Süddeutsche Zeitung - 20.03.2020

(nextflipdebug5) #1
von lea deuber und arne perras

Peking/Singapur– Während sich in Euro-
pa und in den USA das Virus weiter rasant
ausbreitet, trifft die ostasiatischen Staaten
nun eine zweite Erkrankungswelle. Jene
Länder also, die eine Weile den Eindruck
vermittelten, als hätten sie das Schlimms-
te bereits hinter sich. Ausgelöst werden die
Neuinfektionen durch Menschen, die aus
besonders betroffenen Regionen im Aus-
land einreisen.
So verkündete China am Mittwoch zwar
zum ersten Mal seit dem Ausbruch des neu-
artigen Virus im Dezember keine Neuanste-
ckungen mehr im Land, meldete aber
gleichzeitig 34 Neuerkrankte, die bereits
bei der Einreise nach China infiziert gewe-
sen und mit Symptomen an Flughäfen an-
gekommen waren. Vergangene Woche
schien es bereits so, als würde Chinas
Staats- und Parteichef Xi Jinping den
Kampf gegen das Virus für gewonnen er-
klären. Seine Reise in das Epizentrum Wu-
han war in China als ein Zeichen gedeutet

worden, dass die Behörden den Ausbruch
unter Kontrolle gebracht betrachten hät-
ten. Der Trend zu importierten Fällen aus
dem Ausland macht sich nicht nur in Fest-
landchina bemerkbar. In Hongkong stieg
die Zahl der Neuinfizierten Mitte der Wo-
che um 25, so viel wie noch nie an einem
Tag in der chinesischen Sonderverwal-
tungszone, die durch eine schnelle Reakti-
on einen großen Ausbruch in der Stadt bis-
her verhindern konnte.
Ähnliches ist in der Nachbarschaft zu be-
obachten. In Südkorea gab es am Mittwoch
152 neue Fälle, mindestens 30 von ihnen
kamen aus dem Ausland. Auch in Singapur
kehren nun viele Bürger von anderen Kon-
tinenten zurück, manche waren auf Dienst-
reise oder Urlaub in Europa. Der Rück-
strom macht sich in der Statistik bemerk-
bar: 47 Fälle verzeichneten die Behörden
am Mittwoch in dem Stadtstaat. Auch dort
waren es deutlich mehr, als an jedem ande-
ren Tag zuvor. Und auch dort bietet der Be-
fund für den Stadtstaat, der bislang 313 Fäl-
le registrierte und noch keinen Toten
durch Covid-19 zu beklagen hat, Anlass zur
Sorge.
Staaten wie Singapur, die bisher für ihre
Strategie gegen das Virus weltweit Lob be-
kamen, stehen nun vor einem Dilemma: Ei-
nerseits ist man entschlossen, die schnelle
und gelungene Eindämmung des Virus
seit Ende Januar nicht zu gefährden; ande-
rerseits sieht sich die Regierung zu drasti-
schen Einreisebeschränkungen gezwun-
gen, die einer weltoffenen Wirtschaftsme-
tropole wie Singapur nicht gut tun. Ein mil-
liardenschweres Hilfspaket soll die ökono-
mischen Folgen für kleinere und mittlere
Betriebe abdämpfen.
Keiner der Minister will hier schon ent-
warnen, denn die schwierigste Phase steht
womöglich erst bevor. Alle Einreisenden
werden nun pauschal unter Quarantäne zu
Hause oder im Hotel gestellt. Selbst jene,
die als Ausländer eine Berechtigung ha-
ben, in Singapur zu arbeiten, müssen vor
ihrer Einreise eine extra Genehmigung ein-
holen, ohne die sie gar nicht einfliegen kön-
nen. Das betrifft auch Angehörige, was den
sozialen Stress erhöht, weil Familien nicht
mehr zueinanderfinden und über mehrere
Kontinente verteilt bleiben.
Bis vergangenes Wochenende war es
noch möglich, ohne zusätzliche Genehmi-
gungen in Singapur zu landen, so flogen et-
wa reiche Indonesier noch in letzter Minu-
te samt Großfamilie ein, weil sie dem Ge-
sundheitsmanagement in der Heimat miss-
trauen und sich medizinisch in Singapur
besser aufgehoben fühlen. Diesen Zu-
strom hat Singapur aber nun durch stren-
gere Regeln gestoppt.
Lawrence Wong, Minister für nationale
Entwicklung, sagte zu den sogenannten
importierten Fällen Mitte der Woche, die
überwiegend heimkehrende infizierte Sin-

gapurer sind: „Glücklicherweise haben wir
sie früh aufgesammelt, manche schon am
Flughafen.“ Die Regierung ist weiterhin
wachsam, doch kann sie das grundlegende
Problem nicht umschiffen: Sie wird auch
künftig weitere Fälle importieren, solange
das Virus global nicht eingedämmt ist.
Auch in China, wo das Virus im Dezem-
ber zum ersten Mal entdeckt worden war,
sind die Sorgen über die neuerlichen Aus-
brüche groß. 3245 Menschen sind seit Ja-
nuar in China an der Lungenkrankheit ge-
storben. Und auch wenn es Zweifel an den
offiziellen Infizierten- und Opferzahlen
gibt, deren Zählweise die Regierung in den
vergangenen Wochen immer wieder geän-
dert hat: Der Trend dürfte doch die momen-
tane Lage im Land widerspiegeln. Die
Schließungen eines Großteils aller Unter-
nehmen, Fabriken, Schulen und Behörden
hat die Epidemie vorerst stoppen können.
Das Land hat bereits begonnen, internatio-
nal seine Hilfe bei der Bekämpfung des Vi-
rus anzubieten. Entsprechend nervös re-
agiert man nun in Peking auf den neuerli-
chen Anstieg.
Seit Anfang dieser Woche hat das Land
ebenfalls seine Einreisebestimmungen
verschärft. Ankömmlinge müssen in Chi-
na für 14 Tage in ausgewählten Hotels und
Unterkünften in Quarantäne. In Peking
und in anderen Städten sorgt die Neurege-
lung seit Tagen für Chaos an den Flughä-
fen. Tausende drängen sich dort in den

Wartehallen, um sich auf Listen zu regis-
trieren und eine Unterkunft zu finden. Teil-
weise dürfen Reisende nun doch wieder
mit einer Genehmigung des jeweiligen
Wohnviertels die 14 Tage zuhause absit-
zen, wenn sie in dieser Zeit die Wohnung
nicht verlassen.

Ähnlich wie in Singapur sind unter den
Reisenden in China viele Geschäftsleute
und ihre Familien, die nach Ausbruch der
Epidemie das Land verlassen hatten und
nun wieder an ihre Arbeitsplätze zurück-
kehren. Einige sind bereits seit dem Neu-
jahrsfest Ende Januar nicht mehr in China
gewesen. Unter den Passagieren sind aber
auch immer mehr Menschen aus China
oder Personen mit einem familiären Hin-
tergrund in dem Land, das viele nun ange-
sichts der Lage für den sichersten Ort hal-
ten, um die Krise zu überdauern. Beson-
ders die gehobenen Flugklassen sind auf
dem Weg nach China ausgebucht, selbst
wenn die Preise dafür bei Zehntausend Eu-
ro und mehr liegen.
Wie im Rest der Region ist der Druck,
die Wirtschaft wieder zum Laufen zu brin-
gen, auch in China hoch – trotz der Risiken.
Ende Januar hatte die Regierung einen

Großteil der Wirtschaft komplett herunter-
gefahren, um die Epidemie einzudämmen.
Damit steht das Leben in China schon län-
ger still als anderswo.
Die wirtschaftlichen Folgen dieser Maß-
nahmen werden immer deutlicher. Laut of-
fizieller Angaben haben in den ersten zwei
Monaten des Jahres bereits fünf Millionen
Menschen ihren Job verloren. Die Arbeits-
losenquote kletterte auf 6,2 Prozent, das
ist ein Allzeithoch. Schon in normalen Zei-
ten gibt es Zweifel an den Angaben der Be-
hörden zur Arbeitslosenquote, die sich
selbst nach Änderungen an der Zahlweise
nie wirklich verändert hat. Das macht den
drastischen offiziellen Anstieg umso be-
merkenswerter. In Chinas Hauptstadt Pe-
king geben viele Betreiber von Lokalen
und Geschäften frei heraus zu, dass sie ih-
ren Mitarbeitern gesagt haben, sie bräuch-
ten nach dem Neujahrsfest nicht mehr an
ihren Arbeitsplatz zurückzukommen. Es
gebe schlicht nicht genug Arbeit, um alle
bezahlen zu können. Viele Menschen blei-
ben immer noch zuhause, vermeiden unnö-
tiges Ausgehen oder Unternehmungen.
Bei einem Treffen der politischen Füh-
rungsspitze sagte Präsident Xi Jinping
zwar diese Woche, die Rückkehr zum nor-
malen Leben mache große Fortschritte.
Doch je mehr Menschen wieder ihrem nor-
malen Alltag nachgehen, umso größer ist
auch die Gefahr, dass es zu neuen Ausbrü-
chen kommt.

München –Während die Slowaken weitge-
hend zu Hause sitzen und sich Atemschutz-
masken nähen, soll an diesem Freitag das
neu gewählte Parlament des Landes erst-
mals zusammentreten. Vor Betreten des
Saals wird bei den Abgeordneten Fieber ge-
messen. Am Samstag wird dann die Regie-
rung vereidigt – mit Mundschutz und
Handschuhen. Sie war am 29. Februar ge-
wählt worden. Eine Antikorruptionsregie-
rung wollte Igor Matovič bilden. Es war im
Grunde das einzige Wahlkampfthema, das
der 46-jährige Vorsitzende und Gründer
der Partei „Gewöhnliche Leute und Unab-
hängige Persönlichkeiten“ hatte. Vor der
Wahl hatte er gegen andere Parteien ge-
keilt und gesagt, man wisse nicht, wen die-
se im Schlepptau hätten. Diese Frage kann
er sich nun auch stellen lassen, besonders
im Bezug auf seine Koalitionspartner.
Drei Minister wird die Partei „Wir sind
Familie“ stellen, die als fremdenfeindlich
gilt. Geführt wird sie von Gründer und Un-
ternehmer Boris Kollár. Ihm gehört unter
anderem ein Radiosender. Das Programm
seiner ultrakonservativen Partei feiert die
Familie als Keimzelle der Gesellschaft und
lehnt ein Adoptionsrecht für homosexuel-
le Paare ab. Kollár ist lediger Vater von
zehn Kindern. Der Wahlspruch des 54-Jäh-
rigen lautet: „Ich denke mit dem Herzen.“
Kollár gilt vielen in der Slowakei als typi-
scher „Vekslák“, also einer, der schon in
den Achtzigern Waren tauschte – oder
eben wechselte. Daher das Wort. Mit
Schmuggel und Schwarzhandel baute sich
so mancher schon vor der Wendezeit ein
Business auf, das sich in der beinah gesetz-
losen Zeit der Neunziger mühelos ausbau-
en ließ.


„Er ist kein Gauner“, verteidigt ihn Ri-
chard Sulík. Sulík ist Vorsitzender der Par-
tei SaS, die zur Koalition gehört. Er hält
sich zu Gute, den neuen Premier Matovič
in die Politik gebracht zu haben. Matovič
errang 2010 erstmals einen Parlaments-
sitz, damals noch als SaS-Mitglied. Sulík
ließ sich früher gern auch mal bei der deut-
schen AfD sehen, von der er sich mittlerwei-
le distanziert. Sie sei ihm „zu braun“. Sulík
wird nun Wirtschaftsminister werden. Er
warnt eindringlich vor dem groß angeleg-
ten Wohnungsbauprogramm, das Kollárs
Familien-Partei durchziehen will. Zudem
hätte er gern Štefán Holý als Minister ver-
hindert, der nun für den gesetzlichen Rah-
men des Wohnungsbauprogramms zustän-
dig sein soll und dem in den Medien Kor-
ruptionsvorwürfe gemacht werden.
„Es ist aber ein völlig anderes Level als
unter der Regierung der Smer SD“, sagt der
Politologe Milan Nič von der deutschen Ge-
sellschaft für Auswärtige Politik. Er erwar-
tet, dass die neue Regierung „viel offener
und transparenter“ handeln wird als die
Vorgänger. Sorge bereitet ihm die politi-
sche Unerfahrenheit des neuen Premiers
und mehrerer Minister. Als gute Wahl sieht
Nič den zukünftigen Außenminister an:
Ivan Korčok von der SaS war früher Bot-
schafter in Deutschland und zuletzt in den
USA. Er kann sein neues Amt erst nach ei-
ner 14-tägigen Quarantäne antreten.


„Was mir Angst macht, sind die vielen
Kirchenleute, die jetzt durch Matovič ins
Parlament kommen“, sagt der Soziologe
Michal Vašečka. Matovič selbst sei ein ka-
tholischer Aktivist, mit seiner Partei zie-
hen nun etwa 25 konservative Katholiken
ins Parlament ein, die Abtreibung ableh-
nen und mit dieser Meinung Verbündete in
der faschistischen Opposition finden.
Doch alle Themen verblassen vor der Co-
rona-Krise, die für die Slowakei eine hefti-
ge Wirtschaftskrise zur Folge haben wird.
Ein größtenteils politisch unerfahrenes Ka-
binett muss sich ihr stellen. Das Gesund-
heitssystem könnte zu viele stationäre Fäl-
le nicht verkraften. Daher hat die Slowakei
bereits vor einer Woche das öffentliche Le-
ben komplett heruntergefahren und sich
abgeschottet. Die Bevölkerung nimmt es
weitgehend hin. Dass Grundrechte ausge-
setzt werden, scheint bislang kaum jeman-
den zu beunruhigen.
Der frühere Dissident und Literaturpro-
fessor Peter Zajac sagt: „Das Bewusstsein
für Menschenrechte ist bei uns historisch
wenig verankert.“ Im Moment überwiege
in seinem Land die Freude über den Regie-
rungswechsel und die Hoffnung auf besse-
re Zeiten. „Wahrscheinlich wird eine große
Enttäuschung folgen“, sagt der 74-Jährige.
„Aber das ist der slowakische Lebensrhyth-
mus.“ viktoria großmann


In Singapur bleiben
Familen getrennt.
Das erhöht den sozialen Stress

Selbst Flüge nach China,
die Zehntausende kosten,
sind ausgebucht

Aufmarsch der


Unerfahrenen


Neue slowakische Regierung
tritt in schweren Zeiten ihr Amt an

Buenos Aires– Kaum hatte Präsident Jair
Bolsonaro am Mittwoch begonnen, im
Fernsehen zu sprechen, fing es an zu schep-
pern. Brasilianer in fast allen großen Städ-
ten des Landes standen auf ihren Balkonen
oder vor ihren offenen Fenstern und mach-
ten Lärm, mit Kochlöffeln schlugen sie auf
Töpfe und Pfannen ein, fast eine Stunde
lang. Viele Tausend Menschen machten so
ihrem Ärger Luft über eine Regierung, die
in ihren Augen angesichts einer globalen
Seuche kaum etwas tut.
Brasilien war das erste Land in Südame-
rika, in dem das Coronavirus auftrat. Heu-
te gibt es hier die meisten Infizierten des
Halbkontinents. In den letzten Tagen ha-
ben sich die Zahlen fast verdoppelt, von
291 auf 534, dazu kommen Tausende Ver-
dachtsfälle und vermutlich eine riesige
Dunkelziffer. Doch während die meisten
Nachbarstaaten teils drastische Maßnah-
men angeordnet haben, von Schulschlie-
ßungen bis zur Zwangsquarantäne, hat die
Regierung in Brasília bislang alle Warnun-
gen und Hinweise von Wissenschaftlern
weitgehend ignoriert.

Immerhin, am Mittwochnachmittag tra-
ten Präsident Bolsonaro und einige Minis-
ter vor die Presse, mit Mundschutz und et-
was ernsterer Miene. Mehrere hochrangi-
ge Politiker sind mittlerweile positiv auf
Covid-19 getestet worden, darunter auch
enge Mitarbeiter Bolsonaros. Der Staats-
chef musste sich darum selbst untersu-
chen lassen, die Tests seien aber negativ
ausgefallen, erklärte der Präsident, ohne
dabei allerdings die Ergebnisse vorzule-
gen. Weil er Kontakt mit Infizierten hatte,
steht er eigentlich dennoch unter Quaran-
täne. Letzten Sonntag aber schüttelte Bol-
sonaro vor dem Regierungspalast die Hän-
de von Hunderten Anhängern. Dieses Wo-
chenende will er seinen Geburtstag feiern,
mit einerfestinha, einer kleinen Party. Der
Virus sei eine „Fantasie“, die Aufregung ei-
ne „Hysterie“, sagte Bolsonaro. Als die bra-
silianische Fußballliga am vergangenen
Wochenende einen Spielstopp bekannt
gab, erklärte der Präsident, dies sei ein Feh-
ler. „Die Absagen werden den Virus nicht
aufhalten. Die Wirtschaft aber darf nicht
stoppen.“
Tatsächlich sind die ökonomischen Fol-
gen der Krise derzeit anscheinend die
Hauptsorge der Regierung. Schon vor dem
Ausbruch der Krankheit schwächelte die
Wirtschaft. Ein Wahlversprechen von Bol-
sonaro lautete, wieder für Wachstum und
Jobs zu sorgen. Nun aber ist die Landes-
währung abgestürzt, die Wachstumspro-
gnosen wurden nach unten korrigiert, und
die Börse musste mehrmals den Handel un-
terbrechen. Mit direkten Geldzahlungen
sollen nun Arme in der Krise unterstützt
werden, dazu hat die Regierung im Kon-
gress weitere Geldmittel beantragt.

Gleichzeitig versucht Bolsonaro abzu-
lenken. In Interviews spricht er davon,
dass es Leute gebe, die wirtschaftliche
Interessen an einem Ausbruch der Pande-
mie hätten. Und Bolsonaros Sohn Eduar-
do, selbst ein Abgeordneter, beschuldigte
die Chinesen, das Virus verbreitet zu ha-
ben. „China ist schuld, und Freiheit ist die
Antwort“, schrieb er auf Twitter.
Doch selbst Mitglieder aus den eigenen
Reihen gehen mittlerweile auf Distanz zur
Regierung. Dazu zeigen Studien immer
deutlicher, wie dramatisch die Lage in Bra-
silien bald schon sein könnte. Schon nächs-
te Woche könnte die Zahl der Infizierten
auf 5000 steigen, sagen Experten. Und das
wäre ein ernstes Problem. Denn immer
noch leben in Brasilien Millionen Men-
schen in Armenvierteln, unter oft prekä-
ren hygienischen Umständen. Und um das
Gesundheitswesen steht es schlecht: Viele
Krankenhäuser sind unterfinanziert, es
gibt nicht genug Betten. Nun gibt es sogar
Überlegungen, Infizierte auf Kreuzfahrt-
schiffen unterzubringen.
Einige brasilianische Bundesstaaten ha-
ben angesichts der dramatischen Lage be-
gonnen, Schulen zu schließen. In São Pau-
lo, der bisher am stärksten betroffenen Re-
gion, werden Einkaufszentren dicht-
gemacht und der öffentliche Nahverkehr
eingeschränkt. Jair Bolsonaro verschärfte
am Donnerstag dann doch noch seinen
Kurs: Brasilien habe wegen der Pandemie
seine Landgrenzen zu insgesamt acht
Nachbarländern geschlossen. Ausländer,
die nicht ständig in Brasilien lebten, dürf-
ten nicht mehr einreisen, sagte der Präsi-
dent. christoph gurk

Kapstadt/London/Moskau/Oslo – Die
Krise schafft auch kleine Helden, inSüdaf-
rikaist er erst sieben Jahre alt: Nkosana
Buthelezi hat zu Hause am Computer re-
cherchiert, wie sich Reinigungsmittel für
die Hände herstellen lassen, die in Südafri-
ka gerade überall ausgegangen sind. Sein
Vater, der in der Werbebranche arbeitet,
hat ihm geholfen, Verpackungen zu ent-
werfen. Jetzt verkauft der Schüler sein
Handspray in der näheren Umgebung,
nicht ganz uneigennützig, mit den Einnah-
men will er „mehr Lego kaufen“. In Südafri-
ka ist es dennoch eine der Geschichten, die
ein wenig Hoffnung machen.
Ansonsten sind die Aussichten düster.
Die Fälle steigen, auf am Donnerstag 150.
Die Regierung hat einen Bericht bekom-
men, nachdem je nach Verlauf der Pande-
mie zwischen 87 900 und 351 00 Menschen
sterben könnten, wenn nicht schnell ge-
handelt wird. Reisende aus Risikoländern
wie Deutschland dürfen bereits nicht
mehr ins Land, Restaurants und Bars, die
Alkohol ausschenken, müssen um 18 Uhr
schließen, Veranstaltungen mit mehr als
100 Personen sind verboten. Doch in den
Townships und informellen Siedlungen le-
ben die Menschen so dicht zusammen,
dass ein Mindestabstand von zwei Metern
nicht einzuhalten ist. Etwa 16 Millionen
meist schwarze Bürger fahren mit Minibus-
sen zur Arbeit, in denen wenig Platz ist.

InGroßbritannienist die Regierung
am Donnerstag zurückgerudert, nachdem
Zeitungen getitelt hatten, London stünde
vor demlockdown; Anders als behauptet
würden nicht alle Busse und U-Bahnen auf-

hören zu fahren, es werde keine Ausgangs-
sperre geben, die Fahrt in die Hauptstadt
oder aus ihr heraus werde nicht verboten.
London hat derzeit die höchste Anste-
ckungsrate im Land; von den knapp 3000
n Großbritannien gemeldeten Fällen wur-
den hier etwa 1000 registriert.
Urheber des Gerüchts war der Premier
selbst gewesen. Boris Johnson hatte am
Mittwoch auf die Frage, ob er sich radikale
Maßnahmen vorbehalte, geantwortet:
„Ich schließe nichts aus.“ Zuvor hatte er die
Schließung aller Schulen von Freitag an so-
wie die Aussetzung aller Examina angekün-
digt und die Bürger gebeten, sich von Res-
taurants und Bars fernzuhalten. Am Don-
nerstag dementiert Number 10: Es gebeze-
ro prospect, also keinen Plan, die Bewe-
gungsfreiheit einzuschränken.
Ärger hat die Regierung auch wegen des
langsamen Anlaufens der Wirtschaftshil-
fen, die Finanzminister Rishi Sunak am
Mittwoch mit einem Paket von 300 Milliar-
den Pfund verkündet hatte. Es werde bis
zur kommenden Woche dauern, bis klar
sei, wer Anspruch auf welche Unterstüt-
zungszahlungen habe. Angekündigt ist et-
wa, dass Mieter, die wegen Jobverlusts
nicht mehr zahlen können, nicht aus der
Wohnung geworfen werden dürften.
Durchsetzen will die Regierung bald
Zwangsmaßnahmen gegen Infizierte. In ei-
ner 329-seitigen Vorlage, die am Donners-
tag veröffentlicht wurde, wird festgelegt,
dass Gesundheitsämter, Polizei und Ärzte
jeden festhalten dürfen, der Anzeichen des
Virus aufweist. Die Notverordnung soll im
Parlament ohne Abstimmung durchge-
wunken werden und zwei Jahre gelten.

In Moskau starb am Donnerstag eine
79-Jährige, die mit dem Coronavirus infi-
ziert war und an Vorerkrankungen litt. Es
ist der erste offizielle Todesfall inRuss-
land. Im gesamten Land wurden bisher
199 Fälle festgestellt – bei 133000 geteste-
ten Menschen. Einige Experten zweifeln
angesichts der niedrigen Werte am russi-
schen Verfahren. Bisher nutzten die Behör-
den den Test eines einzigen Anbieters. Der
sitzt in Nowosibirsk, mehr als 3000 Kilome-
ter von Moskau entfernt, nur dort können
die Ergebnisse im Labor bestätigt werden.
Andere äußern die Sorge, dass es zu we-
nige Betten auf russischen Intensivstatio-

nen gibt, zu wenig Personal, zu wenige
Schutzmasken. Nachrichtenseiten berich-
ten, dass nun Gefangene, Studenten und
Soldaten Masken produzieren sollen. Vor
allem in den russischen Regionen gilt der
Zustand der Krankenhäuser als schlecht.
Erst im Februar veröffentlichten die Behör-
den einen Bericht, demnach hatte ein Drit-
tel der medizinischen Einrichtungen noch
Anfang 2019 kein fließendes Wasser, mehr
als 41 Prozent keine Zentralheizung.

Die Regierung inNorwegenarbeitet
mit der Opposition an einem Notstandsge-
setz. Wenn das Parlament zustimmt, kann
das Kabinett in den nächsten Monaten am
Parlament vorbei und unter Umgehung be-
stehender Gesetze agieren. In der Krise
müsse man „schnell handeln können“, sag-
te Ministerpräsidentin Erna Solberg. Un-
ter anderem würde die Regierung das Ar-
beitsrecht aussetzen können und Gerichts-
verfahren anders strukturieren. Dies sei
notwendig, um das Funktionieren der Ge-
sellschaft in der Krise zu gewährleisten.
Justizministerin Monica Mæland sagte,
die Regierung verspreche, dass sie die Voll-
machten „nicht ausnutzen oder missbrau-
chen“ werde. Von Bürgerrechtlern und Ju-
risten kam scharfe Kritik: Zugunsten der
Exekutive werde der Rechtsstaat ausgehe-
belt. Juraprofessor Terje Einarsen von der
Universität Bergen kritisiert, dass der
Schritt ohne öffentliche Debatte ausgehan-
delt wurde. Der Osloer Rechtsanwalt und
Politiker Geir Lippstad nannte das Vorha-
ben „Wahnsinn“. Seine Partei, die Arbeiter-
partei, kündigte aber an, dem Vorhaben zu-
stimmen zu wollen. bed, ck, sibi, ttt

Mit Kochlöffeln und Pfannen gegen die
Verharmlosung: Demonstranten in São
Paulo. FOTO: REUTERS

Amtsantritt mit Schutzmaske: Am Sams-
tag wird Igor Matovič als slowakischer
Premier vereidigt. FOTO: AFP


Teile der U-Bahn in London sind lahmge-
legt – ein kompletter Lockdown steht
aber noch nicht an. FOTO: IAN HINCHLIFFE/DPA

Um Brasiliens
Gesundheitswesen
steht es schlecht

Ein Politologe erwartet,


das die neue Regierung


„offener und transparenter“ wird Im Krisenmodus: Betrieb am Flughafen Shanghai. FOTO: HECTOR RETAMAL/AFP


Party statt


Quarantäne


In Brasilien wächst der Widerstand
gegen die Regierung Bolsonaro

Von kleinen Helden und großen Zahlen


Eigeninitiative in Südafrika, Notstandsgesetze in Norwegen: Die Welt reagiert höchst unterschiedlich auf die Corona-Krise


Vor der zweiten Welle


China verzeichnet zum ersten Mal seit dem Ausbruch im Dezember keine
Neuansteckungen im Land mehr. Dafür reisen jetzt kranke Menschen ein

8 HF3 (^) POLITIK Freitag, 20. März 2020, Nr. 67 DEFGH

Free download pdf