Berliner Zeitung - 20.03.2020

(Darren Dugan) #1

P o litik


4 * Berliner Zeitung·Nummer 68·Freitag, 20. März 2020 ·························································································································································································································································································

NACHRICHTEN


EU-Umsiedlungsprogramme
gestoppt

InfolgederCoronavirus-Pandemieist
diestaatlichorganisierteAufnahme
vonFlüchtlingenausKrisenregionen
undanderenLänderndurchEU-
Staatenderzeitkomplettausgesetzt.
DieUmsiedlungunterdenEU-Pro-
grammenfindederzeitnichtstatt,
hießesamDonnerstagausderEU-
Kommission.Zuvo rhatteDeutsch-
landbereitsmitgeteilt,diehumani-
täreAufnahmevonFlüchtlingenaus
demAuslandangesichtsvonCovid-
19bisaufweiteresauszusetzen. (dpa)

Brasilianer lehnen sich
gegen Bolsonaro auf

TausendeBrasilianerhabenbeiPro-
testaktioneninmehrals20Städten
denausihrerSichtlaxenundwider-
sprüchlichenUmgangderRegierung
mitdemCoronavirusangeprangert.
BürgerinRiodeJaneiro,SãoPaulo
undanderenStädtendemonstrierten
amMittwochabend(Ortszeit)voral-
lemauchgegendenrechtsgerichte-
tenPräsidentenJairBolsonaro–der
seinerseitsineinerAnsprachein
BrasíliadieBevölkerungzu„Einheit
undHarmonie“aufrief. (dpa)


Grünen-Politiker Özdemir ist
corona-positiv

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete
Cem Özdemir DPA

DerfrühereGrünen-ChefCemÖz-
demiristpositivaufdasCoronavirus
getestetworden.Der54-Jährigever-
öffentlichteamDonnerstagaufIn-
stagrameinVideo,ind emersagte,es
geheihm„sehrgut“.Erwolleseine
Ansteckungöffentlichmachen,„um
deutlichzumachen,dasssichjede
undjedervonunsansteckenkann“.
DerBundestagsabgeordneterief
dazuauf,zuHausezubleibenund
dieLageernstzunehmen. (dpa)

Immer mehr Väter erhalten
Elterngeld

DieZahlder Elterngeld-Empfänger
inDeutschlandsteigtweiter.Rund
1,9MillionenFrauenundMännerin
DeutschlandhabenimJahr2019die
Bezügeerhalten.DassindzweiPro-
zentmehralsimJahrzuvor ,wiedas
StatistischeBundesamtinWiesba-
denamDonnerstagmitteilte.Dabei
bezogen1,41MillionenFrauendie
finanzielleUnterstützungbeider
Kinderbetreuung–dasentsprichtei-
nemAnstiegvon0,9Proz ent.Beiden
MännernklettertedieZahlsogarum
5,3Proz entauf456000. (dpa)

Gabbard steigt aus Rennen
der US-Demokraten aus

TulsiGabbardhatihr eBewerbung
umdie Präsidentschaftskandidatur
derUS-Demokratenaufgegeben.Sie
unterstützenundenfrüherenVize-
präsidentenJoeBiden,erklärteGab-
bardamD onnerstagineinerVideo-
botschaft.„ObwohlichmitdemVi-
zepräsidentennichtinallenSachfra-
genübereinstimme,weißich,dasser
eingutesHerzhatund vonderLiebe
fürseinLandunddieMenschen
Amerikasangetriebenist“,sagte
Gabbard. Nachdem Ausscheiden
der38 JahrealtenAbgeordnetenaus
Hawaiibewerbensichnunnurnoch
derlinkeSenatorBernieSanders
unddermoderateBidenumdieNo-
minierungderDemokraten. (dpa)


Nato:Durch


Coronanicht


eingeschränkt


AllerdingswerdenAusbilder
ausdemIrakabgezogen

D


ieNatosiehtihreVerteidigungs-
fähigkeit durch dasCoronavi-
rusnicht beeinträchtigt.Dassagte
Nato-GeneralsekretärJens Stolten-
bergauf einer perVideo übertrage-
nen Pressekonferenz am Donners-
tagin Brüssel.ZwarhabedasVertei-
digungsbündnisManöver absagen
oder zurückfahren müssen. Auch
wurde dieZahl der Mitarbeiter im
Hauptquartier inBrüssel wegen der
Ansteckungsgefahr reduziert.Stol-
tenberghält aber an derDurchfüh-
rungdes TreffensderVerteidigungs-
ministerAnfangAprilinB rüsselfest.
DieFähigkeit derNato,ihreMit-
glieder zu schützen, sei aber nicht
beeinträchtigt.Gerade in Krisenzei-
tenseiesfürdieNatowichtig,dafür
zusorgen,dassihre„Truppenbereit-
stehen,wennsiegebrauchtwerden“.
Stoltenbergforderte die Mitglied-
staaten auf, trotz derBelastung der
öffentlichen Haushalte ihreRüs-
tungsausgaben zu steigern:Er er-
warte ,dass die Staaten an demZiel
festhielten,mehrinSicherhe itzuin-
vestieren, um sich gegenseitig in ei-
nerunsichererenWeltzuschützen.
Diegeopolitischen Konflikte
werden durch dieCoronakrise of-
fenbar nicht in demselbenAusmaß
zurückgefahren wie das öffentliche
LebeninweitenTeilender Welt:US-
AußenministerMike Pompeo gab
am Mittwoch inWashington be-
kannt, dass dieSanktionen gegen
den Iran weiter verschärft würden.
SowürdenneueSanktionengegen
„neun Einrichtungen und gegen
dreiIndividuen“verhängt.Derira-
nischeAußenministerJavadZarif
rief die Staatengemeinschaftauf,
die„kollektiveBestrafung“seines
Landeszubeenden.Esseiwegen
derUS-Sanktionenfaktischunmög-
lich,Medikamenteundmedizini-
scheAusrüstungzukaufen.DerIran
istvonderPandemiebesondersbe-
troffen.DasiranischeGesundheits-
ministeriumgibtdieZahlderToten
mitüber 1000 an.DochderSpre-
cherderWeltgesundheitsorganisa-
tionWHO,RickBrennan,hältesfür
möglich,dassdieZahlenfünfmal
höherseinkönnten.

Londonverordnet „Pause“
AllerdingshatdieaktuelleLageauch
AuswirkungenaufdenEinsatzeiniger
Nato-Armeen: So gab Großbritan-
nien am Donnerstag bekannt, dass
das Landwegen derCoronavirus-
Pandemie einenTeil seinerSoldaten
ausdemIrakabziehenwerde. Esgebe
eine „Pause“ bei denAusbildungs-
missionenderNato.Wegender welt-
weiten Ausbreitung des neuartigen
Coronavirus war dasProgramm, mit
dem die internationaleKoalit ion die
irakischen Sicherheitskräfte im
Kampfgegen den IS schulen sollte,
für60 Tageausgesetztworden.
Außerdemgebeesbeideniraki-
schen Sicherheitskräften einen ge-
ringeren Trainingsbedarf, teilte das
Verteidigungsministerium in Lon-
don mit. London hat daher einen
Teildes PersonalsnachGroßbritan-
nien zurückbeordert. Zahlreiche
britischeMilitärvertreterwerdenje-
doch imIrak bleiben–auch, um
„britischeInteressen “inderRegion
zuschützen. (BLZ)

Soldaten bei der Übung „Defender Europe
20“, die EndeFebruar begann. DPA

Italienhatmehr TotealsChina


DieSterberateliegtbeiachtProzentdernachgewiesenenInfizierten–dasis tderhöchsteWertwe ltwe it


VonRegina Kerner

D


erChefdesitalienischen
Zivilschutzes,Angelo
Borrelli, hat in derCo-
rona-Krise eine unange-
nehme Aufgabe.Allabendlich muss
er vordie Fernsehkameras treten,
um die aktuellenZahlen fürItalien,
das am schlimmsten getroffene
Land Europas,zuverkünden.Am
Mittwochabendhatteereinebeson-
derstraurigeMitteilung: 475 Italie-
nerwarenbinnen 24 StundenanCo-
vid-19 gestorben.Selbst China, wo
die Pandemie ihren Anfang nahm,
kennt keine solcheSteigerung der
OpferzahlinsokurzerZeit.AmDon-
nerstagabend kam ein traurigerRe-
korddazu: Italien hat auch insge-
samtmehrCorona-TotealsChina.
41000 Menschen haben sich in
ItalienbishermitdemVirusinfiziert,
3405 vonihnen sind daran gestor-
ben –inC hina 3249. DasEpizen-
trum,ausdemzweiDrittelder Opfer
stammen, liegt in der norditalieni-
schen Region Lombardei,rund um
dieStädteBresciaundBerg amo.
Premier Giuseppe Conte hat die
ItalienerineinemInterviewmitdem
Corrier edella Sera darauf einge-
stimmt, dass die landesweiteAus-
gangssperreüber den 25. Märzhin-
aus verlängertwerde .Auch Schulen
und Geschäfte müssten länger ge-
schlossen bleiben als geplant. „Wir
habendenZusammenbruchdesSys-
tems verhindert, die restriktiven
Maßnahmen wirken“, sagteConte.
DasTempoderNeuansteckungensei
verringert.Erhofftdarauf,dassinei-
nigenTagenderHöhepunktderEpi-
demie erreicht ist undNeuinfektio-
nen sinken.Aber er betonte: „Auch
dann können wir nicht sofortzum
vorherigenLebenzurückkehren.“
Beunruhigend ist jedoch die mit
mehr als acht Proz ent weltweit
höchste Sterberate in Italien. In
China liegt sie nach Angaben der
Johns-Hopkins-Universität bei 3,
Proz ent,in Deutschlandbisherunter
0,5 Proz ent. Wieso sterben südlich
derAlpensovielmehrMenschenan
Covid-19? Über dieFrage rätseln
auchWissenschaftler.Bisher gibt es
keineklareAntwort.
Gemeinhin wirddarauf verwie-
sen, dassItaliens Bevölkerung im
SchnittdieältesteEuropasist. Inkei-
nem europäischen Landwerden so
wenigeKindergeboren.Zugleichist
die Lebenserwartung eine der
höchstenweltweit. Über 80-Jährige
haben das höchste Risiko,amVirus
zu erkranken und zu sterben.Die
Zahlen ausItalien belegen das.Das

Die ältere Dame in einer römischen Straßenbahn gehörtzur Hauptrisikogruppe. AP

ReginaKerner
hofft, dass der Höhepunkt
in Italien bald erreicht ist.

Bestätigte Coronavirus-Tote in Italien
500

400

300

200

100

0

BLZ/GALANTY; QUELLE: JOHNS HOPKINS UNIVERSITY (JHU)

Februar März

29.27.24.22.20.18. 6.4.2. 18.19.16.14.12.10.8.

oberste Gesundheitsinstitut ISS hat
bisher die Krankenaktenvon
Corona-Toten ausgewertet. Dem-
nachsindsieimSchnitt80Jahrealt,
70 Proz ent vonihnen sind Männer.
NurfünfderanCovid-19-Verstorbe-
nen waren jünger als 40: Männer
zwischen 31 und 39 Jahren,diean
chronischenVorerkrankungenlitten
–Herz-Kreislauf,Nieren,Diabetes.
AuchdieälterenCorona-Opferhat-
tenfastalleVorerkrankungen.Nur
0,8Proz entwarenganzgesund.
Hinzu kommt, dass die Kliniken
NorditaliensvordemKollapsstehen.
Da kaum nochIntensivbetten und
Beatmungsgeräte frei sind, müssen
ÄrzteneuePatientennachHeilungs-
chancen einteilen.WerVorerkran-
kungenhatundsehraltist,wirdbei
der sogenanntenTriage am ehesten
aussortiert.Zumal am Donnerstag
der zuständigeRegionalkommissar
sagte,dass nun auch immer mehr
jüngerePatienten zwischen 40 und
50kämen,dieBeatmungbrauchen.

AuswirkungenvonFeinstaub?
Wissen schaftlergebenjedochzube-
denken,dassdieweltweiten Corona-
Daten nur sehr bedingt aussagekräf-
tigsind. SofallendieSterberatenun-
terschiedlich aus,jen achdem, wie
viele Menschen im jeweiligen Land
aufdas Virusgetestetwerden.Jegrö-
ßer die Zahl der Tests und der dabei
festgestellten Ansteckungen, desto
niedriger scheint der Anteil derTo-
desopferzusein.Südkoreaetwates-
tet ausgiebig, auch Menschen, die
keine Symptomezeigen. DieSterbe-
rate ist dortmit 0,7 Proz ent entspre-
chendgering.Italiendagegenhatver-
mutlich eine hoheDunkelziffervon
Infektionen.Inzwischen wirdkaum
nochgetestet.InderLombardeiwer-
den selbst Leute mit klarenSympto-
menohneTestnach Hausegeschickt.
DassausgerechnetdieLombardei
sostar kbetroffenist,könntenochan-
dereGründe haben,vermutet eine
ForschergruppederitalienischenGe-
sellschaft für Umweltmedizin. Die
Po-Ebene hat eine der höchsten
FeinstaubbelastungenEuropas,und
die Forscher haben eineKorrelation
zwischenTagen mit erhöhtenFein-
staub-Werten und einer stärkeren
VerbreitungdesVirusentdeckt.Auch
die Sterblichkeit durch Covid-
könnte höher sein,wenn Lunge und
Bronchienchronischgereiztsind.

NachschubfürdieArztpraxen


BundesregierunghatzehnMillionendringendbenötigterAtemschutzmaskenangeschafft


I


mKampf gegen dasCoronavirus
kommt staatlich organisierter
NachschubanSchutzausrüstungfür
PraxenundKrankenhäuserinGang.
DasBundesgesundheitsministe-
rium hatzehn Millionen dringend
benötigte Atemschutzmasken zur
weiteren Verteilung an dieKassen-
ärztlichen Vereinigungen und die
Bundesländerweitergegeben, sagte
ein Sprecher am Donnerstag.Auch
gingen medizinischeHilfsgüter aus
Deutschlandandenbesondersstark
vonder Corona-Epidemie betroffe-
nenEU-PartnerItalien.Maskenund
Schutzanzüge für medizinisches
Personalsindweltweitknapp.
Dieneuen Schutzmasken sollen
unter anderem anPraxen, Bereit-
schaftsdienste undStellen fürTest-
Abstriche verteilt werden, erklärte
die KassenärztlicheBundesvereini-
gung(KBV).NochseidieLageinden
Arztpraxen teils kritisch, aber das
SchlimmsteseimitderaktuellenLie-
ferung wohlvorbei. Desinfektions-
mittel gebe es genügend.Viele Her-
steller beliefertenPraxen mitMen-
gen„imFünf-Liter-Bereich“.

DieBundesregierung hatte be-
schlossen, Schutzausrüstung, aber
auch Ausstattung fürIntensivstatio-
nen in Krankenhäusernergänzend
zubeschaffen.AndereAkteuresollen
aber weiter auch selbst einkaufen.
Gesundheitsminister Jens Spahn
(CDU)machtedeutlich,dassdieBe-
schaffungwegen der international
angespannten Lage nicht leicht sei.
„Es hat lange gedauert, wir haben
vielauchaufderWeltnachLieferan-
ten suchen müssen“, sagte er.Der
HaushaltsausschussdesBundestags
hattekürzlichweitere650Millionen
Euro für denKauf vonSchutzklei-
dungundvonMaterialfürdieInten-
sivpflegebewilligt.
Atemschutzmasken sollen nun
auch wieder inBayern produziert
werden, sagte Ministerpräsident
Markus Söder (CSU) im Landtag in
München,Spätestens ab nächster
Woche solle dieProduktion starten.
Außerdem gibt es nun eineMelde-
pflicht fürBeatmungsgeräte in pri-
vatenPraxenundKliniken.„Notfalls
müssenwirauchbeschlagnahmen“,
betonteSöder.

schubvonSchutzkleidungundDes-
infektionsmitteln, warnte derBun-
desverband derDeutschenEntsor-
gungs-,Wasser-und Rohstoffwirt-
schaft (BDE). DieMitarbeiter
müssten unter anderem Kranken-
hausabfälletransportieren undwei-
terAbfällesammeln.DieDienstleis-
tungsgewerkschaft Verdiforderte,
mehr Berufsgruppen als bisher zur
kritischen Infrastruktur zu zählen
und zu schützen –etwa auch im
HandelundindenBanken.
Italiens GesundheitsministerRo-
berto Speranza bedankte sich am
Donnerstag beiSpahn für die Liefe-
rung medizinischen Materials aus
Deutschland.Nachdpa-Informatio-
nenwarenamMittwochsiebenTon-
nenHilfsgütervonderitalienischen
Luftwaffe ausgeflogen worden, dar-
unterauchBeatmungsgeräte.Spahn
betonte,europäischePartner müss-
tengeradeunterDruckzusammen-
stehen.DieBundesregierunghatdie
wegender Coronakrisezunächster-
lassenenExportbeschränkungenfür
Schutzmaterial wieder aufgehoben.
(dpa, AFP)

Inzwischen haben allerdings
auch Entsorgungsunternehmen wie
MüllabfuhrenProblemebeimNach-

BegehrteWare: Chinesische Arbeiter in
Lanzhou verpacken Schutzmasken. DPA
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