Süddeutsche Zeitung - 20.03.2020

(nextflipdebug5) #1
von oliver meiler

Rom –Die Italiener sagen von ihrem Land,
es sei das „Epizentrum der Pandemie”. Das
ist ein schiefes Bild, es mischt Katastro-
phen unterschiedlicher Genres miteinan-
der. Dennoch passt die Metapher, wenigs-
tens momentan. Am Donnerstag, um 18
Uhr, hat der nationale Zivilschutz in seiner
täglichen Medienkonferenz, einem nun fi-
xen Termin des neuen italienischen All-
tags, bekanntgegeben, dass das Coronavi-
rus in Italien bisher mehr Opfer gefordert
hat als in jedem anderen Land der Welt,
nämlich 3405 – das sind auch mehr als in
China, wo es ursprünglich herkam.
In den vergangenen zwei Tagen kamen
zunächst 475 und dann 427 Opfer dazu.
Nie davor in der Krise, auch in der akuten
Phase in Wuhan nicht, hatte es an zwei Ta-
gen in Folge so viele Tote gegeben, die an
oder mit Covid-19 gestorben sind. Die Un-
terscheidung zwischen „an” und „mit” ist
ein wichtiger Aspekt, von dem gleich noch
die Rede sein muss. In diesen zwei Tagen
sind auch 1499 Patienten genesen, und das
lässt die Italiener ein bisschen hoffen. Die
Zahl der Neuerkrankungen stieg nach ei-
ner leichten Verbesserung wieder stark an:
um 4480 in 24 Stunden. Auch das ist ein

bisheriger Höchstwert. Die Experten sa-
gen, er liege im Trend, beruhigend wirkt
die Beteuerung aber nicht. Doch auf die
Stimmung im Volk, das seit zehn Tagen in
verordneter Kollektivisolation auf bessere
Nachrichten harrt, drücken die tragischen
Todeszahlen natürlich. In Bergamo haben
Armee-Transporter Leichen weggebracht,
weil es auf den Friedhöfen der Stadt kei-
nen Platz mehr für sie gab – mitten in der
Nacht. Das Fernsehen zeigte Bilder eines
langen Konvois von Militärlastwagen.
Das Istituto Superiore di Sanità, Italiens
oberstes Gesundheitsinstitut, hat nun eine
Studie vorgelegt, in der es alle klinischen
Daten der Opfer analysiert hat. Folgende
Erkenntnisse und Mittelwerte kamen her-
aus: Das durchschnittliche Alter der Ver-
storbenen liegt bei 79,5 Jahren. Die deut-
lich am stärksten betroffene Altersgruppe
sind die 80- bis 89-Jährigen. Nur fünf Men-
schen waren unter 40 Jahre, alle waren
krank, ehe sie sich mit dem Virus infizier-
ten. 70 Prozent der Opfer sind Männer.
Drei Personen ( 0,8 Prozent) starben offen-
bar ausschließlich „am“ Coronavirus – „oh-
ne wenn und aber“, wie die Italiener sagen.
Alle anderen litten an mindestens einer
schweren Vorerkrankung. Die Hälfte hatte
drei oder mehr Krankheiten, die häufigs-
ten waren: Bluthochdruck, Diabetes,
Krebs, Herz- und Atembeschwerden.
Das Gesundheitsinstitut führt auch auf,
mit welchen Leiden die Menschen eingelie-
fert wurden. 77 Prozent hatten hohes Fie-
ber, 74Prozent litten an Dyspnoe, also
Atemnot, und 42 Prozent klagten vor allem
über Husten. Auch über die durchschnittli-
che Verlaufszeit der Krankheit in den tödli-
chen Fällen lässt sich mittlerweile etwas
sagen: Vom Augenblick der ersten Sympto-
me und dem positiven Test bis zur Verle-
gung ins Krankenhaus vergehen normaler-

weise rund vier Tage, bis zum Tod auf der
Intensivstation noch einmal vier.
Viele Diskussionen ranken sich auch
um die angeblich hohe Sterblichkeitsrate
in Italien, und tatsächlich: Die Zahl der be-
kannten Virusträger liegt bisher bei etwa
41 000, die Zahl der Todesfälle bei 3405.
Das entspricht einer Rate von dramati-
schen 8,3 Prozent. Doch ist diese Rate rea-
listisch? Experten denken, dass es in Itali-
en sehr viel mehr Infizierte gibt als es offizi-
elle Statistiken ausweisen – viele von ih-
nen haben keine Symptome oder nur leich-
te wie bei einer Grippe. Von der Dunkelzif-
fer der „Geisterträger“ von Corona, wie
man sie nennt, hängt die Sterblichkeitsquo-
te sehr wesentlich ab. Glaubt man den
Fachleuten, liegt die wahre Rate nicht bei
acht, sondern bei einem bis drei Prozent.
Drei Prozent wären vergleichsweise hoch,
doch Covid-19 gilt nun mal als besonders
aggressiver Erreger.
Ungewiss ist auch, ob die Entwicklung
in Italien so eigentümlich ist, wie man nun
zu glauben scheint. Das Land ist den Nach-

barn ungefähr zwei Wochen voraus, in al-
lem, wohl auch beim Verlauf der Epidemie.
Ähnlich verläuft die Dynamik nun aber in
Spanien, wo die Fallzahl zuletzt stark stieg,
sowie in Frankreich, den USA, Deutsch-
land und der Schweiz. Ein Vergleich ist
wohl erst in einigen Wochen möglich.
Trotzdem fragen sich die Italiener natür-
lich, warum es gerade sie zuerst und so
stark traf. Auch dazu gibt es viele Thesen
und Erzählungen, die vielleicht nur so lan-
ge Bestand haben, bis Vergleichswerte aus
anderen Ländern vorliegen. Grund eins ist
demografisch: Italiens Bevölkerung ge-
hört zu den betagtesten der Welt, das
Durchschnittsalter liegt bei 46,3 Jahren. 21
Millionen Italiener sind über 65 Jahre alt.
Grund zwei: Das „Epizentrum“ der Aus-
breitung umfasst jene drei Regionen im
Norden, alle in der Po-Ebene, die das wirt-
schaftliche und industrielle Herz des Lan-
des bilden, die Lombardei, Venetien und
die Emilia-Romagna. Nirgendwo in Euro-
pa ist die Luftverschmutzung größer. Viele
ältere Bewohner leiden an Atemwegsbe-

schwerden. Und die Bevölkerungsdichte
ist hoch: Ungefähr 40 Prozent der Italiener
leben dort. Ein gefährlicher Mix. Zoomt
man die besonders betroffenen Gebiete nä-
her heran, rücken die Städte Lodi, Brescia
und Bergamo ins Zentrum, letztere kämp-
fen mit schwindenden Kräften gegen die
Katastrophe. Nur Mailand und Provinz blie-
ben bisher relativ verschont, und weil in
der Metropolregion drei Millionen Men-
schen eng an eng leben, ist es von zentraler
Bedeutung, dass das so bleibt. Motiv drei:
Italien ist durchaus zurecht stolz auf sein
öffentliches, allen zugängliches Gesund-
heitswesen. Nur wurde es in der jüngsten
Finanz- und Wirtschaftskrise radikal zu-
sammengespart. Der hochverschuldete
Staat hat Forschungszuschüsse im vergan-
genen Jahrzehnt um 21 Prozent gekürzt
und viele brillante Wissenschaftler ans
Ausland verloren. Die Corona-Krise traf
das System im ungünstigsten Moment. Mo-
tiv vier: Italien war das erste Land, das Flü-
ge aus und nach China verbot. Die Maßnah-
me war nicht durchdacht: So reisten Passa-

giere aus China über Paris, Frankfurt und
Zürich nach Italien ein, ungetestet.
Dennoch wächst die Popularität der Re-
gierung rasend. Premier Giuseppe Conte,
der sich vor der Epidemie nur mühsam im
Amt hielt, steht nun nach einer Umfrage
vonLa Repubblicabei 71Prozent Gunst im
Volk, das gab es seit vielen Jahren nicht.
Die befragten Italiener finden die drasti-
schen Einschränkungen des öffentlichen
Lebens richtig: 94 Prozent begrüßen sie.
80 Prozent meinen, Italien gehe besser mit
der Krise um als alle anderen Länder Euro-
pas. Besorgt sind indes fast alle: 65 Prozent
„sehr“, 30 Prozent „ziemlich“.
Das erklärt wohl, warum die allermeis-
ten Italiener diszipliniert die Vorgaben ein-
halten. Wer es nicht tut, dem drohen nun
härtere Strafen. Rom erwägt, die Armee
weiter zu mobilisieren, um Vorschriften
durchzusetzen. 7000 Soldaten sind schon
in den Straßen. Viel hängt davon ab, wie
lange die Italiener den Hausarrest erdul-
den. Der 3.April, der mal als Tag der Befrei-
ung galt, ist schon Makulatur.

Madrid –Als die „gefährlichste Stadt Euro-
pas“ gilt in der spanischen Presse in diesen
Tagen Madrid, denn nirgendwo sonst hat
die Zahl der vom Virus befallenen Einwoh-
ner so drastisch zugenommen: Auf die Re-
gion Madrid entfiel mehr als die Hälfte der
rund 18000 Infizierten und 800 Toten, die
am Donnerstag für Spanien gemeldet wur-
den. Die gefährlichsten Orte in der Haupt-
stadt wiederum sind die Altersheime: Aus
einem wurden innerhalb weniger Tage 19
Tote gemeldet, aus einem anderen 15.
Das öffentliche Leben ist zum Erliegen
gekommen, seit dem Wochenende gilt eine
Ausgangssperre, die offenkundig auch
weitgehend eingehalten wird. Jedenfalls
gibt es in den spanischen Medien keine Be-
richte über „Corona-Partys“. Entgegen al-
len Klischees sind die Madrilenen in der Öf-
fentlichkeit stets diszipliniert: So sind nun
nur wenige Autos und Menschen auf den
Straßen zu sehen; Schulen, Universitäten
und die meisten Behörden sind schon seit
zehn Tagen geschlossen. Erlaubt sind Fahr-
ten zur Arbeit, zum Arzt sowie zur Betreu-
ung von Angehörigen, ansonsten darf man
das Haus nur zum Einkaufen verlassen –
oder zum Gassigehen mit dem Hund. Die
Nervosität auf der Straße ist zu spüren, kei-
ner weiß, wie lang der Alarmzustand, wie
es offiziell heißt, gelten soll.
Die Fernsehprogramme sind voll mit
Tipps, wie man die Zeit zu Hause gestalten
kann, von Kochrezepten bis zum Basteln
von Schutzmasken aus BH-Körbchen und
Plastikfolien; Quizspiele mit Zuschauerbe-
teiligung haben Konjunktur. Doch das
Bild, das die Nachrichten liefern, beruhigt
die Menschen wenig. König Felipe, der sich
seinem Volk nur sehr selten zeigt, rief in ei-
ner Fernsehansprache dazu auf, solida-
risch alle Härten zu ertragen. Hinterher,
wenn die Virusgefahr gebannt sei, werde
Spanien „stärker als zuvor“ dastehen.
Premierminister Pedro Sánchez verkün-
dete vor dem Parlament vor einer Hand-
voll Abgeordneter: „Das Schwerste steht
uns noch bevor!“ Er deutete an, dass die all-
gemeine Ausgangssperre, die er für zu-
nächst zwei Wochen angeordnet hat, ver-
längert werde. Sánchez steht unter gro-
ßem Druck, seitdem bekannt wurde, dass
die oberste Gesundheitsbehörde in Ma-
drid Anfang des Monats dringend empfoh-
len hatte, die Kundgebungen zum Interna-
tionalen Frauentag am 8. März zu untersa-
gen. Experten sehen die Kundgebungen,
an denen Hunderttausende im ganzen

Land teilnahmen, als eine der Ursachen für
die explosionsartige Zunahme der Krank-
heitsfälle. Mehrere Ministerinnen und
Staatssekretärinnen der Madrider Links-
koalition haben sich offenkundig an die-
sem Tag angesteckt.
Vor den Supermärkten stehen schon am
frühen Morgen Schlangen, es dürfen sich
nur wenige Personen gleichzeitig in den
Räumen aufhalten. Schon kurz nach Öff-
nung sind die in der Nacht angelieferten Be-
stände an Nudeln, Reis, Zwieback und Toi-
lettenpapier ausverkauft. Doch es fehlt an
Desinfektionsmitteln. Schutzmasken kön-
nen die Apotheken schon seit Anfang März
nicht mehr liefern.

Selbst in den öffentlichen Krankenhäu-
sern fehlt es an Schutzkleidung, es wurden
bereits mehr als 500 Ansteckungen beim
medizinischen Personal registriert. Nur ei-
ne einzige Firma in der andalusischen
Stadt Jaen produzierte bislang medizini-
sche Schutzmasken, doch einen Teil der
Rohstoffe dafür muss sie aus Asien bezie-
hen, und die Lieferketten sind unterbro-
chen. Mehrere Textilfirmen gaben be-
kannt, dass sie nun auch Schutzkleidung
produzieren und den Gesundheitsbehör-
den zur Verfügung stellen würden.
Bislang haben die Gesundheitszentren
nur Personen mit schweren Symptomen
getestet, sodass die Experten mit einer
sehr hohen Dunkelziffer an Erkrankten
und Überträgern rechnen. Die Notstands-
gesetze erlauben es der Regierung, auch
Hotels zu Kliniken umrüsten zu lassen.
Mehrere Dutzend Betreiber haben ihre
Häuser dafür angeboten, es könnte für sie
ein Weg sein, finanziell zu überleben. Der
Fremdenverkehr, der neben der Lebens-
mittelproduktion der wichtigste Wirt-
schaftszweig Spaniens ist, bekommt die
Pandemie besonders zu spüren. Das Oster-
geschäft ist völlig eingebrochen. Strände
sind gesperrt, alle Straßencafés verwaist.
thomas urban

München– In einem dramatischen Appell
fordern NRW-Kommunalpolitiker einen
besseren Schutz gegen eine Verbreitung
des Corona-Virus aus den Niederlanden.
Notfalls müsse die Grenze geschlossen wer-
den , verlan-gen acht grenznahe Landräte
sowie der Oberbürgermeister der Stadt
Münster. Grund ist, dass die Regierung in
Den Haag lange die Strategie der „Grup-
pen- oder Herden-Immunität“ verfolgt
hatte. Demnach sollte eine Immunität der
Gesellschaft auch dadurch erreicht wer-
den, dass junge und gesunde Menschen
sich infizieren – und als Folge ältere, ge-
fährdetere Menschen geschützt hätten.
Der niederländische Premier Mark Rut-
te hatte nach Protesten im eigenen Land
zwar Mitte der Woche klargestellt, seine Po-
litik ziele nicht auf eine Art immunologi-
schen Schutzwall. Aber in ihrem Brief an
Bundeskanzlerin Angela Merkel und NRW-
Ministerpräsident Armin Laschet warnen
die deutschen Landräte: Bei unterschiedli-
chen Strategien in Deutschland und den
Niederlanden bleibe die offene Grenze
„ein Einfallstor für Infektionsketten“. Mer-
kel und Laschet sollten sich mit Rutte ver-
ständigen. „Ansonsten bliebe als ultma ra-
tio nur eine Grenzschließung.“
Am Donnerstag hatte Nordrhein-West-
falens Ministerpräsident Armin Laschet in
Düsseldorf verteidigt, dass die 567 Kilome-
ter lange Grenze zwischen den Niederlan-
den und NRW offenbleibe. Dies sei erfor-
derlich, um Lieferketten und die Versor-
gung der Bevölkerungen sicherzustellen.
Der CDU-Politiker verwies auf die deutsch-
polnische Grenze, wo sich Lkw über 60 Ki-
lometer gestaut hatten: „Medikamente,
die ihren Weg nicht finden, und Lebensmit-
tel, die in Lkws vergammeln – das ist nicht
sehr überzeugend.“
Die NRW-Regierung prüft täglich, ob
der niederländische Ansatz zur Bekämp-
fung der Pandemie greift. „Wir beobach-
ten die Lage sehr genau, weil die Niederlan-
de zum Teil andere Maßnahmen haben,“
sagte Laschet. Aktuell herrsche an der
Grenze „ein guter Zustand.“ Er fügte hinzu:
„Wenn es Anlass zum Eingreifen gibt, weil
die Dinge aus dem Ruder laufen, dann
muss man sich die Lage neu anschauen.“


Die niederländische Regierung hat klar-
gestellt, dass sie nicht beabsichtige, mög-
lichst viele Menschen mit dem Coronavi-
rus anstecken zu lassen, um einen immu-
nologischen Schutzwall um Alte und Men-
schen mit Vorerkrankungen zu bilden (SZ
vom 19. März). Das sei nicht das Ziel seiner
Politik, sondern nur eine absehbare Folge,
sagte Premier Mark Rutte in einer Parla-
mentsdebatte.
Zuvor hatte auch der oberste wissen-
schaftliche Berater der Regierung in der Co-
ronakrise, Jaap van Dissel vom Reichsinsti-
tut für Gesundheit und Umwelt (RIVM), be-
tont, dem Konzept der Gruppenimmunität
sei zu viel Beachtung beigemessen wor-
den. Das sei nur ein „zusätzlicher Schutz“,
der kommen könne.
In der Debatte übten die Vertreter meh-
rerer Oppositionsparteien Kritik an der
Kommunikation der Regierung in den ver-
gangenen Tagen. „Viele Niederländer füh-
len sich als Teil eines großes Experiments“,
sagte etwa der Sozialdemokrat Lodewijk
Asscher. Der Premier sprach von einem
„Missverständnis“. Es sei keine Rede da-
von, dass sich die Menschen bewusst anste-
cken sollten. Vielmehr seien die Maßnah-
men gegen das Virus so streng, dass sie
sich kaum noch von jenen etwa in Belgien
oder in Frankreich unterschieden, wo Aus-
gangssperren erlassen worden sind. Thier-
ry Baudet vom nationalistischen Forum
für Demokratie bezeichnete Ruttes Erklä-
rungen als „180-Grad-Wende“.
t. kirchner, c. wernicke


Ministerpräsident
Pedro Sánchez warn-
te im Madrider Par-
lament: „Das
Schwerste steht uns
noch bevor!“ Das
sagte er bei der Aus-
rufung der Ausgangs-
sperre.FOTO: MARISCAL
POOL/GETTY IMAGES

Hotels zu Kliniken


Altenheime sind Spaniens gefährlichste Orte


Corona-Tote in Italien

Die häufigsten Komplikationen bei Covid-19-Patienten sind ...
Angaben in Prozent (Mehrfachnennungen möglich)

Zahl der Verstorbenen nach Altersgruppen

Vorerkrankungen bei Patienten, die an Covid-19 gestorben sind
Die Statistik bezieht sich auf 2003 Fälle insgesamt.
Die Angaben zu den Vorerkrankungen werten 355 dieser 2003 Fälle aus.

SZ-Grafik; Quelle: Istituto Superiore di Sanità, Stand: Donnerstagnachmittag (19.3.)

Frauen Männer gesamt

0 5 5 5 7 12

56
42
14

173
142

31

707

54

158

852

567

285

1

108


0 55 75 12

56
42
14

173
142

31

707

54

158

852

567

285

1

108


0

100

200

300

400



600

700

800

900

30–39 40–49 0–9 60–69 70–79 80–89 90+

0 0 100 10 200

Fälle ohne Vorerkrankung

mit einer Vorerkrankung

mit zwei Vorerkrankungen

mit drei oder mehr Vorerkrankungen

33

88

1

172172

Ateminsuffizienz Nierenversagen Superinfektionen

akuter
Myokardinfarkt

7,2 27,8 10,8 10,

Brüssel– Der EU-Brexitunterhändler
Michel Barnier ist positiv auf die Lun-
genkrankheit Covid-19 getestet wor-
den. Er befolge die notwendigen Anwei-
sungen, teilte der wichtigste europäi-
sche Diplomat für Handelsfragen mit.
„Für alle, die bereits betroffen sind, und
für alle, die derzeit in Isolation sind –
wir werden das zusammen durchste-
hen“, twitterte Barnier am Donnerstag.
Bereits zuvor war die zweite Runde der
Handelsgespräche zwischen Großbri-
tannien und EU wegen des Coronavirus
abgesagt worden. Nun lässt sich auch
Kommissionschefin Ursula von der
Leyen auf das Virus testen. ap, dpa


New York– Die breitere Verfügbarkeit
von Corona-Tests in den USA lässt die
Zahl der bekannten Fälle im besonders
betroffenen Bundesstaat New York
stark ansteigen. Die Zahl der Infizierten
erhöhte sich am Donnerstag laut der
Johns-Hopkins-Universität auf mehr
als 3000. Im Vergleich zum Dienstag
bedeutete das mehr als eine Verdoppe-
lung. Vor allem in New York City ist die
Lage ernst. Bürgermeister Bill de Blasio
erklärte am Mittwochabend, die Millio-
nenmetropole habe 1871 Fälle – nach
814 am Vortag. Die Behörden nehmen
wegen lange mangelhaft vorhandener
Tests eine hohe Dunkelziffer an. dpa


München– Nachdem die Lage in der Tür-
kei in den ersten Tagen der Pandemie be-
tont rosig und das Land von den regie-
rungstreuen Medien als Corona-frei und
bestens gewappnet dargestellt worden
war, hat die Regierung in Ankara nun offen-
bar erkannt, dass die globale Bedrohung
auch vor der Türkei nicht Halt macht. Die
Frage ist , ob die türkische Führung recht-
zeitig genug reagiert hat. Mindestens drei
Menschen sind gestorben, offiziell hatten
sich bis Donnerstag bereits fast 200 Men-
schen angesteckt, die Zahl der Infizierten
hat sich verdoppelt. Die Dunkelziffer könn-
te erheblich höher sein. Offiziell lag die
Zahl der durchgeführten Tests in dem
83-Millionen-Einwohner-Land bei 10 000.
Nun wolle man täglich 10 000 bis 15 000
Menschen testen, erklärte die Regierung.
Laut Innenministerium sind bereits 9800
Personen in Quarantäne.
Drastische Maßnahmen scheinen fürs
Erste aber nicht geplant zu sein. Finanzmi-
nister Berat Albayrak, ein Schwiegersohn
von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, sag-
te: „Eine Ausgangssperre ist im Moment
nicht auf der Tagesordnung.“
Erdoğan selbst hatte sich am Mittwoch
zum ersten Mal öffentlich zur Pandemie ge-
äußert. In seiner Rede in Ankara appellier-
te er an das Nationalgefühl – „kein Virus ist
stärker als die Türkei“ – und stimmte so
die Bevölkerung auf eine schwierige Lage
ein. Er sprach auch von der Gefahr „ernst-
hafter Konsequenzen für die Wirtschaft“.
Mit der ihm eigenen kämpferischen
Rhetorik appellierte Erdoğan an die Tür-
ken, ihre sozialen Kontakte auf das Allernö-
tigste zu begrenzen. Er betonte die Verant-
wortung jedes Bürgers für die Eingren-
zung der Pandemie: Jeder solle sich immer
wieder Hände und Gesicht waschen und
nach der Arbeit direkt nach Hause gehen.
Zugleich stellte Erdoğan ein „Schutz-
schild für die wirtschaftliche Stabilität“ ge-
nanntes Paket vor, das ökonomische Maß-
nahmen aus Kredithilfen und Steuerer-
leichterung in Höhe von umgerechnet 15
Milliarden Euro umfasst. Zudem kündigte
er Hilfen für besonders Bedürftige an. So
sollen Mindestrenten erhöht, aber auch
das im Land als gegen Corona wirksam gel-
tende türkische Kölnisch Wasser, ein Dro-
gerieprodukt, kostenlos verteilt werden.
Gleichzeitig sprach Erdoğan sogar von
wirtschaftlichen Chancen. Die Wirtschaft
wende sich von China als Ursprungsland
des Virus ab und suche neue Produktions-

standorte. Dafür komme die Türkei in Fra-
ge. „Wenn wir diese ein- oder dreiwöchige
Phase gut managen und die Verbreitung
der Krankheit eindämmen“, so der Staats-
chef, „haben wir erfreuliche Aussichten“.
Eine Ausgangssperre mag noch nicht nö-
tig sein, weil das öffentliche Leben in wei-
ten Teilen schon lahm liegt. Fast alle Res-
taurants, Kaffeehäuser, Museen, Kinos,
Clubs und Sportzentren sind geschlossen.
Viele Geschäfte sind zu, Massenveranstal-
tungen wie das Gebet in Moscheen sind ge-
strichen. Auslandsflüge wurden ausge-
setzt, die meisten Touristen sind ausge-
reist. Was für viele der fußballbegeisterten
Türken fast am Schlimmsten ist: Der Ball
rollt nicht mehr, die Süper Lig pausiert ge-
nau wie Basket- und Volleyballligen.

Das Gesundheitssystem des Landes ist
nicht schlecht, aber auch nicht übermäßig
gut. Gesundheitsminister Fahrettin Koca
zufolge stehen 25 466 Intensivbetten zur
Verfügung, was eine sehr hohe Zahl im Ver-
gleich zu Italien oder Frankreich wäre. Den-

noch warnte ein Vertreter einer türkischen
Medizinerorganisation, dass man eine
Überlastung des Systems durch Massenan-
drang auf jeden Fall verhindern müsse.
Die Gefährdung der Türkei wird durch
drei Faktoren verstärkt. Das Land hat eine
500 Kilometer lange Grenze mit Iran, ei-
nem der am schwersten betroffenen Staa-
ten. Zudem sind gerade Zehntausende tür-
kische Muslime von der Umrah, der klei-
nen Wallfahrt ins saudische Mekka und
Medina, zurückgekehrt. Offenbar ist die
Durchseuchung dort hoch; unter den Pil-
gern wurden Infektionen festgestellt. De-
ren Quarantäne war nicht lückenlos.
Schwer abschätzbar ist, ob der Türkei ei-
ne Infektionswelle aus Syrien droht. Im
umkämpften Norden des Nachbarlandes
leben weit über drei Millionen Flüchtlinge
unter elenden Hygienebedingungen in La-
gern. Unter ihnen sind keine Tests durchge-
führt worden, die WHO will nun damit be-
ginnen. Die Aussichten wären düster: In
der nur zum Teil von den Rebellen kontrol-
lierten Provinz Idlib gibt es kaum Kliniken.
Die Grenze zur Türkei ist geschlossen, den-
noch überqueren sie einige Syrer. Zudem
hat Ankara als Schutzmacht der Rebellen
Tausende Soldaten dort, deren Nachschub
über die Grenze läuft. sz

Armin Laschet verteidigt offene


Grenzen zu den Niederlanden.


Er will Lieferketten sicherstellen


DEFGH Nr. 67, Freitag, 20. März 2020 (^) POLITIK HF3 7
Dem Tod auf der Spur
Italien verzeichnet nun mehr Opfer als China, die an den Folgen von Corona gestorben sind. Das könnte
mit vielen alten und oft vorerkrankten Menschen zu tun haben – und mit Kürzungen im Gesundheitswesen
Gerade kamen Zehntausende
Pilger aus Mekka zurück. Einige
befinden sich in Quarantäne
Offiziell liegt die Zahl der Infizierten in der Türkei noch unter 200, vorsorglich desin-
fiziert wird in der Metropole Istanbul dennoch bereits. FOTO: KEMAL ASLAN/REUTERS
Das durchschnittliche
Alter der Verstorbenen
liegt bei 79,5 Jahren
Brexit-Unterhändler erkrankt
Fälle in New York nehmen zu
Rutte spricht von
Missverständnis
Niederländischer Premier strebt
doch keine Herden-Immunität an
AUSLAND
Steuerrabatt und Kölnisch Wasser
Die Türkei reagiert spät auf die Corona-Krise – trotz ihrer Grenzen zu Risikogebieten

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