Süddeutsche Zeitung - 20.03.2020

(nextflipdebug5) #1
von edeltraud rattenhuber

Freising– Der ältere Herr mit dem schloh-
weißen Haar ist ganz bescheiden. Er trom-
melt weder an die Fenster, noch klingelt er
Sturm am Gesundheitsamt Freising, wie
es derzeit immer wieder geschieht. Er
möchte nur eines: getestet werden. Doch
kommt er damit beim Gegenüber mit der
Atemschutzmaske nicht durch. Der baum-
lange Mann in der dunkelblauen Sweatja-
cke, Aufschrift „Sicherheits- und Detektiv-
büro“, hat strikte Anweisung, niemanden
durchzulassen. Auch wenn er berechtigte
Sorge habe, sich in einer Arztpraxis mit
dem Corona-Virus angesteckt zu haben –
hier könne er sich nicht testen lassen, infor-
miert er den alten Mann. Kaum tritt dieser
den Rückzug an, kommt schon der Nächs-
te, zögernden Schritts, suchenden Blicks.
Doch der Sicherheitsdienst ist zur Stelle.
Das Gesundheitsamt der oberbayeri-
schen Stadt Freising ist sonst nicht so stark
frequentiert, und speziell geschützt wer-
den musste es auch noch nie. Es liegt ein
wenig versteckt am Flüsschen Moosach,
Enten gründeln in der Uferzone, die Forsy-
thien blühen. Doch die Idylle trügt. Seit
dem 29. Februar herrscht in dem lang ge-
streckten Gebäude unter Bäumen der Aus-
nahmezustand. An jenem Samstag wurde
in Freising der erste Coronavirus-Fall Bay-
erns nach den Infektionen der Webasto-
Mitarbeiter bestätigt. Seitdem arbeitet das
Gesundheitsamt laut Landrat Josef Hau-
ner (CSU) „vollkommen am Limit, über die
normalen Arbeitszeiten hinaus und auch
am Wochenende“ – und mittlerweile unter
weitestmöglicher Abschottung. Denn die
Aggressivität der Leute hat zugenommen,
Mitarbeiter des Gesundheitsamtes seien
vor dem Gebäude abgefangen und be-
drängt worden, teilte das Landratsamt
mit. Der Sicherheitsdienst soll für geordne-
te Verhältnisse sorgen, damit sich die Mit-
arbeiter im Amt auf jene konzentrieren
könnten, die einen Termin haben. „Es geht
hier nicht um das Recht des Stärkeren“, be-
tont der Landrat.

Für Interviews hat derzeit keiner der 24
Mitarbeiter Zeit. Dabei gehört das Kommu-
nizieren gerade jetzt zu ihrem täglichen
Brot. Rund um die Uhr sind sie beschäftigt
mit dem Abtelefonieren von Verdachtsfäl-
len und deren Kontaktpersonen. Und mit
Tests. Die Fallzahlen steigen kontinuier-
lich, wie die Leiterin des Amtes, Christine
Setzepfandt, sagt. Damit erhöhe sich auch
der Aufwand für das Gesundheitsamt, die
jeweiligen Kontaktpersonen zu ermitteln.
In keinem anderen Landkreis Bayerns au-
ßer der Großstadt und dem Landkreis
München ist die Zahl der mit dem Corona-
Virus Infizierten so hoch wie in Freising.
Am Donnerstag, Stand 12.30 Uhr, waren es


  1. Zwei Menschen sind bisher gestorben.
    Die Kontaktaufnahme zu möglichen In-
    fizierten und ihren Angehörigen, Nach-
    barn, Freunden, Arbeitskollegen, erfolgt
    nach einem strengen Plan, der abgearbei-
    tet werden muss. Die Pressesprecherin des
    Landkreises berichtet von Gesundheits-
    amtsmitarbeitern, die an manchen Tagen
    mit zwei, drei Stunden Schlaf auskommen
    mussten. „Langsam geht es an die Sub-
    stanz“, erzählt Setzepfandt. Dass Ver-
    dachtsfälle um drei Uhr morgens angeru-
    fen werden, damit sie sich für einen Test
    auf das Covid-19-Virus bereithalten, ist kei-
    ne Seltenheit. Andrea Schmid ist das pas-
    siert. Die Freisingerin, die eigentlich an-
    ders heißt, war mit ihrem Lebensgefähr-
    ten im Urlaub und kam mit Fieber, Husten,
    Schnupfen zurück. Als sie bei der Hotline
    des Gesundheitsamtes durchkam, ver-
    sprach man ihr, sie zu kontaktieren. Doch
    erst nach einer Woche wurde sie angeru-
    fen, sie solle sich um drei Uhr früh bereit-
    halten zum Abstrich. Wieder eine Woche
    später bekam sie das Ergebnis: negativ.
    Schmid kann es immer noch nicht fassen,
    wie lange das alles gedauert hat.


Die Angst und Frustration der Men-
schen sei verständlich, sagt Uwe Lübking,
Rechts- und Sicherheitsexperte beim Deut-
schen Städte- und Gemeindebund. „So ei-
ne Krise stellt alle unter eine Belastungs-
probe.“ Insgesamt sieht Lübking die örtli-
chen Zuständigkeiten aber gut aufgestellt


  • bei aller Kritik, die es im Einzelfall geben
    könne. Die Gesundheitsämter täten ihr
    Bestes, mit den jetzigen Kapazitäten und
    Mitteln. Allerdings wisse man, dass schon
    vor der Corona-Krise einige Gesundheits-
    ämter Personalprobleme gehabt hätten,
    sagt er. Daher dürfe man danach nicht ein-
    fach zur Tagesordnung übergehen, son-
    dern müsse fragen: Wie stärken wir die Ge-
    sundheitsämter, wie kann man Ärzte für
    sie gewinnen?
    Tatsächlich bringt die Krise an den Tag,
    welche Folgen Personalmangel hier haben
    kann. Der Bundesverband der Ärztinnen
    und Ärzte des Öffentlichen Gesundheits-
    dienstes warnt schon lange, dass viele Ge-
    sundheitsämter wegen Ärztemangels und
    fehlender Ausstattung auch in Nicht-Kri-
    senzeiten kaum mehr in der Lage seien, ih-
    re Aufgaben zu erfüllen. Erste Gesundheits-
    ämter müssten gar ganz ohne Ärzte aus-
    kommen, heißt es. Auch weil Ärzte dort ein-
    fach zu wenig verdienen. Auch im Freisin-
    ger Amt herrscht laut Auskunft von Land-


rat Hauner „chronische Unterbesetzung“.
Statt fünf, arbeiten dort derzeit nur drei
Ärzte. Die Dynamik der Lage in den vergan-
genen Wochen erforderte die Entbindung
der Mitarbeiter von ihren sonstigen Aufga-
ben, daher ist Freising unfreiwillig so et-
was geworden wie der Vorreiter in Bayern
bei der Umorganisation und Bündelung
von Aufgaben. Wo es geht, wird Landkreis-
Personal verpflichtet zur Hilfe. Am Don-
nerstag wurde eine Drive-through Teststel-
le außerhalb von Freising eingerichtet,
dort werden Experten eines Labors Abstri-
che nehmen, um das Gesundheitsamt zu
entlasten. Außerdem wurde mit der Füh-
rungsgruppe Katastrophenschutz (FüGK)

und weiteren Fachberatern eine Koordinie-
rungsgruppe ins Leben gerufen. Die FüGK
beschafft nun zum Beispiel die erforderli-
che Schutzausrüstung. Kollegen aus ande-
ren Bereichen des Landratsamtes überneh-
men das Beratungstelefon. Auch die Poli-
zei stellt dafür Kräfte ab. Ärzte in Ruhe-
stand melden sich. Alle sind sie im Mo-
ment ja irgendwie Gesundheitsamt.

An diesem Donnerstag fahren Lena
Weindl und Daniela Wiand mit Florian
Brunnbauer durch Freising, um Atem-
schutzmasken, Schutzanzüge und Desin-
fektionsmittel auszuliefern. Weindl und
Wiand sind eigentlich Jugendsozialarbei-
ter. Seit der flächendeckenden Schulschlie-
ßung sind sie freigestellt und helfen gerne
mit. Erst fahren sie ins Klinikum, hinter ih-
nen kurvt ein 7,5-Tonner der Freiwilligen
Feuerwehr durch die autoleeren Straßen.
In dem Lastwagen liegen, ziemlich über-
schaubar, ein paar Kisten und Kartons. Ei-
gentlich hatte Brunnbauer, Sachbearbei-
ter für Brand- und Katastrophenschutz,
mehr anbieten wollen, doch ist nicht die
komplette Lieferung eingetroffen. Bei den
Rettungsdiensten und dem Klinikum, die
mit vollen Paletten gerechnet hatten, kom-
men daher nur wenige Pakete an. Beim
Kreisärzteverband ist die Enttäuschung be-
sonders groß. 20 Ärzte hätten angefragt,
heißt es. Doch die Ausrüstung, die letztlich
angekommen sei, reiche nicht aus.
Noch während der Fahrt wird Brunnbau-
er erfahren, dass doch noch etwas einge-
troffen ist. Sie werden also noch einmal
rausfahren. An Mehrarbeit sind sie im Mo-
ment gewöhnt in Freising. Aber Brunnbau-
er hat die Ruhe weg. „Das Wichtigste ist:
Keine Panik aufkommen lassen“, sagt er.

Berlin– Einsatz im Tarnfleck, gelber Warn-
weste und mit Gummihandschuhen: Solda-
ten der Bundeswehr helfen in diesen Ta-
gen aus, wo sie können – auch auf der Auto-
bahn. Panzergrenadiere aus dem sächsi-
schen Frankenberg verteilen Lunchpakete
an im Monsterstau feststeckende Lkw-Fah-
rer vor der polnischen Grenze. Dort ging
zeitweise auf 65 Kilometern nichts voran.
Sachsens Ministerpräsident Michael
Kretschmer (CDU) hatte die Bundeswehr
um Hilfe gebeten.
In Berlin soll auf dem Gelände der Mes-
se ein provisorisches Krankenhaus für bis
zu 1000 Corona-Patienten entstehen.
Noch am Donnerstag wollte das Land um
Amtshilfe ersuchen, damit die Bundes-
wehr helfen kann. Im Saarland soll sie Ört-
lichkeiten für Corona-Tests zur Verfügung
stellen, womöglich in ihren Kasernen. Und
täglich kommen neue Wünsche, etwa 50
Amtshilfeersuchen lagen dem Ministeri-
um am Donnerstag vor.
Als Nothelfer einsetzbar ist die Bundes-
wehr nach Artikel 35 Grundgesetz – im Zu-
ge der Amtshilfe zwischen Bund und Län-
der (Absatz 1). Die Länder können bei Natur-
katastrophen wie Hochwassern und beson-
ders schweren Unglücksfällen auch die Hil-
fe der Streitkräfte anfordern (Absatz 2),
oder die Bundesregierung kann dies anord-
nen (Absatz 3). Hoheitliche Aufgaben sind
der Truppe, anders als der Polizei, im Prin-
zip nicht erlaubt; sie könnte aber notfalls
Objekte wie Krankenhäuser bewachen.
Doch dürfte sie in der Coronakrise mit Me-
dizin und Lazaretten, bei der IT-Siche-
rung, Fernmeldewesen und der Verkehrssi-
cherheit helfen, Lkws und Lkw-Fahrer stel-


len und in großer Stückzahl über ihr Be-
schaffungswesen Material besorgen wie
Gesichtsschutzmasken, was sie schon tut.
Die 184000 Männer und Frauen starke
Bundeswehr, die schon vor der Krise mit
Personalmangel und fehlender Ausrüs-
tung zu kämpfen hatte, ist in der Corona-
Krise plötzlich ein gefragter Ansprechpart-
ner. Verteidigungsministerin Annegret

Kramp-Karrenbauer (CDU) hat am Don-
nerstag in Berlin versichert, dass ihre Trup-
pe helfen werde, wo sie kann, wenn die zivi-
len Strukturen „an ihre Grenzen“ gelang-
ten. Die Corona-Krise werde die Gesell-
schaft noch lange fordern. Es gehe jetzt um
die Durchhaltefähigkeit.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete und
Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter
sagte allerdings derSüddeutschen Zeitung:
„Ich warne davor, sofort nach der Bundes-
wehr zu rufen.“ Die zivilen Katastrophen-
helfer wie THW und Feuerwehr seien gut
ausgerüstet und leistungsstark. Dennoch
sei es bei Notlagen natürlich sinnvoll, die
Truppe um Hilfe zu bitten. Kiesewetter plä-
diert aber dafür, Artikel 35 über Katastro-
phen und Unglücksfälle hinaus entspre-
chend um Pandemien zu erweitern.
Man bewege sich strikt im Rahmen der
Amtshilfe, sagte Kramp-Karrenbauer. Pri-
orität genießen aber weiterhin die interna-
tionalen Verpflichtungen, also die Aus-
landseinsätze. Das Virus ist auch dort The-

ma, größte Vorsicht gilt. Soldaten leben in
den Feldlagern teilweise auf engsten
Raum. Noch sind dort keine Corona-Fälle
bekannt. Aber alle paar Monate wechseln
die Soldaten und Kontingente durch. Das
macht die Lage so kompliziert. In der Hei-
mat sind es laut Generalinspekteur Eber-
hard Zorn bereits 397 Verdachtsfälle bei
Bundeswehr, 52 gelten als Infizierte.
Die Bundeswehr stelle sich zwar auf den
schlimmsten Fall ein, in dem zivile Struktu-
ren „wirklich unter Druck geraten“ könn-
ten, sagte die Ministerin. Sie warnte aber
auch, die Fähigkeiten der Truppe zu über-
schätzen. Die Betten in den fünf Bundes-

wehrkrankenhäusern etwa seien längst
einkalkuliert. Kramp-Karrenbauer ver-
suchte erkennbar, dem Eindruck vorzubeu-
gen, Deutschland werde Soldaten auf den
Straßen patrouillieren lassen, so wie dies
andere Staaten schon praktizieren.
Besonders eine Gruppe hat Kramp-Kar-
renbauer jetzt im Blick: die Reservisten,
die Exsoldaten. Wirkliche aktiv sind nach
Angaben ihres Verbandes noch circa
28000 Männer und Frauen. 2336 Exsolda-
ten, viele mit medizinischen Vorkenntnis-
sen, haben sich bislang freiwillig gemel-
det, um in dieser Krise zu helfen. Theore-
tisch ist jeder, der einmal in der Bundes-

wehr gedient hat, Reservist. Das wären et-
wa eine Million Menschen im noch dienst-
fähigen Alter. „Da liegt eine Menge Potenzi-
al“, sagt Verbandschef Patrick Sensburg,
CDU-Bundestagsabgeordneter und Oberst-
leutnant der Reserve, der SZ. „Wir können
in allen Bereichen unterstützen, etwa mit
Lkw-Fahrern, Logistikern und Pflegekräf-
ten. Wir können helfen, die Versorgung si-
cherzustellen, wenn Leuten fehlen, die Wa-
ren ausliefern. Aber wir können den Be-
trieb nicht übernehmen.“
Der Einsatz von Reservisten ist heute
freiwillig, anders als während des Kalten
Krieges. Nur im Spannungs- und Verteidi-
gungsfall dürfte die Regierung sie ver-
pflichten; aber das ist die Corona-Pande-
mie nicht. Unionsexperte Kiesewetter
sagt, sollte die Pandemie sich stark auswei-
ten, „müssten wir prüfen, ob wir ein Recht
zur Einberufung der Reservisten benöti-
gen.“ Allerdings: „Seit der Aussetzung der
Wehrpflicht ist das System hohl und aufge-
löst.“ Vor einem Jahr hat die Bundeswehr
in Bayern ein Modellprojekt gestartet und
den Reservistendienst in einem Landesre-
giment mit eigenem, festem Stab ausge-
weitet. Wer will, kann künftig seinen Reser-
vistendienst sogar in Teilzeit absolvieren.
Seit einiger Zeit schon können auch Män-
ner und Frauen Reservisten werden, die
überhaupt nicht gedient haben. Sie bekom-
men erst mal eine militärische Grundaus-
bildung. Und jeder Soldat soll für sechs Jah-
re nach seinem Ende der aktiven Zeit
„grundbeordert“ bleiben – die Truppe
plant sie oder ihn ein. Allerdings: Der
Dienst bleibt freiwillig.
joachim käppner, mike szymanski

Berlin –Bundesgesundheitsminister Jens
Spahn (CDU) hat angesichts der Corona-
Krise am Donnerstag zahlreiche Sonderre-
geln für Pflegeheime angekündigt. Mit
Pflegekassen und Pflegeverbänden sei da-
für ein Maßnahmenpaket vereinbart wor-
den, das unter anderem eine befristete Aus-
setzung bürokratischer Anforderungen
vorsieht.
Um einen Pflegegrad zu empfehlen, sol-
len Gutachter des Medizinischen Dienstes
der Krankenversicherungen die Menschen
nicht mehr persönlich untersuchen, son-
dern auf Grundlage der Akten entscheiden
oder per Videoanruf mit den Familien spre-
chen. Auch der sogenannte Pflege-TÜV,
bei dem die Qualität von Einrichtungen ge-
prüft wird, soll zunächst nicht mehr statt-
finden. Hinweisen auf Missstände solle
aber weiter nachgegangen werden. Auch
die verbindlichen Besuche der Pflegediens-
te bei Pflegegeldbeziehern sollen ausge-
setzt werden. Mögliche Beratungen sollen
aber weiter elektronisch oder telefonisch
möglich sein.
Die etwa 4000 Pfleger und etwa 2000
Ärzte, die bundesweit für den Medizini-
schen Dienst arbeiten, sollen stattdessen
in den Bundesländern Krankenhäuser und
Pflegeheime unterstützen, sagte Spahn.
Befristet ausgesetzt werden sollen auch
Personalschlüssel und andere Vorgaben et-
wa zum Anteil von Fachkräften – ohne
dass Vergütungen für die Heime gekürzt
werden. Sollten Heime Personalprobleme
bekommen, weil sich Mitarbeiter oder Be-
wohner mit dem Coronavirus angesteckt
haben oder als Verdachtsfall gelten, sollen
sie dies künftig an die Pflegekassen mel-
den. Dann solle auch dafür gesorgt wer-
den, anderes Personal als Ersatz zu organi-
sieren, etwa aus Tagespflegeeinrichtun-
gen, die im Augenblick überwiegend
geschlossen sind. Pflegeheime sollen auch
einen Teil der Schutzkleidung bekommen,
die die Bundesregierung zurzeit zentral be-
schafft. Die Landesregierungen sollen das
Material an die Heime verteilen. Spahn ver-
sprach auch einen unbürokratischen Aus-
gleich der wirtschaftlichen Folgen für Pfle-
geeinrichtungen, etwa durch höhere Aus-
gaben oder Einnahmeausfälle in der Coro-
na-Krise.
In den nächsten Monaten erwarte er kei-
ne Rückkehr zum Normalzustand: „Das
wird eher viele Monate so gehen als viele
Wochen“, sagte Spahn vor allem mit Blick
auf den Schutz von Älteren und Schwäche-
re: „Da müssen wir klar miteinander sein


in der Gesellschaft.“ Was die Dauer der Ein-
schränkungen des öffentlichen Lebens an-
geht, verwies Spahn darauf, dass etwa die
Schließung von Kitas, Schulen und Ge-
schäften gerade erst wenige Tage in Kraft
sei. „Bis sich das in den Statistiken über-
haupt bemerkbar machen kann, braucht
es eher 10, 14 Tage als weniger.“ Mit den
Bundesländern sei abgesprochen, dass
nach Ostern gemeinsam geschaut werde,
wie es mit den Einschränkungen weiterge-
he. „Das Virus ist da, und das Virus wird für
immer bleiben“, sagte er.
kristiana ludwig


SZ: Herr Meidinger, der bayrische Kultus-
minister Michael Piazolo hat im Telefonat
mit der SZ zur aktuellen Lage gesagt, es
sei „normal, wenn Schülerinnen und Schü-
ler so kurz vor dem Abitur ein wenig ner-
vös sind“. Durch die verschobenen Prü-
fungstermine könnten sie sich aber ganz
in Ruhe vorbereiten und gelassen bleiben.
Trifft das die Situation?
Heinz-Peter Meidinger: Das ist eine Ver-
harmlosung. Man kann die normale Nervo-
sität vor Abiturprüfungen nicht mit der jet-
zigen Situation vergleichen. Die ist natür-
lich ungleich belastender. Egal ob in Bay-
ern oder anderswo.

Woran liegt das?
An der Unsicherheit. Kein Abiturient kann
sicher sein, dass es bei den verschobenen
oder nicht verschobenen Terminen bleibt.
Durch die Dynamik der Epidemie können
sich die Beschlüsse der Länder jederzeit
wieder ändern. Ich erwarte, dass außer
Bayern und Mecklenburg-Vorpommern
noch andere Länder die Termine verlegen.

Warum ist das so belastend?
Abiturienten und Lehrkräfte planen die
letzten Wochen vor dem Abitur präzise
durch. Der letzte Stoff wird vermittelt, al-
ter Stoff wird aufgefrischt. Um die Nerven
zu beruhigen, etwa in Mathe, rechnet man
frühere Abituraufgaben durch und erklärt
noch mal einiges. In der unterrichtsfreien
Zeit danach gehen die Schüler zu Hause
sehr konzentriert noch mal alles durch. Die-
ser Plan wird jetzt durchkreuzt.
Wer später als geplant geprüft wird, kann
länger lernen – aber hat nichts davon?
Der Abiturient muss zu einem bestimmten
Termin richtig fit sein. Diesen Stand kann
er nicht über Wochen vorhalten. Deshalb
ist Terminverlässlichkeit so wichtig.

Weil die Bundesländer sich nicht festle-
gen, schaden sie den Abiturienten?
Ja, jedes Land müsste jetzt die Klausur-
und auch die Nachschreibtermine endgül-
tig festlegen und dann auch einhalten.
Selbst wenn die Schulen noch zu sind?
Ich glaube, wir können auch in geschlosse-
nen Schulen Situationen herstellen, in de-
nen die Infektionsgefahr äußerst gering
ist. Sprechverbot, keine Schlangen vor den
Türen, Verteilen auf mehrere Räume, stets
viel Abstand untereinander, das alles be-
aufsichtigt von Lehrern, an denen es in an-
sonsten geschlossenen Schulen ja keinen
Mangel gibt. Natürlich immer in Abspra-
che mit den Gesundheitsämtern.

Warum machen es die Bundesländer dann
nicht so?
Weil sie sich nicht ordentlich absprechen.
Ich halte das für skandalös. Jetzt zeigt sich
in ihrer ganzen Dimension die Unfähigkeit
der Kultusministerkonferenz und des Bil-
dungsföderalismus, in Krisen ganz schnell

zu einheitlichen Notfalllösungen zu kom-
men. Da kämpft jeder für sich, obwohl
man durch teilweise zentralisierte Abitur-
aufgaben terminlich aufeinander angewie-
sen ist. Einer prescht vor, die andern müs-
sen irgendwie reagieren.
Sie meinen Bayern.
Für Bayern allein mag die Verschiebung
richtig sein, für das ganze System nicht.

Rechnen Sie wegen der Corona-Krise mit
schlechteren Leistungen im Abitur?
Ob die Leistungen wegen der schwierige-
ren Bedingungen sinken, kann ich jetzt
noch nicht beantworten. Aber ich rechne je-
denfalls nicht mit schlechteren Noten bei
diesem Abitur. Die Bildungspolitik wird si-
cher alles tun, um den Vorwurf abzuweh-
ren, dies sei ein benachteiligter Jahrgang.
Der Ihrer Ansicht nach aber benachteiligt
ist. Wie ließe sich das noch ausgleichen au-
ßer durch freundliche Noten?
Auf jeden Fall sollte man Schüler, die we-
gen geschlossener Schulen nicht alle Klau-
suren schreiben konnten, trotzdem zur Ab-
iturprüfung zulassen. Aber da lauert schon
wieder das nächste Problem: Wenn jedes
Bundesland eigene Nachteilsausgleiche
schaffen, können enorme Ungerechtigkei-
ten entstehen, weil die einen strenger, die
anderen wohlwollender sind.

Entstehen auch Ungerechtigkeiten, weil
nicht jede Lehrkraft gleich gut darin ist,
Abiturienten per Fernunterricht zu unter-
stützen? Stichwort: digitales Know-how?
Darin sehe ich nicht das größte Problem.
Auch im Präsenzunterricht ist nicht jede
Lehrkraft gleich gut darin, Schüler auf die
Abschlussprüfungen vorzubereiten.
Wie kommen Abiturienten mit dem iso-
lierten Lernen klar?
Das hängt sehr vom Typ ab. Wer sich gut
selbst strukturieren kann, hat es jetzt leich-
ter als jene, die sich ohne vorgegebenen
Rhythmus ständig ablenken lassen.

Könnte die Situation Abiturienten psy-
chisch überfordern?
Die Jugendlichen reagieren jetzt sehr un-
terschiedlich, genau wie Erwachsene. Man
sollte sie nicht alleine lassen. Das ist auch
für sie eine völlig neue Belastungssituati-
on. interview: susanne klein

Ein Test für alle


Der Landkreis Freising ist ein Hotspot der Corona-Krise in Bayern. Wie sich die
Mitarbeiter des Gesundheitsamtes gegen die Ausbreitung des Virus stemmen

Gesundheitsämter klagen schon
lange über zu wenig Personal.
Jetzt zeigt sich, was das bedeutet

In Uniform gegen das Virus


Die Bundeswehr ist in der Corona-Krise als Nothelfer gefragt. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer erwägt, auch die Reservisten zu aktivieren


Auch Jugendsozialarbeiter
helfen mit – die Schulen sind
ja im Moment geschlossen

Heinz-Peter Meidinger,
65, ist Präsident des
Deutschen Lehrerverban-
des und Schulleiter am
Robert-Koch-Gymnasium
im bayerischen Deggen-
dorf.FOTO: STEPHAN RUMPF

Die Truppe werde helfen, wo sie
könne, wenn zivile Strukturen
an ihre Grenzen gelangten

6 HF2 (^) POLITIK Freitag, 20. März 2020, Nr. 67 DEFGH
„Das Wichtigste ist: Keine Panik aufkommen lassen“: Touristen flanieren mit Atemschutzmaske und Sonnenbrille über
den Wochenmarkt in der Freisinger Innenstadt. FOTO:MARCO EINFELDT
Jacken an, Helm auf: Reservisten der Bundeswehr sind aufgerufen, sich bereitzu-
machen für den Kampf gegen Corona. FOTO: MARCEL KUSCH/DPA
„Das Virus wird für immer bleiben“, sagt
Jens Spahn. FOTO: FABRIZIO BENSCH/REUTERS
Spahn setzt
Pflegeregeln aus
Um Helfer zu entlasten, sollen sie
auf Bürokratie verzichten dürfen
„Ich halte das
für skandalös“
Lehrerpräsident Meidinger erklärt,
was Abiturienten jetzt belastet

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