Süddeutsche Zeitung - 20.03.2020

(nextflipdebug5) #1
von m. balser, g. mascolo,
s. pittelkow, k. riedel
und j. schneider

Berlin– Auf einmal ist Dampf auf dem Kes-
sel in der AfD, sagen Spitzenfunktionäre.
Diese Partei ist einiges gewöhnt, Streit un-
ter Führungsleuten, Verschwörungen im
Vorstand. Diesmal kommt der Druck von
unten, in Briefen, E-Mails, Anrufen. Sie lau-
fen bei Funktionären auf und spiegeln
Angst wieder. Vergangene Woche hat das
Bundesamt für Verfassungsschutz verkün-
det, dass der völkisch-nationale „Flügel“
der AfD beobachtet werden soll – die
Rechtsaußen-Gruppierung, angeführt
von Björn Höcke aus Thüringen und Andre-
as Kalbitz aus Brandenburg. Die Partei hat
sich im letzten Jahr an ihren Wahlerfolgen
im Osten gewärmt. Jetzt aber rebelliert die
Basis im Westen, und es rebellieren Vor-
stände auf Landes- und Kreisebene.

Einige haben sich vernetzt. Ihre Gruppe
fordert, dass die AfD sich von Leuten wie
Kalbitz trennt, der freilich ein gut integrier-
tes Mitglied der Parteispitze ist. Er müsse
als Erster raus, sofort, schon wegen seiner
belastenden rechtsextremen Vergangen-
heit. An diesem Freitag will der Vorstand
beraten. Mitglieder der Spitze fühlen sich
„massivst“ unter Druck, berichten sie.
WDR, NDR undSüddeutsche Zeitungkonn-
ten Mails und Einträge aus Chatgruppen
der Spitze einsehen. Es gehe um die Zu-
kunft der Partei, steht da.
Immer größer ist der Einfluss von Kal-
bitz zuletzt geworden. Nun heißt es, fürs
Ende seiner Mitgliedschaft reiche eine ein-
fache Mehrheit im Vorstand. Laut dem Ver-
fassungsschutzgutachten stand, wie zuvor
derSpiegelberichtete, die „Familie Andre-
as Kalbitz“ auf einer Mitgliederliste der
verbotenen „Heimattreuen Deutschen Ju-
gend“ (HdJ). Auf Seite 229 des BfV-Gutach-
tens heißt es nach Informationen vonSüd-
deutscher Zeitung, NDR und WDR: „Dem
BfV liegen allerdings Erkenntnisse in
Form einer Mitgliederliste der HdJ Stand
2007 vor, in der unter der Mitgliedsnum-
mer 01330 die „Familie Andreas Kalbitz“
genannt wird.“ Weiter steht dort: „Die nach-
weislich langjährige Dauer der Teilnahme
an Aktivitäten der HdJ und deren Vorgän-

gerorganisation im Erwachsenenalter
spricht für eine tiefe Verwurzelung und für
eine langjährige politische Sozialisation
durch eine neo-nationalsozialistische Or-
ganisation. Auch die Nennung der Familie
Andreas Kalbitz, also die mutmaßliche Ein-
beziehung seiner Kinder, spricht für ein
vollumfängliches Engagement in der Orga-
nisation. Dieses wird untermauert von an-
haltenden Falschaussagen Kalbitzs zu sei-
ner rechtsextremistischen Teilbiografie.“
Diese Mitgliedschaft hat Kalbitz stets ge-
leugnet, sie wäre unvereinbar mit einer
Mitgliedschaft in der AfD. Auch Höcke wol-
len einige Parteimitglieder loswerden. Ein
Ausschlussverfahren kann dauern, schon
einmal ist eines gescheitert. Es geht um ei-
ne andere Option: Gemäßigtere Kräfte for-
dern, den „Flügel“ aufzulösen.
Ankündigungen solcher Art hat es in
der Geschichte der Partei immer wieder ge-
geben, am Ende war sie stets nur radikaler.
Doch spricht viel dafür, dass diesmal weite
Teile der Partei so nicht weitermachen wol-
len. Die Beobachtung des Flügels durch

den Verfassungsschutz hat die Lage verän-
dert. Die AfD ist eine Partei, in der sich vie-
le Polizisten, Soldaten, Richter und Staats-
anwälte engagiert haben. Wer von ihnen
dem „Flügel“ angehört, muss womöglich
mit dienstlichen Konsequenzen rechnen.
Auch geht in der Partei die Angst um, dass
sogar Telefonate mit Mitgliedern des „Flü-
gels“ vom Verfassungsschutz abgehört
werden könnten.
Auch Mitglieder des Bundesvorstands
erwägen, gegen den „Flügel“ vorzugehen.
„Die Sache bekommt derzeit eine Eigendy-
namik, von der am Ende noch niemand
weiß, wie sie ausgeht“, heißt es. Eine Forde-
rung könne sein, Kalbitz zu zwingen, alle
Informationen zur HdJ offen zu legen.
Seine Gegner stehen vor einem Dilem-
ma. Stets wirft die AfD dem Verfassungs-
schutz vor, er ließe sich politisch instru-
mentalisieren. Nun wollen sie die Erkennt-
nisse des Dienstes gegen den Brandenbur-
ger Fraktionschef nutzen. Eine „Gratwan-
derung“ nennt das einer. Denn damit gä-
ben sie dem Geheimdienst letztlich recht.

Berlin– Sie gelten nicht nur als verbal ag-
gressiv und als Plagegeister für staatliche
Institutionen, sondern auch als zuneh-
mend militant. Etwa 19000 sogenannte
Reichsbürger zählte das Bundesamt für
Verfassungsschutz im letzten Lagebericht.
Nun hat Bundesinnenminister Horst See-
hofer (CSU) zum ersten Mal eine Gruppie-
rung der Reichsbürger verbieten und auflö-
sen lassen. Am frühen Donnerstagmorgen
durchsuchten Polizisten die Wohnungen
21 führender Mitglieder des Vereins „Ge-
einte deutsche Völker und Stämme“ und
seiner Teilorganisation „Osnabrücker
Landmark“ in zehn Bundesländern.
Ein Schwerpunkt lag dabei in Nord-
rhein-Westfalen. Dort habe die Polizei bei
Durchsuchungen unter anderem Informa-
tionstechnologie, Schusswaffen, Baseball-
Schläger, Propagandamaterial sowie Dro-
gen sichergestellt, gab Innenminister Her-
bert Reul am Donnerstag bekannt. Reul be-
dankte sich ausdrücklich bei Seehofer für
dessen „Vorgehen gegen diese braune So-
ße“. Zwar seien die Behörden derzeit we-
gen der Covid-19-Pandemie gefordert:
„Aber diese Typen können sich auch in Co-
rona-Zeiten nicht in Sicherheit wiegen.“
Reichsbürger halten das demokrati-
sche Staatswesen für illegitim, gelten als
ausgesprochen waffenaffin und hängen ei-
nem Weltbild an, wonach ein nicht näher
definiertes „Deutsches Reich“ die einzig le-
gitime Staatsform sei. Reichsbürger äu-
ßern sich oft rassistisch und antisemitisch.
Sie sprechen demokratischen Institutio-
nen jede Autorität ab, verweigern Steuer-
zahlungen und haben teilweise eigene Zah-
lungsmittel. Immer wieder kam es zu
schweren Auseinandersetzungen. In Geor-
gensgmünd wurden 2016 vier Polizeibeam-
te bei einem Schusswechsel verletzt, als sie
versuchten, bei einem Reichsbürger einen
Durchsuchungsbeschluss durchzusetzen.
Ein Beamter starb später. In anderen Fäl-
len wurden umfangreiche Kriegswaffen-
sammlungen entdeckt.
Inzwischen werden Reichsbürger ent-
waffnet, wenn auch keineswegs systema-
tisch. Nach Auskunft der Verfassungs-
schutzbehörden wurden bis Ende Juni
2019 in 760 Fällen Waffenscheine eingezo-
gen. Rund 490 Reichsbürger und Mitglie-
der ähnlicher Gruppierung behielten ihre
Waffenscheine.
„Wir haben es mit einer Vereinigung zu
tun, die rassistische und antisemitische
Schriften verbreitet und damit unsere frei-
heitliche Gesellschaft systematisch vergif-

tet“, sagte Innenminister Seehofer am Don-
nerstag. „Auch die verbale Militanz und
massive Drohungen gegenüber Amtsträ-
gern und ihren Familien belegen die verfas-
sungsfeindliche Haltung dieser Vereini-
gung.“ Die Bundesregierung setze den
Kampf gegen den Rechtsextremismus
„auch in Krisenzeiten unerbittlich fort“.
Bei der nunmehr verbotenen Gruppie-
rung „Geeinte deutsche Völker und Stäm-
me“ handelt es sich nach Auskunft des Bun-
desinnenministeriums um einen Verein,
der durch „teils drastische Drohungen“
aufgefallen sei. Mal drohe er Gegnern mit
„Inhaftierung“, mal mit „Sippenhaft“. Das
„Höchste Gericht“ der Gruppe habe Regie-
rungsmitgliedern Klagen wegen der „Zer-
setzung hoheitlicher Staatlichkeit“ ange-
kündigt. Dass solche Äußerung in Sicher-
heitsbehörden ernst genommen werden,
ist neu. Viele Jahre galt dort die Devise,
Reichsbürger seien zwar gewaltbereit,
aber nur zu einem kleinen Teil offen rechts-
extremistisch. Zu einer systematischen Be-
obachtung kam es nicht.

Der Deutsche Richterbund begrüßte
das Vereinsverbot. „Reichsbürger überzie-
hen die Justiz mit Drohschreiben und frei
erfundenen Schadenersatzforderungen,
beschimpfen Richter, stören Gerichtsver-
handlungen und attackieren Gerichtsvoll-
zieher“, erklärte Bundesgeschäftsführer
Sven Rebehn. SPD-Generalsekretär Lars
Klingbeil sagte, es sei gut, dass Seehofer
die Gruppe trotz der schwierigen Situation
durch das Corona-Virus gestoppt habe.
„Die Reichsbürgerszene muss system-
atisch beobachtet werden“, sagte die innen-
politische Sprecherin der Grünen, Irene Mi-
halic. Bisher sei die rechtsextremistische
Szene vom Verfassungsschutz „sehr frag-
mentarisch“ beobachtet worden, also ori-
entiert an herkömmlichen Vereins- und Ka-
meradschaftsstrukturen. Dies entspreche
aber nicht mehr der Wirklichkeit, in der
rechtsextremistische Gewalttäter oft jen-
seits fester Strukturen agierten. Hier sei ei-
ne „Neubewertung“ nötig. Der innenpoliti-
sche Sprecher der Unionsfraktion, Mathi-
as Middelberg (CDU) forderte neben Ver-
einsverboten auch eine konsequente Ent-
waffnung von Extremisten.
c. von bullion, c. wernicke Seite 4

Nürnberg –Im Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge (Bamf) gibt es Streit über
den richtigen Umgang der Behörde bei der
Bekämpfung der Corona-Pandemie. Mit ei-
nem Brandbrief, der WDR, NDR undSüd-
deutscher Zeitungvorliegt, wandte sich der
örtliche Personalrat der Behörde in Nürn-
berg an die Bamf-Spitze und forderte ei-
nen sofortigen generellen Stopp von Asyl-
Anhörungen in Deutschland. „Dies ist aus
unserer Sicht die einzig richtige Maßnah-
me, eine Gesundheitsgefährdung für alle
Beschäftigten dieses Hauses zu verhin-
dern.” Anfang der Woche hatte das BAMF
angeordnet, nur noch Gespräche mit
Flüchtlingen zu führen, die einen negati-
ven Corona-Test vorweisen könnten oder
14 Tage in Quarantäne waren. In den ver-
gangenen Tagen hatten sich jedoch immer
wieder Mitarbeiter aus den Außenvertre-
tungen des BAMF an die Zentrale in Nürn-
berg gewandt und beklagt, die Vorgaben
des Robert-Koch-Instituts nicht einhalten
zu können. Würde die Hausleitung der For-
derung ihrer Mitarbeiter nachkommen,
müssten Tausende Asyl-Verfahren zurück-
gestellt werden. Das Bamf hielt am Don-
nerstag an seiner Linie fest. Ein Sprecher
sagte: “Aufgrund der äußerst dynami-
schen Entwicklung ist derzeit jedoch nicht
auszuschließen, dass Antragsannahmen
oder Anhörungen auch kurzfristig abge-
sagt werden müssen.“ ff, mk


Wiesbaden– Die Zahl der Empfänger von
Elterngeld steigt weiter, und das flexible El-
terngeld wird immer beliebter. Wie das Sta-
tistische Bundesamt am Donnerstag in
Wiesbaden mitteilte, erhielten 2019 rund
1,9 Millionen Frauen und Männer Eltern-
geld. Das war ein Anstieg um zwei Prozent
gegenüber dem Vorjahr. Fast jede dritte
Mutter (32,5 Prozent) entschied sich den An-
gaben zufolge im vergangenen Jahr für das
Elterngeld Plus, das niedriger ausfällt, aber
länger gezahlt wird, um den Jobeinstieg zu
erleichtern. 2018 waren es rund 30 Prozent.
Das normale Elterngeld wird für zwölf Mo-
nate gezahlt oder für 14 Monate, wenn der
Partner mindestens zwei Monate Eltern-
zeit nimmt. Nach Angaben des Statisti-
schen Bundesamts stieg 2019 die Zahl der
Elterngeld beziehenden Frauen um 0,9 Pro-
zent auf 1,41 Millionen, die Zahl der Män-
ner um 5,3 Prozent auf rund 456 000. epd


Der Verfassungsschutz will die
Rechtsaußen-Gruppe beobachten.
Das alarmiert die Gemäßigteren

Seehofer verbietet erstmals


Reichsbürger-Vereinigung


Polizei in NRW durchsucht Wohnungen führender Mitglieder


Bamf-Mitarbeiter fordern


Stopp von Asyl-Verfahren


Elterngeld


für 456 000 Männer


Der Richterbund beklagt, die
Rechtsextremisten beschimpften
und bedrohten Justiz-Angehörige

DEFGH Nr. 67, Freitag, 20. März 2020 (^) POLITIK HF3 5
Aufstand gegen Extremisten
Teile der AfD fordern den Rauswurf des Neonazis Andreas Kalbitz und
die Auflösung des völkisch-nationalen „Flügels“. Das könnte die Partei zerlegen
„Flügel“-Spitze: Björn Höcke (links) und Andreas Kalbitz. FOTO: PATRICK PLEUL/DPA
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