenzen, einem funktionierenden Bin-
nenmarkt und gemeinsamer Währung
die Pandemie übersteht, ist nicht gewiss.
Es hängt wesentlich davon ab, wie sich
die EU von nun an in der Krise bewährt.
Es hängt davon ab, ob der Warenverkehr
aufrechterhalten und der Binnenmarkt
vor dem Kollaps bewahrt werden kann.
Und davon, ob die europäischen Völker
auch in eigener Not zur Solidarität zu-
rückfinden. Das Coronavirus fordert vie-
le Opfer. Ob die EU dazugehören wird, ha-
ben die Europäer noch in der Hand.

von sonja zekri

K


unst liebt Krisen. Erst die aussichts-
lose Lage schafft Helden und Tra-
gödien, entlarvt Opportunisten
und Feiglinge, kurz: zeigt den Menschen
in Bestform und in aller Verworfenheit.
Das Opernpublikum, die Leser oder Kino-
besucher aber staunen – und erkennen
sich selbst.
In Deutschland – und wahrscheinlich
in vielen anderen Ländern – werden sie da-
zu demnächst deutlich weniger Gelegen-
heit haben. Dass die Republik nicht diesel-
be sein wird, wenn die Pandemie unter
Kontrolle ist und die Schulen wieder öff-
nen, wird mit jedem Tag deutlicher. Aber
während das Augenmerk der Bürger noch
auf der Suche nach Hygieneartikeln und je-
nes der Politik auf dem Überleben großer
Konzerne liegt, droht einem Bereich der
Kollaps, der für Deutschland mindestens
so prägend ist wie Hygiene und Autos. Die
einzigartig vielgestaltige, weltweit be-
neidete Kulturlandschaft der Republik
schwebt in höchster Gefahr.
Kinos, Theater und Opernhäuser sind
geschlossen, ebenso Literaturhäuser und
Museen, Festivals und Konzerte abgesagt.
Schließlich gaben auch die Passionsspiele
in Oberammergau auf und setzten die Pro-
ben aus.
Die Passionsspiele sind auf 2022 ver-
schoben, sie werden überleben. Für viele
freie Theater, freischaffende Schauspie-
ler, Regisseure oder Musiker, für Buch-
händler, Kinos oder Galerien sind die
Aussichten deutlich düsterer. Viele haben
jahrelange Selbstausbeutung betrieben,
ohne je Rücklagen bilden zu können. Sie
haben es gern getan, weil Geld in der
Kunst dann doch oft Mittel und nicht
Zweck ist. Sie haben mitgewirkt an jenem
tief gestaffelten, unnachahmlich dichten
Gespinst an Kunst und Kultur, mit dem
Deutschland sich der Welt stolz präsen-
tiert hat: von den großen Nationalthea-

tern über kleine Performance-Ensembles
bis zu den kleinsten Klubs in Berlin.
Ohne Zuschauer und Einnahmen wer-
den die großen Häuser leiden, aber ihre Fi-
nanzierung und die ihrer Angestellten si-
chert der Staat. Existenzgefährdend aber
sind diese Tage für alle Freischaffenden,
Unabhängigen, Selbständigen, Privaten.
Selbst wenn sie das Virus überstehen,
droht das Ende von Projekten, Einrichtun-
gen oder künstlerischen Laufbahnen, für
die sie Jahrzehnte gearbeitet haben.

Die benachbarte Kulturnation Frank-
reich will Theater, Tanz und Gesang, Buch
und Kunst mit 20 Millionen beispringen,
hat das Kulturministerium erklärt. Auf so
konkrete Zahlen warten die deutschen
Kulturschaffenden, und ob sie dann den
Freischaffenden zugute kommen, ist of-
fen. 250000 Menschen haben eine Peti-
tion für ein bedingungsloses Grundein-
kommen, befristet auf sechs Monate, un-
terschrieben. Es wäre ein Anfang. Denn
vielen helfen Kredite nicht. Wer kein Ein-
kommen hat und in Zukunft selbst im bes-
ten Fall nur ein winziges haben wird, kann
keine Schulden begleichen.
Die Nöte der Künstler sind mehr als per-
sönliche Schicksale, sie haben Folgen für
eine „Kulturnation“, die sich über die eige-
ne Diversität und Toleranz in vielen Berei-
chen zwar Illusionen hingibt, im Kulturel-
len aber tatsächlich globaler und moder-
ner ist als viele andere Länder. Noch ist
das Vertrauen verblüffend groß, dass alle
ausgesetzten Grundrechte, alle Einschrän-
kungen der Freiheit mit dem Ende der Kri-
se selbstverständlich wieder in Kraft tre-
ten. Selbst wenn es so wäre – und eine Ga-
rantie dafür hat niemand –, stünden die
Deutschen in einem ärmeren Land.

C


hristine Lagarde hat „grenzenlosen
Einsatz“ für den Euro versprochen.
Die EZB-Präsidentin erneuerte mit
diesen Worten das Versprechen ihres Vor-
gängers Mario Draghi, man werde alles
tun, um die Währungsunion zu retten. Die
Entscheidung, bis Ende des Jahres zusätz-
lich 750 Milliarden Euro in den Ankauf
von Anleihen zu stecken, sendet ein wichti-
ges Signal an Bürger und Regierungen:
Die Notenbank ist bereit, Europa einen
Großteil der öffentlichen und privaten
Schuldenlast abzunehmen.
Die 19 Euro-Staaten werden in den
nächsten Monaten und vielleicht Jahren
viel Geld in die Hand nehmen müssen, um
die Folgen des verordneten Stillstands der


Wirtschaft finanziell aufzufangen. Es
geht da um Staatsbeteiligungen und Brü-
ckenkredite sowie um Direktzahlungen
an die vielen kleinen und mittleren Betrie-
be, deren Rücklagen knapp sind. Gastro-
nomie, Tourismus, Einzelhandel – diese
Branchen können ihre Umsatzverluste
nicht mehr aufholen und stehen ohne So-
forthilfe vor der Pleite.
Die Schuldenlast der Euro-Staaten
dürfte daher massiv steigen, weit über die
Obergrenzen hinaus. Die EZB wirft des-
halb die Notenpresse an, um den Schul-
denberg aufzukaufen. Das hat mit klassi-
scher Geldpolitik nichts mehr zu tun.
Doch in dieser prekären Lage gibt es wohl
keinen besseren Weg. markus zydra

S


ie wurden lange nur für Wirrköpfe
gehalten oder für wunderliche Hin-
terwäldler. Nun hat Bundesinnenmi-
nister Horst Seehofer erstmals eine Grup-
pierung der Reichsbürger verboten, end-
lich. Schon der Name „Geeinte deutsche
Völker und Stämme“ verrät: Die Reise
geht da ins Völkische. Reichsbürger terro-
risieren Gerichte und demokratische Insti-
tutionen, die sie gern über den Haufen bal-
lern würden. Und auch wenn Verfassungs-
schützer lange wegsahen: Es gibt da einen
harten rechtsextremistischen Kern.
Das Verbot kommt spät, aber seine Bot-
schaft ist wichtig. Es wird jetzt entschlos-
sener zugepackt gegen die zunehmend dif-
fuse und gewaltbereite rechte Szene. An-


ders als sein Vorgänger Hans-Georg Maa-
ßen zeigt Verfassungsschutzpräsident
Thomas Haldenwang auch keinerlei Nei-
gung, Staatsfeinde von rechts außen zu
verniedlichen. Das lässt hoffen.
Dass Reichsbürger plötzlich ernster ge-
nommen werden, dürfte in Corona-Zeiten
aber weitere Gründe haben. Wo staatliche
Strukturen unter nie gekannten Druck ge-
raten, gedeihen autoritäre Umsturzfanta-
sien – und bei manchen Hoffnungen, das
verhasste „System“ in die Knie zu zwin-
gen. Einzelne Reichsbürgergruppierun-
gen aufzulösen, kann da nur ein Anfang
sein. Der ganze staatliche Instrumenten-
kasten gegen Rechtsextremismus bedarf
der Revision. constanze von bullion

D


ie Bundeswehr zeigt sich in der Co-
rona-Krise von ihrer hilfsbereiten
Seite: Ihr oft als dysfunktional ge-
scholtenes Beschaffungsamt besorgt in
kürzester Zeit Schutzbrillen und Masken
für deutsche Kliniken. Panzergrenadiere
bringen an den Grenzen gestrandeten
Lastwagenfahrern Essen. Die Lehrerin,
die wegen der Krise gerade keine Schüler
zu unterrichten hat, früher aber im Sani-
tätsdienst arbeitete, meldet sich als Reser-
vistin zum Dienst. Ja, die Bundeswehr, die
kann was. Der Spott der vergangenen Jah-
re? Wie verflogen.
Die Krise sollte Anlass sein, über den
Wert der Armee nachzudenken. Ministe-
rin Annegret Kramp-Karrenbauer hat sie


jetzt als „unentbehrliche und verlässliche
Stütze“ des Gemeinwesens bezeichnet.
Da ist etwas dran. Nur, wenn nicht gerade
Corona-Krise ist, wollen viele nicht verste-
hen, warum die Bundeswehr zusätzliche
Milliarden braucht und dies nicht automa-
tisch mit Aufrüstung gleichzusetzen ist.
Das liegt auch daran, wie sich die Trup-
pe präsentiert: Allzu oft geht es nur um
Panzer, Flugzeuge und Schiffe. Zu selten
um den Sanitätsdienst, der auch zusam-
mengespart worden ist. Zu selten um die
Reservisten, die all die Lücken füllen. Die-
se Tage zeigen, dass die Bundeswehr
mehr ist als Truppe im Auslandseinsatz.
Sie gewinnt nur an Ansehen, wenn sie als
Ganzes funktioniert. mike szymanski

Die Kanzlerin erklärt ihr


Handeln. Sie hat gelernt


aus der Flüchtlingskrise


Wann und wo Corona, auch
Stephana genannt, starb, ist
nicht gesichert; die meisten
Legenden nennen den


  1. Mai 177 nach Christus. Im
    syrischen Lycopalie ließen demnach die
    Römer einen Soldaten öffentlich foltern,
    der sich zu Jesus bekannte – da trat eine
    erst 16 Jahre junge Frau zu ihm hin und
    sprach ihm Mut zu, je nach Überlieferung
    die Frau des Gefolterten oder die Braut ei-
    nes Kameraden. Im folgenden Verhör be-
    kannte Corona standhaft ihren Glauben;
    sie wurde zwischen zwei niedergedrück-
    te Palmen gebunden, als die nach oben
    schnellten, zerriss ihr Leib. Im Mittelal-
    ter war die jugendliche Heilige in ganz Eu-
    ropa populär; Kaiser Otto III. brachte 997
    Corona-Reliquien nach Aachen, wo sie
    heute im Dom aufbewahrt werden. Coro-
    na gilt als Patronin der Metzger, vor allem
    aber als Fürsprecherin in Gelddingen. Im

  2. und 18. Jahrhundert war das Corona-
    Gebet ein beliebtes magisches Ritual, das
    zu verborgenen Schätzen führen sollte.
    In der niederösterreichischen Gemeinde
    St.Corona am Wechsel, wo es seit 1504 ei-
    ne Wallfahrt zur Heiligen gibt, wurde sie
    aber auch bei Seuchengefahr angerufen.
    Das verhilft ihr nun, da das gleichnamige
    Virus sich in Europa ausbreitet, zu neuer
    Popularität. Kirchenvertreter wie Virolo-
    gen warnen jedoch davor, ihre Anrufung
    als Ersatz für Hygiene und Kontaktver-
    meidung misszuverstehen. mad


4 HF2 (^) MEINUNG Freitag, 20. März 2020, Nr. 67 DEFGH
FOTO: MATTHIAS BALK/DPA
EUROPÄISCHE UNION
In Todesgefahr
KÜNSTE IN QUARANTÄNE
Unbezahlbarer Verlust
EZB
Starkes Signal
REICHSBÜRGER
Zupacken
BUNDESWEHR
Von der hilfsbereiten Truppe
sz-zeichnung: kittihawk
ANGELA MERKEL
Ein Vermächtnis
von stefan braun
AKTUELLES LEXIKON
Heilige Corona
PROFIL
Günther
Platter
Erster unter
Gleichen auf der
Isolierstation Tirol
Die EU wird nur überleben,
wenn die Nationen zur
Solidarität zurückfinden
Die Kulturschaffenden warten
auf ein Zeichen, dass auch
ihnen geholfen wird

Free download pdf