P o litik
Berliner Zeitung·Nummer 68·Freitag, 20. März 2020 (^5) ·························································································································································································································································································
LangeStaus
anderGrenze
zuPolen
StrengeEinreisekontrollen
wegenSchengenaussetzung
VonUlrich Krökel,Warschau
B
ei Bautzen war erst einmal
Schluss.Wer am Donnerstag-
morgen über dieAutobahn 4und
den Grenzübergang Ludwigsdorf
Richtung Wroclaw (Breslau) nach
Polenausreisenwollte,standfast
KilometerimStau.„MenschlicheBe-
dürfnissewerden hier imStraßen-
graben erledigt“, twitterten leidge-
prüfte Autofahrer .Dabei hatte der
polnische Grenzschutz am Mitt-
woch mehrerezusätzliche Über-
gänge für denVerkehr freigegeben.
Doch dieEinreisekontrollenwegen
der Coronavirus-Epidemie nahmen
zuviel ZeitinAnspruch.Dazugehö-
reneineFiebermessungunddieAb-
gabeeinesKontaktdatenformulars.
„Den Vordruck haben sich leider
längstnichtalleReisendenwieemp-
fohlen vorher ausgedruckt“, klagten
polnischeGrenzschützer.DieRegie-
rung in Warschau hatte bereits am
Sonntag an derGrenzezuD eutsch-
land die Schengenregeln für freies
ReiseninderEUaußerKraftgesetzt
und stattdessen ein strenges Co-
rona-Kontrollregimeeingeführt.Be-
rufspendler und derWarenverkehr
solltenzwarebensowenigbehindert
werdenwieheimreisendepolnische
Staatsbürger.Aber der Andrang war
einfachzugroß.
Underw uchstäglich.AmMontag
hätten knapp 25000Menschen die
Oder-Neiße-Grenzemit dem Auto
überquert, berichtete die Zeitung
Rzeczpospolita. AmDienstag waren
es bereits 45000, am Mittwoch
- Am Donnerstagmorgen er-
höhtederpolnischeGrenzschutzdie
ZahlderKontrollpunkteundderein-
gesetzten Beamten noch einmal
deutlichundbegann,dieKontaktda-
tenformulareschon mehrereKilo-
metervorderGrenzeauszugeben.
Viele Lkw-Fahrer mussten trotz-
demdie NachtüberaufdenAutobah-
nen4,11,12und15ausharren.Mitar-
beiter desRoten Kreuzes und der
BundeswehrleistetenmitGetränken,
Essen undMedikamentenHilfe.Auf
der A12 vorder Oderbrücke bei
Frankfurt(Oder) staute sich derVer-
kehramDonnerstagrund70 Kilome-
ter bis zumDreieck Spreeau zurück.
In Schwedt,50KilometervorStettin,
ging ebenfalls nichts mehr.Das ge-
samte Straßennetz seivonLkw blo-
ckiert,berichtetenörtlicheMedien.
AberauchandenpolnischenOst-
grenzen sah es nicht besser aus.An
den Übergängen zu den EU-Nach-
barnTschechien, derSlowakei und
Litauen musstenAuto- und Lkw-
Fahrer bis zu 30Stundenwarten.
Hauptgrund für das enormeVer-
kehrsaufkommen,dasallenReise-
warnungenundVerbotenzuwider-
lief,seidiemassenhafteRückreise
vonpolnischenStaatsbürgern,aber
auchvonBalten,Ukrainern,Tsche-
chenundSlowaken,analysiertedie
Rzeczpospolita. Demnach wollten
Menschen,dieregulärinGroßbri-
tannien,denBeneluxstaaten,Frank-
reich oderDeutsc hland arbeiteten,
nun aberwegen der Corona-Epide-
mie freigestellt seien, dieZeit lieber
inder HeimatverbringenalsinWest-
europa.
A4 bei Bautzen: Lkw stauen sich bis zu ei-
ner Länge von 70 Kilometern. DPA
PolizeigehtgegenReichsbürgervor
BundesinnenministerSeehoferverbietetGruppierungen.RazziainBerlinundneunanderenBundesländern
VonPhilippe Debionne
I
neinerbundesweitkoordinier-
ten Aktion ist diePolizei unter
Führung desBundesinnenmi-
nisteriumsamDonnerstagge-
gensogenannteReichsbürgervorg e-
gangen. In den Morgenstunden
durchsuchten Hunderte Einsatz-
kräfte dieWohnungenvon21f üh-
rendenMitgliederndesVereins„Ge-
eintedeutscheVölkerundStämme“
und seinerTeilorganisation „Osna-
brückerLandmark“inzehnBundes-
ländern.Beide Gruppen waren zu-
vorvonBundesinnenministerHorst
Seehofer(CSU)verbotenworden.Im
FokusstehtauchBerlin.EineDurch-
suchung fand im brandenburgi-
schenKreisOberhavelstatt.
EinSchwerpunkt der Aktionen
richtetesichgegeneineKleingruppe
„Geeinte deutsche Völker und
Stämme“ um die Reichsbürgerin
HeikeW. SoversuchtedieGruppein
der Vergangenheit, dasRathaus im
BezirkZehlendorfzu„überneh-
men“. Nach Angaben der Polizei
setzten sich dieMitglieder zudem
mit Vehemenz undDrohungen für
eine vorzeitige Haftentlassung des
wegen Volksverhetzungverurt eilten
todkranken Holocaust-Leugners
HorstMahlerein.
RassismusundAntisemitismus
HeikeW.,diedasbekanntesteGesicht
der Gruppe ist,verbreitet ihreTheo-
rien unter anderem auf derWebsite
der Gruppe und aufYouTube .Darin
spricht sie derBundesrepublik das
Existenzrecht alsStaat ab und be-
zeichnet sie alsFirma, derenBehör-
den keinerlei hoheitlicheAufgaben
durchführendürften.HeikeW. beruft
sich auf „die germanischenErstbe-
siedlungsrechte“.IhreAnhängerani-
miertsie,ihrePersonalausweise zu-
rückzugebenundsich„lebendzuer-
klären“.Zudem hatte sieKanzlerin
AngelaMerkel(CDU)perUltimatum
aufgefordert, zurückzutreten und
Wahlenabzuschaffen.
„Rechtsextremismus,Rassismus
undAntisemitismuswerdenauchin
Krisenzeiten unerbittlich be-
kämpft“, schriebSteveAlter,Spre-
cherdesBundesinnenministeriums,
auf Twitter.Die Mitglieder „bringen
durch Rassismus,Antisemitismus
und Geschichtsrevisionismus ihre
IntoleranzgegenüberderDemokra-
tie deutlich zumAusdruck“, hieß es
imMinisterium.Indenvergangenen
Jahren seien Reichsbürger auch
durch „verbalaggressiveSchreiben“
aufgefallen.Darinsei den Adressa-
ten„Inhaftierung“und„Sippenhaft“
angedrohtworden.
Sogenannte Reichsbürger und
Selbstverwalter zweifeln die Legiti-
mitätderBundesrepublikan.Einige
dieser Gruppierungen berufen sich
auf ein selbst definiertes „Natur-
recht“, andereauf das historische
Deutsche Reich. Nicht alleReichs-
bürgergeltenalsrechtsextrem.Beim
Verfassungsschutz heißt es dazu:
„Der AnteilvonRechtsextremisten
ist gering, ein kleinerTeil jedoch
zeigtsichoffenrechtsextremistisch“.
Insbesonderebei diesenReichs-
bürger nseien„mitunter antisemiti-
sche Ideologieelemente und Argu-
mentationsmuster zu beobachten.
Geradeim ZusammenhangmitVer-
schwörungstheorien –vor allem
wenn es um angebliche Hinter-
gründederetabliertenPolitikgeht–,
agitierenReichsbürgermitunter of-
fen antisemitisch. DieBandbreite
reicht vonSchuldzuweisungen ein-
zelner,die „die Juden“ für ihreAr-
beitslosigkeit verantwortlich ma-
chen,überoffenantisemitischeVer-
schwörungstheorien, wonach bei-
spielsweise derErste Weltkrieg von
„denJuden“geplantwordensei,bis
hin zur Leugnung des Holocaust,
heißt es beim Verfassungsschutz
weiter.Ini hrer Gesamtheit sei die
Szene derReichsbürger„als staats-
feindlicheinzustufen“.
Bereitsim SeptemberhattenPoli-
zeibeamte in drei Ländernvier
Durchsuchungsbeschlüsse gegen
Mitglieder der Gruppe vollstreckt.
Nunwurden Wohnungen und Ob-
jektein Berlin,Brandenburg,Baden-
Württemberg,Bayern,Niedersach-
sen, Nordrhein-Westfalen, Rhein-
land-Pfalz, Schleswig-Holstein,
SachsenundThüringendurchsucht.
„FeindederDemokratie“
Zu der Durchsuchung inBranden-
burgsagte Innenminister Michael
Stübgen(CDU):„AuchinZeitender
Corona-KrisegibteskeinPardonfür
Rechtsextremisten.“DieFeinde der
Demokratie hätten keinenPlatz in
unserer Gesellschaft.DasVerbotdes
Reichsbürgervereinsseikonsequent
und richtig.„Mit ihren hetzerischen
Schriften und ihrenverbalen Dro-
hungen gegenüber Amtsinhabern
und derenFamilien haben dieVer-
einsmitglieder ihreverfassungs-
feindlicheHaltungmehralsdeutlich
gemacht“,sagteer.
Innenminister Horst Seehofer
(CSU)hatteimVorjahrmehrereVer-
botsverfügungenangekündigt.Ende
Januar hatte er dann zunächst die
rechtsextr eme Gruppe„Combat 18“
verboten.DerNameder Vereinigung
gilt als Codewortfür „Kampftruppe
AdolfHitler“.Mehrer emutma ßliche
Mitglieder derGruppe haben gegen
dasVerbotKlageeingereicht.
Einsatzkräfte derPolizei bei den Durchsuchungsmaßnahmen am Donnerstag in Berlin. DPA/PAUL ZINKEN
REICHSBÜRGER
Bewegung:Reichsbürger
zweifeln die Legitimität der
Bundesrepublik Deutsch-
land an. Einigeder Gruppie-
rungen berufen sich auf ein
selbst definiertes Natur-
recht, andere auf das histori-
sche Deutsche Reich.
Mitglieder:Bundesweit soll
es lautVerfassungsschutz
etwa 19000 Leute in dieser
Szenegeben, die als waffen-
affin gelten. In derVergan-
genheit kam es zu zumTeil
tödlichenAuseinanderset-
zungen mit derPolizei.
Leugnung:Der Holocaust
wird voneinem Teil der
Reichsbürger offengeleug-
net. Zudem soll der Erste
Weltkrieg nach ihrer Über-
zeugung die Folgeeiner welt-
weiten jüdischenVerschwö-
rung gewe sen sein.
Philippe Debionne
beobachtet die Reichsbür-
ger-Szene mit Sorge.
InfektionsgefahringriechischenFlüchtlingslagern
AngesichtsderunhaltbarenhygienischenZuständefordernHilfsorganisationendieEvakuierung
VonGerd Höhler
F
achleute warnen seitTagen: In
den überfüllten Flüchtlingsla-
gernauf den griechischen Ägäisin-
seln droht eine unkontrollierbare
Coronavirus-Epidemie.Jetzthandelt
dieRegierung.AberobdieMaßnah-
mengreifen,istfraglich.
GeschlosseneSchulen,Geschäfte
und Restaurants:Mitimmer neuen
Maßnahmenkämpftdiegriechische
RegierunggegendieAusbreitungdes
Coronavirus .Den überfülltenMi-
grantenlagernaber widmeten die
Behörden bisher wenig Aufmerk-
samkeit.Dabei ist dortdie Anste-
ckungsgefahrbesondersgroß.
Am Dienstag gab das griechische
Ministerium fürMigration und Asyl
einen Maßnahmenkatalog bekannt,
mit dem die drohendeGefahr ge-
banntwerdensoll. DerZwölf-Punkte-
Plan umfasstBesuchsverbote in den
CampsfürdiekommendenzweiWo-
chen. BeiNeuankömmlingen wird
dieTemperaturgemessen.Mitmehr-
sprachigenFlugblätternwerden die
Lagerbewohner informiert, wie sie
die Ansteckungsgefahr reduzieren
können.
Sinnfreie Maßnahmen
Sportveranstaltungen und Schulun-
terrichtindenCampswerdeneinge-
stellt. Diesanitären Einrichtungen
undGemeinschaftsräumeindenLa-
gernsollen regelmäßig desinfiziert
werden.EinigeMaßnahmendesam
Dienstag veröffentlichtenKatalogs
lichen Lebensbedingungen in den
überfülltenHotspo ts auf denInseln
sind ein idealer Nährboden fürCo-
vid-19“, heißtesindemAufruf. Hilde
Vochten, medizinischeKoordinato-
rinvonMSFinGriechenland,berich-
tet: „Fünf- oder sechsköpfigeFami-
lienmüsstenaufdreiQuadratmetern
Flächeschlafen.Fürsieistesschlicht
unmöglich, die empfohlenenMaß-
nahmen zu befolgen, wie sichregel-
mäßig die Hände zu waschen und
Distanzzuanderenzuhalten.“
Vochtenfürchtet,eswäreunmög-
lich, einenAusbruch in einem der
Lagereinzudämmen:„Bisherhaben
wir noch keinenNotfallplan zuGe-
sicht bekommen, mit dem sich die
Menschen, die dortleben müssen,
schützenundbehandelnließen.“
klingen angesichts derZustände in
den Lagerngerad ezugrotesk.So
wirdden Bewohnernempfohlen,
Abstandvoneinanderzuhaltenund
Menschenansammlungen zu mei-
den –wie soll dasinder Praxis ge-
hen? DasLager Vathyauf Samos
wurd efür648 Bewohnergebaut,be-
herbergt aber aktuell7463 Men-
schen. Im größten griechischenIn-
sellager,dem berüchtigt en Camp
MoriaaufLesbos,haltensich
Bewohner auf.Ausgelegt ist es für
2840Personen.
Fachleutewarnenvor„unkontrol-
lierbarenZuständen“,wennsichdas
Virusind en Lagern ausb reitet. Die
Hilfsorganisation Ärzteohne Gren-
zen(MSF)forderteinesofortigeEva-
kuierungderInsell ager.„Dieentsetz-
Zeichender
Entspannung
inChina
Offenbarkeinelokalen
Corona-Neuinfektionen
Z
um erstenMalseit demAus-
bruch des neuartigenCoronavi-
rushatChinalandesweitkeineloka-
len Neuinfektionen mehr gemeldet.
Stimmen diese Angaben, wäredas
eingroßerErfolg,derdaraufhindeu-
ten könnte,dass die strengenAb-
schottungsmaßnahmen in der
Volksrepublikfunktionierthaben.
Inwieweit die offizielleStatistik
die wahreLage widerspiegelt und
wie hoch dieDunkelziffer ist, ist je-
doch unklar.Soh atte China mehr-
fach mit Änderungen bei der Zähl-
weiseder InfektionenfürVerwirrung
beiinternationalenBeobachternge-
sorgt. EinEpidemiologe,der die
Plausibilität der chinesischen Anga-
beneinschätzenkann,warzunächst
nichtzuerreichen.
DieGlaubwürdigkeit derBehör-
denhatteauchdurchmassiveVertu-
schungsversuche gelitten. Für lan-
desweite Bestürzung und Anteil-
nahmehattesoderToddesArztesLi
Wenliang gesorgt, der frühvordem
Ausbruch einer neuartigenLungen-
krankheitgewarnthatte,aberlaut Be-
richtengezwungenwurde,diese„Ge-
rüchte“nichtweiterzuverbreiten.Der
34-Jährigestarb,weilerselbstanCo-
vid-19erkrankte.Zudemhattedasre-
nommierte chinesischeWirtschafts-
magazinCaixin berichtet, dassPro-
ben desVirusbereits imDeze mber
gezielt vernichtet worden seien. Ob-
wohlanfangsalsowertvolleZeitver-
lorenging,lobenWissenschaftlerdie
spätergetroffenenMaßnahmen.
AngstvorVirusimport
Chinas Führung hatteEnde Januar
damit begonnen, etwa 60Millionen
Menschen in der besonders schwer
betroffenProvinzHubeifaktischun-
ter Zwangsquarantäne zu stellen.In
der MillionenmetropoleWuhan, wo
das Virusursprünglich ausgebro-
chen war,dürfen die meistenMen-
schenschonseitWochennichtmehr
auf dieStraße.Auch imRest des
LandeswurdedasöffentlicheLeben
starkeingeschränkt.
Auch wenn es laut den offiziellen
Angaben keine lokalenNeuinfektio-
nen mehr geben soll, stieg dieZahl
der Infizierten, die aus demAusland
zurück in dieVolksrepublik kamen –
wasÄngstevoreinermöglichenzwei-
tenAusbreitungswelleschürt.Wiedie
Pekinger Gesundheitskommission
am Donnerstag mitteilte,wurden 34
neue„importiereFälle“registriert.
Chinas Präsident XiJinping hatte
amMittwochdavorgewarnt,dassdie
Viruskontrolleunddiewirtschaftliche
EntwicklungvordemHintergrunddes
sich verschärfenden globalen Aus-
bruchs weiterhin eine „Herausforde-
rung“bleibe.BeieinerSitzungdesPo-
litbürosfordertederStaatschefdie
Menschendazuauf,wachsamzublei-
benund„unermüdlicheAnstrengun-
gen“beiderPräventionundBekämp-
fungderEpidemiezuunternehmen.
Chinabeklagttäglichnochimmer
neueTodesfälle.AmDonnerstagka-
men achtTote hinzu, womit dieGe-
samtzahl derOpfer auf 3245 Fälle
stieg.Insgesamtwurdenaufdemchi-
nesischenFestland 80 928Infizierte
registriert,vondenen sich mehr als
66000wiedererholthaben. (dpa)
Ein Selfie mit Mundschutz und blühendem
Baum inPeking AP