Berliner Zeitung - 20.03.2020

(Darren Dugan) #1

S p ort


Berliner Zeitung·Nummer 68·Freitag, 20. März 2020 9 * ·························································································································································································································································································

DasSuper-Auge


Die Geschichte(n)macher


DerSportistkeinPerpetuummobile,


dassichausSelbstzweckdreht.EinViruslehrtuns


das.NehmenwirunsalsodieZeit:FürGeschichten,


dieofthinterdemOffensichtlichenzurückstehen.


Serie,Teil4: TimoBoll


E


sgibt ein kleinesGeheim-
nis,das Timo Boll einst
selbstlüftete.Esg ehtdabei
umdie Reaktionsschnellig-
keit, um das sogenannte „dynami-
scheSehen“,dasdenmittlerweile
JahrealtensiebenmaligenTischten-
nis-Europameister im Einzel aus-
zeichnet und eine derUrsachen für
seinen unglaublich lang anhalten-
den Erfolg ausmacht.BeiTests,in
denen „dynamischesSehen“, also
dieFähigkeit,einensichschnellbe-
wegenden Gegenstand mit denAu-
gen zu verfolgen, gemessen wurde,
lag Boll bei 180Proz ent und mehr
überdemdurchschnittlichenWert.
Boll erklärte,dass er imSpiel
beimAufschlagdesGegnersdenFir-
menstempelaufdemkleinenBallfi-
xiere, um dessen Rotation einzu-
schätzenundzukalkulieren,inwel-
chem Winkel er abspringen wird,
wennerimSpielfeldankommt.Boll
sagte auch: „Die Bälle kommen
manchmal mitrund 140 km/h oder
auch noch schneller an.Undwenn
du bei diesen Geschwindigkeiten
nichtweißt,wohinderBallindeiner
Hälfte geht, dann fliegt er dir sofort
umdie Ohren.ImSpitzen-Tischten-
nis hast du keineZeit zu reagieren,
dumusstallesautomatischmachen.
Unddasmöglichstrichtig.“Experten
haben errechnet, dassBoll und den
anderen nur 22Hundertstelsekun-
denbleiben,umzureagieren.Nicht
umsonst wirdTischtennis als das
schnellste Rückschlagspiel derWelt
bezeichnet.
Boll,deralsvierJahrealterJunge
im Keller seinesElternhauses zum
erstenMaland erTischtennis-Platte
standundvomVatertrainiertwurde,
ist ein Naturtalent, das seine un-
glaublichen Fähigkeiten immer
mehr verfeinertund ausgebaut hat.
UnddasbiszumheutigenTag.

Unter den bestenzehn derWelt
Im Moment steht derverheiratete
Familienvater auf Platz zehn der
Weltrangliste des Weltverbands
(ITTF). Lediglich fünf Chinesen, ein
Japaner,ein Brasilianer,ein Taiwa-
neseundeinSchwederangieren vor
Boll.DieseWeltranglisteistimTisch-
tennis so etwas wie dasNonplusul-
tra, einePlatzierung unter denTop
10odernochweitervornistfürman-
chenProfiwertvolleralsderGewinn
einer Medaille bei einer Europa-
oder Weltmeisterschaft. DieWelt-
ranglistezeigtdie SpielstärkederAk-
tivenan,diesichausdenResultaten
beioffiziellenWettbewerbenerrech-
net.DabeigehtesumsPrestigeund
um materielle Dinge.Sponsoren
können mitTop-Athleten besser ar-
beiten und honorieren ihreStars
auchüppiger,wenndieseinderHit-
liste weit vornstehen.Werdortein-
mal ganz oben stand, ist imOlymp
diesesSportsangekommenundbe-
sitztdenhöchstenMarktwert.

Bollkannman–wennmandiese
Weltrangliste alsMaßstab nimmt –
ohne Übertreibung alsPhänomen
bezeichnen.DasersteMalerklomm
er als 21-Jähriger denGipfel und
hatteimJanuar2003sämtlicheChi-
nesen, die seit vielenJahren das in-
ternationale Tischtennis beherr-
schen, hinter sich gelassen.Er stieg
zum ersten deutschenSpieler auf,
der auf Platz eins thronte.
wurde Eberhar dSchöler WM-Zwei-
terundschaffteesimmerhinbisauf
Rang zwei.UndimA ugust 1992
drang JörgRoßkopf, 50, der heutige
Bundestrainer,bisauf Platzvier vor.
Roßkopf steht schon vieleJahrean
derSeitevonBoll.
Bollließsich2003biszumMonat
MainichtvonderSpitzeverdrängen,
kamsogarimAugustundSeptember

des gleichenJahres noch mal auf
Rang eins .Dann dauerte es bisJa-
nuar2011,eheererneutindiePha-
lanx der nur schwer zu bezwingen-
den chinesischenSpieler eindrang
und zweiMonate dieKonkurrenz
vonganz oben grüßte.Und noch
einmal sorgte der Linkshänder für
FuroreundungläubigesStaunen,als
erim Februar2018dieWeltrangliste
erneut anführte.Erw ar zu diesem
Zeitpunkt 36Jahreund 356 Tage alt
und damit der ältesteSpieler,der
bislang im so wichtigen Ranking
ganzvornstand.Erlöstedenschwe-
dischen Olympiasieger Jan-Ove
Waldner als „weltbesterOldie“ ab.
Damalshatteerausgerechnetseinen
Freund, Konkurrenten und Natio-
nalmannschaftskameradenDimitrij
Ovtcharov,derzuvorzumerstenMal
im „siebten“ Tischtennis-Himmel

lebte,abgelöst. Derkraftvolle Athlet
hattezuvordenchinesischenOlym-
piasiegerMa Long verdrängt. Die
Chinesenbelegtenseinerzeit81 Mo-
natelangdenerstenRangmitunter-
schiedlichenSpitzenspielern.
TimoBollkritisiertaberauchdas
System derWeltrangliste,das 2018
verändertwordenwar.„Dasbegüns-
tigtVielspieler,diebeibeinaheallen
wichtigeninternationalenTurnieren
antreten.DasSystemgönntdirkeine
Pause und nimmt aufVerletzungen
keine Rücksicht.“Wersich verletzt
oder krank wird, kann sehr schnell
vielePlätzeind erRanglisteverlieren.
DieTerminhatz im internationalen
Tischtennis-Geschehen ist riesen-
groß.
FriedhardTeuffel, Direktor des
Landessport-Bundes Berlin (LSB),

Ball und Gegner genau im Blick:Timo Boll. IMAGO IMAGES/ERIC DUBOST

VonMichaelJahn

„SeinementaleStärke ,seingroßestaktisches


Geschick und seineKonzentrationsfähigkeit


sind enormund damit kann er auch die


Vorteile der Chinesen oft ausgleichen.“


Jörg Roßkopfals Bundestrainer und ehemaliger Mitspieler überTimo Boll.

hat Boll einst aufWettkampfreisen
nach China begleitet und istAutor
des Buches über denSpitzenspieler
mit demTitel „Mein China–Eine
Reise ins Wunderland desTischten-
nis“. Gerade in China giltBoll als
Held und wirdverehrt. Dortgehört
er zu den bekanntesten und belieb-
testenSportler nausDeutschland.
AlsGastspielteerauchoftinder
chinesischenSuper-Liga,versuchte,
die Geheimnisse derBesten zu ent-
schlüsseln und holte sich Wett-
kampfhärte.Boll sagte mal: „In
ChinaherrschteinebrutaleKonkur-
renz. Dutzende Leute gehören zur
absolutenWeltspitze. Diekönnen
sich bei großenTitelkämpfen kaum
Niederlagen leisten,weil das ganze
LandvonihnenSiegeerwartet.“
Teuffel lobt: „Timo hat inzwi-
schengegenGenerationenvonChi-

nesengespielt,vehementgekämpft,
verlorenundabundanauchgewon-
nen. Daswaren ganz unterschiedli-
che Spielertypen, mit unterschiedli-
cher Taktik und meist unglaublich
hoher Athletik.Timo hat sein hohes
Niveauimmergehalten.“
Bollselbstsagt,dassernebensei-
nerReaktionsschnelligkeitvorallem
auch diePsyche,die Gedanken sei-
nerGegnergut„lesen“kann.„Dasist
einemeinergroßenStärken,zuspü-
ren, was der Gegner denkt und
plant.“Bollselbstgehtniemiteinem
festenPlanineinSpiel.Erbeobach-
tet den Gegner,analysiertdessen
Schwächen undzeigt seine eigenen
Stärken.
Bundestrainer Roßkopf erklärt:
„Seine mentaleStärke ,sein großes
taktischesGeschick und seineKon-
zentrationsfähigkeitsindenormund
damit kann er auch dieVorteile der
Chinesenoftausgleichen.“Nichtzu
verg essen ist auch der unbändige
SiegeswillevonBoll,deroftSpielein
aussichtsloserscheinendenSituatio-
nennochherumriss.
Fünfmal starteteBoll, ein intro-
vertierter ,aber stets freundlicher
Typ, auch beiOlympischenSpielen,
gewann zweimalBronzemit dem
deutschenTeam. 2016 in Rio deJa-
neirohatte er die große Ehre, die
deutscheFahne bei derEröffnungs-
zeremonietragenzudürfen.
Auch für Tokio 2020 ist er bereits
qualifiziert–mit dem deutschen
Team und auch für denEinzelwett-
bewerb .Bei den European Games
2019in MinskhattesichBolldas Ti-
cket fürTokio gesichert.Im Finale
bezwang er den Dänen Jonathan
Groth.ObdieSpieleaberwegendes
Coronavirus tatsächlich stattfinden
werden, steht imMoment noch in
denSternenundscheintimmerun-
wahrscheinlichzuwerden.
Boll, der bodenständigeTypaus
dem Örtchen Höchst imOdenwald,
9000 Einwohner,ist nichtvonVer-
letzungen verschont geblieben.
Knie,Rücken,Schulteroderauchder
extrem belastete Schlagarmmach-
tenihmzuschaffen,aucheinigeIn-
fekte.Aber er kam stets zurück.„Es
gab auchMomente,ind enen ich
dachte: vielleicht reicht es nicht
mehr,umd ieGroßender Branchezu
schlagen.“Nochaber ,sagtBoll,seier
nichtbereit,sichintensivmitseinem
Karriereende zu beschäftigen.Ihm
machederGedankesogareinwenig
Angst. Vielleicht nimmt er sich den
Schweden JörgenPersson, 53, aus
Halmstad zumVorbild. DerEinzel-
Weltmeistervon1991gingnochein-
mal bei denOlympischenSpielen
2008in PekingandenStartundlan-
deteimAltervon42J ahrenaufRang
vier.Beide Frontmänner dieses
Sportsschätzensichsehr.

Teil 5:Megan Rapinoe schießtTore und erhebt
ihre Stimme.

„Wirkönnen


fürandere


verzichten“


HandballprofiAndySchmid
fordertSolidaritätein

D


er SchweizerHandballer Andy
Schmid vonBundesligist
Rhein-Neckar Löwen ist in häusli-
cher Quarantäne–und erwägt, auf
TeileseinesGehalteszuverzichten.


Herr Schmid, wie könnenSpieler in
derCorona-Krisehelfen?

SolidaritätfängtbeijedemEinzel-
nen an. Undfür mich bedeutet das
angesichts der schwierigen finanzi-
ellenLage,ind erdie Handball-Bun-
desliga-Klubs stecken, dass ich be-
reit bin, auf einenTeil meinesGe-
halts zuverzichten, wenn dafür an-
dereMitarbeiter der Rhein-Neckar
LöwenihrenLohnerhaltenkönnen.
IchundvieleandereHandballerbe-
finden uns in der Lage,Verzicht für
andereübenzukönnen.


IhreLöwenüberlegen,obsiefürSpie-
lerKurzarbeitergeldbeantragen?

EinKlub wie wir sollte die Lage
andersmeistern.Zudemwerdenan-
derekleinereUnternehmen diese
Hilfe dringender nötig haben. In
Deutschland brauchen vielleicht 20
Millionen MenschenKurzarbeiter-
geld.Ichweißnicht,obichderErste
seinsollte,dersoetwasinAnspruch
nimmt. Ichfände das nicht gerecht.
Gleichwohlweiß ich, dass es in der
Handball-Bundesliga Klubs gibt, für
die Kurzarbeitergeld notwendig ist.
EsgehtbeisolidarischemHandelnja
darum, dass jetzt wirklich dieMen-
schen undUnternehmenHilfe er-
halten können, die es dringend be-
nötigen.Ichpersönlich bin nicht in
dieserSituation.Deshalbbinichbe-
reit, innerhalb meiner Möglichkei-
tenentsprechendzuhelfen.


Weildie Lageaußergewöhnlichist?
Wirhaben dieSituation alle un-
terschätzt.Auch mir ging das so.
Mansieht bei den Löwen jetzt ge-
rade,wie schnell sich dasVirusver-
breitet. Deshalbstehenwiralleinder
Verantwortung, dieAusbreitung zu
verlangsamen.


DieLöwen haben positiveCorona-
Fälle. Kann ein Profi-Sportler in
häuslicherQuarantänefitbleiben?

Nunja, eine gewisseZeit, viel-
leichtzwei,dreiWochenlässtsichso
überbrücken.IcharbeitemitKettle-
bells,springe Seil, mache Liege-
stütze.Aberich weißgarnicht,wiees
danach weitergehen soll. Unsere
Trainingshalle ist mindestens bis
zum19. Aprilgesperrt. Sollenwiruns
deshalb irgendwann auf derWiese
treffen und trainieren, wenn die
Quarantänevorüber ist?Naja, ich
denke,dass wir dsich ohnehinvon
alleineerledigen.


WiemeinenSiedas?
Ichkann mir nicht vorstellen,
dass die Saison beendet werden
kann.DafehltmirdieVorstellungs-
kraft. Dieeingeschränkten Trai-
ningsmöglichkeiten,diealleMann-
schaftenbetreffen,habeichschon
genannt.Ichglaube nicht, dass wir
EndeAprilsov ielNormalitätzurück-
erlangthaben,sodasswirHandball
spielenkönnen.


DasGesprächführte:MichaelWilkening


Trainiertderzeit in Quarantäne: Andy
Schmid von den Rhein-Neckar Löwen.DPA


NACHRICHTEN


Union-Keeper Gikiewicz
verzichtet auf Gehalt

FUSSBALL.Nachdem Bundesligis-
tenBorussiaMönchengladbachwill
auchTorwartRafaelGikiewicz,32,
vom1.FCUnionBerlinaufeinenTeil
seinesGehaltsverzichten.„Dasin
derWeltherrschendeCoronavirus
betrifftunsalle.Wirsindgezwungen,
zuhandeln.DieseZeitisteinePrü-
fungfürunsalle,eineZeitderPrü-
fungfürdieganzeWeltundeineZeit
desgemeinsamenHandelns,umd ie
durchdiesePandemieverursachten
Verlustezuminimieren“,schriebder
PoleinsozialenNetzwerken.Des-
halbwolleereinenTeilseiner Ein-
nahmenaufgeben,„ummeinem
Vereinzuhelfen,dieseschwereZeit
zuüberstehen“.Unterdessenbe-
ginntder1.FCUniondochnichtwie
geplantandiesemFreitagmitdem
Mannschaftstraining.„Biszum31.
MärzmachenwirjetzterstmalIndi-
vidualtraining.DieSpielerbleiben
zuHause,bekommenindividuelle
Pläne“,sagteGeschäftsführerOliver
RuhnertamD onnerstag.

DOSB will in Kienbaumkein
Quarantäne-Trainingslager

SPORTPOLITIK.DerDeutsche
OlympischeSportbundhatsichge-
genein„Quarantäne-Trainingsla-
ger“im Bundesleistungszentrumin
Kienbaumentschieden.Wieder
DOSBamDonnerstagmitteilte,sei
eineUmsetzungaktuellnichtzuver-
antworten.EineAnsteckungsgefahr
seinichtmitabsoluterSicherheit
auszuschließen,sagteDOSB-Präsi-
dentAlfonsHörmann.

Englische Premier League
dehnt Saison unbegrenzt aus

FUSSBALL.
Mehralseine
MilliardeEuro
stehtaufdem
Spiel,diePre-
mierLeagueals
reichsteFußball-
LigaderWeltmit
demdesignier-
tenMeisterFC
Liverpoolander
SpitzedehntdieSaisondaher„un-
begrenzt“aus.JürgenKloppsReds
dürfensoaufeineKrönungimSom-
merhoffen.DieSpielzeitsollunter
allenUmständenzuEndegebracht
werden,„indefinitely“,alsoegal,wie
langeesdauernmöge,verkündete
dieLiga.IneinemerstenSchritt
wurdedieaktuelle,zunächstbis
3.AprilangesetzteZwangspausebis
mindestens30.Aprilverlängert.

Jovic verstieß offenbar
gegen Quarantäne-Regeln

FUSSBALL.WeilderfrühereFrank-
furterProfiLukaJovic,22,gegen
Quarantäne-Regelnverstoßenha-
bensoll,drohtdemStürmervonReal
MadrideineStrafanzeige.Serbiens
staatlicheNachrichtenagenturTan-
jugberichteteunterBerufungaufdie
Staatsanwaltschaftvonentspre-
chendenErmittlungen.Jovichabe
nachseinerEinreisenachSerbien
stattzweiWochenzu Hausezublei-
benseineWohnungmindestensein-
malverlassenunddiesmiteinem
Gangzur Apothekebegründet.Bou-
levardblätterwarfenJovicvor,inBel-
gradfeierngegangenzusein.

Formel 1verschiebtweitere
Rennen, Monaco sagt ab

MOTORSPORT.DerCoronavirus
wirbeltdenFormel-1-Kalenderwei-
terdurcheinander.Nunwerden
auchdieRennenindenNiederlan-
den(3. Mai)und Spanien(10.Mai)
verschoben.Monaco(24.Mai)sagte
gleichganzab.Wegendesgroßen
AufwandsseieineVerschiebungauf
einenspäterenZeitpunktdesJahres
„unterkeinenUmständenmöglich“,
teiltendieVeranstaltermit.

Darfwarten:
Jürgen Klopp.

DPA/MARTIN RICKETT
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