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Berliner Zeitung·Nummer 68·Freitag, 20. März 2020 3 * ·························································································································································································································································································
DasBerlinerNachtlebenistvirtuellgeworden
undderEinkaufneuenRegelnunterworfen.
AllesverändertsichrasendschnellundtrotzdemsindvieleBerliner
immernochimmungegendieEmpfehlungenundAppellederBehörden.
BeobachtungenauseinerStadtinderKrise
U
nten fließt dieSpree, oben fun-
kelndie Sterneunddazwischen:
Beats,einhundertsechzig pro
Minute,derTreibstoffeinerBer-
liner Technonacht.Normalerweise wären
jetzt ein paarHundertLeute imWatergate,
vordemDJ-Pultwürdensietanzenundträu-
men,undamanderenEndedes Raumswäre
kaumeinRankommenandieBar.Normaler-
weisestündeauchkeineFlaschemitDesin-
fektionsmittel auf demTresen eines Clubs,
wäredieTanzflächekeinOrt,andemsichso-
zialer Sicherheitsabstand trainieren ließe,
könnte man dieLuft nicht atmen, man
müssteinsiehineinbeißen.
NormalistandieserNachtallenfallsdas,
was die Zuhausebleiber auf ihrenBildschir-
menoderDisplayssehen.WeilmehrereKa-
merasdasSetvonMonikaKrusefilmen:Wie
sie hier was dreht, dortwas regelt, mit den
Fingernschnippt, an ihremKopfhörer he-
rumnestelt.„Ichfinde“,sagtesiemalauffest-
ticket.com,„dassmandenMomentimClub,
mitdemMenschendort, nichtdurchStrea-
mingübertragenkann.DufühlstdieEnergie
im Club nicht undverstehst nicht, warum
einDJeinenbestimmtenTrackspielt.“
DaswarvorübereinemJahr.Undesgalt
auchnochvoreinerWoche.Jetztnichtmehr.
DieBerliner Clubs sind geschlossen.Und
nichtnurdasNachtlebenistruntergedimmt
auf das Nötigste.ImE nergiesparmodus be-
finden sich grundsätzlich alle.Wer tanzen
will,sollbitte,nein,mussesverdammtnoch
mal,daheimtun.DeswegenderStream.
Listen zumDownload
BeiYouTube findet man seitMittwoch den
passendenMitschnitt, fünfStunden, sechs
DJs,derTitel:„UnitedWeStream#1 –Water-
gate –ARTEConcert“. Am Donnerstag ging
esim Tresorweiter.„DieBerlinerClubkultur
stehtvordergrößtenHerausforderungihrer
Geschichte“, schreiben dieMacher derVer-
anstaltungsreihe.Daneben prangt einroter
Button: „Jetzt spenden!“Tausende Arbeits-
plätzesindin Gefahr.DieAntwortderClub-
betreiberaufCorona?Siebringen„dengröß-
ten digitalen Club zu dir nachHause“. Eine
MillionEuroistdas Zieldes Crowd fundings.
EineJurywirdüberdie VerteilungderGelder
entscheiden.KnappeinZehntelderSumme
istbereitszusammengekommen.
EinVirushatunserLebenverändert.Wir
sindTeileines Experimentsmitungewissem
Ausgang. Wirwurden nicht gefragt, ob wir
mitmachenwollenbeidiesergeschlossenen
Gesellschaft.Unser Alltag orientiertsich an
Maßnahmen, an immer neuenEinschrän-
kungen, es gibt sogarGrenzkontrollen.Wir
fragenuns,wasdie Bayernmachen,weilsie
immerzuerstdienächsteAbschottungsstufe
zünden.Dannwartenwirab,wiedie Berliner
Bezirke reagieren.Unddie Europäische
Union?DiescheinteherkeineWertegemein-
schaftmehrzusein,sonderndochein Wirt-
schaftsverband, der gerade in dieSumme
seiner Einzelinteressenzerfällt. Wielange
das alles noch gilt?Bisauf Weiteres –drei
Worte,einLebensgefühl.
Dasspürtmanjetztüberall.Dasliestman
auch in den meisten Schaufensternder ge-
schlossenenLäden.Zuvo rnochdie Begrün-
dung derInhaber:„aufgrund der aktuellen
Lage“,„deraußergewöhnlichenUmstände“,
„wegen der Anordnung derBundesregie-
rung“.UndamE ndeeininnighingehofftes:
„Bleibtgesund!“
Wirgeben gerade vieleFreiheiten auf in
derHoffnung,denZusammenbruchdesGe-
sundheitssystems verhindernzuk önnen.
Wirwissenja,wasinItalienpassiert.Wirsor-
genunsumdieAltenundKranken,verleihen
Geld,senkenMieten,helfenbeiderKinder-
betreuungoderorganisierenEinkäufefürdie
Nachbarn.Nicht nur beiTelegram bilden
sich Gruppen, die „covid berlin support“
oder „Lichtenbergsolidarisch“ heißen.Das
AngebotziehtsichvonAhrensfeldebisnach
Zehlendorf. Es gibt Listen zum Download,
dannzumAufhängenimHausflur.„Melden
sie sich einfach unter derTelefonnummer
oder klingeln sie bei mir“ steht da in neun
Sprachen. DieBereitschaft zu helfen über-
steigtnochdenBedarf,heißtes.
EinMitglied desBerliner Abgeordneten-
hauses engagiertsich im heimischen Köpe-
nick, hat eineHotline eingerichtet und die
Mitarbeiter im Schichtbetrieb ansTelefon
gesetzt.Fahrradkurierebietenkostenlosihre
Dienste an.Manrückt zusammen, wo man
nicht fernbleiben darf. Es gibt neueFragen,
diezuneuenDebattenführen:Wassindsys-
temrelevanteBerufe?Warumbekommenei-
nigeweniger,obwohlsiemehrverdienen?
EinRanking der hilfsbedürftigenBran-
chen entsteht, aberwemgeht es eigentlich
am schlechtesten: denFreiberuflernoder
denFluggesellschaften,denReisebürosoder
derBundesliga,denSpargelbauernoderden
Clubbetreibern?Vordem Watergate prangt
dieBotschaft:„Jetztoderniemehr!Clubkul-
tur retten! Arbeitsplätzesichern! Kunst und
Kultur in Berlin erhalten!Wirforder nMiet-
übernahmevomSenat –jetzt.“ Es wirdwe-
nigeKrisengewinnergebenundvieleKrisen-
verlierer .Erster Nebeneffekt:Fußball ist
nichtmehrwichtig.Soweitweg.Sobanal.
Oder man bleibt eben doch egoistisch.
DieFrühlingssonne lässt dasGrün aus Bü-
schen und Bäumen schießen und lockt die
Menschen nach draußen. Diese Woche
fühlte sich wie ein ewigerSonntag an für
viele.Aber nach einigenTagen im Homeof-
fice müssen auchFamilienbande gerissen
sein, als wäreschonWeihnachten.In China
führten vierWochen Quarantäne zu mehr
Scheidungen.InÖsterreich,wobereitsAus-
gangsbeschränkungengelten,willdieRegie-
rung Frauen undKinder vorhäuslicherGe-
waltschützen.Paartherapeutensindgerade
sehrgefragt.
DerNachrichtenstromreißteinfachnicht
ab.Man droht, in ihm unterzugehen.Push-
meldungen kommen jetzt imMinutentakt:
„Erste AusgangssperreinDeutschland“,
„Das Versagen derWeltpolitik“, „Forscher
empfehlen monatelangeEinschränkungen
des öffentlichen Lebens“.Unddann hu-
schenwiederBilderindieTimelines:vongut
gefülltenSpielplätzen. Szene amKollwitz-
platz: EinKind wickelt sich in das imWind
flatterndeAbsperrband des Ordnungsamts,
undPapafilmt.
Viele zeigen jetzt mit dem angespitzten
Moralfingeraufdieanderen.Dennwiekann
man noch immun sein gegen dieEmpfeh-
lungen undWarnungen, die immer mehr
nach Drohungen klingen, nach einerAus-
gangssperrefüralle?AlsonochmalinRuhe,
noch ist es ja vielleicht nicht zu spät:Bitte,
nicht hamstern.Bitte,soziale Kontakte ein-
schränken. Als Hashtag: #staythefucking-
home.OderebenindenWortenvonAngela
Merkel: „I mMoment ist nurAbstand Aus-
druck vonFürsorge.“
Im Moment sind viele sehendenAuges
blind. DieWelt geht unter,aber wenigstens
der Arsch muss sauber sein.Unddann sagt
immereiner:DasistdochallesPanikmache!
Manwünschtsich,dassjemandmalordent-
lichdie Gerüchteküchedesinfiziert.
An einemMorgen in Friedrichshain ste-
henzwanzigMenschenvoreinemDrogerie-
markt, eine halbeStunde vorder Ladenöff-
nung. Mütter mitKinderwagen, Väter mit
Babytragen, einBekannter,der Klopapier
braucht,einRentnerpaar,dassichgegensei-
tig in dieweißen Latexhandschuhe hilft. An
der Tür steht die neueEinlasspolitik:Ab-
stand halten, keineProdukte insRegal zu-
rückstellen, besser bargeldlos bezahlen,
Hustenun dNiesenindieArmbeuge.
Viele Geschäfte haben ihreHygiene vor-
schriften verschärft in denvergangenenTa-
LeereTische,keine Geselligkeit, nur noch Lieferdienst: geschlossen, um Ansteckung zu vermeiden–ein Lokal in Prenzlauer Berg. AFP
Bisauf Weiteres
VonPaul Linke
EinVirus hat unser Leben
verändert.
WirsindTeil eines
Experimentsmitungewissem
Ausgang.Wirwurden
nicht gefragt, ob wir
mitmachen wollen bei
dieser geschlossenen
Gesellschaft.
gen. Mitarbeiter derBioCompany wischen
jetztjedenEinkaufskorbab,wennein Kunde
den Laden betritt, außerdem ist derBröt-
chenkauf „inSelbstbedienung“ eingestellt.
DerMann an derKasse hofft, dass er keine
Schutzmaske anziehen muss.Allein die
Handschuhenerven.UndbeiKauflandkom-
menkeineWarentrennermehrzumEinsatz.
DieSchlangevordemdmisteinevorbild-
lichluftige.DochalsdieTüraufgeht,stürmen
die Ersten gleichzeitig zu denHygienearti-
keln, einMann packt dreiFlaschen Handgel
in den Einkaufswagen.Zwei wir ders päter
wiederabgebenanderKasse.Sos inddienun
mal neuenRegeln. DerSicherheitsbeamte
sagt:„DieschlimmsteZeitist vorbei.“Vorein
paar Tagen soll dieMorgenschlange länger
gewesensein.DieWutschnurkürzer.DieVer-
käuferinverspricht:„Klopapiergibteswieder
abFreitag.“AufAmtsdeutschheißthamstern
übrigensbevorraten.
Wartemarken in derKlinik
Es waren vieleMenschen unterwegs in den
verg angenenTagen.Menschen,dienichtins
Homeoffice können,weil es eben nicht nur
Bürojobsgibt.EinPostboteetwa,derdasGe-
fühlhat,dassderFahrradverkehrzugenom-
men hat und damit auch dieUnsicherheit
aufzweiRädern.AusdreiMeternEntfernung
sagte er :„Diefahren wie die Anfänger.“Ein
LieferantvonRewe, der seit Tagen mehr zu
tun hat, winkt gleich ab: „Das Lieferfenster
beträgtzweibisdreiWochen.DieLeuteka u-
fenalles.“
Manche haben kein Büround nicht mal
ein Zuhause.Wie der Mann, der an einem
Nachmittag dieAbklärungsstation in der
Charitéaufsucht.Dutzende Menschenwar-
ten darauf, dass der anMund, Händen und
AugengeschützteArzt,einZeichengibtund
sagt:„GutenTag, herzlich willkommen, wie
geht es Ihnen?“ Dann beginnt der eigentli-
che Fragekatalog, zuerst immer:„Warensie
innerhalbdervergangenen14Tageineinem
Risikogebiet,etwainNordrhein-Westfalen?“
Dann:„WarenSiemitjemandeminKontakt,
derpositivgetestetwurde?“DerObdachlose
verneintjeweilsundwirdnacheinemkurzen
Plauschmit„BleibenSiegesund“rechtszur
Seitegebeten.
Links,inz weiZeltenoderdavoraufPlas-
tikstühlen, sitzen maskierteMenschen.Sie
habenWartemarkenindenHänden.
Paul Linke
hat Klopapiergeschenkt bekommen
vonseinen Nachbarn.