Der Standard - 20.03.2020

(Ann) #1

8 |FREITAG, 20 .MÄRZ 2020 International DERSTANDARD


EinstsorgteJoeBiden als Bademeister in einem Schwarzenviertel für Ordnung. Nun soll er–geht es nach
seinen ehemaligen Badegästen–als Präsidentdie heillos zerstritteneNationversöhnen.

A


uf dem Basketballfeld üben junge
Männer das Dribbeln mit dem Ball.
Zwei Teenager knattern auf Moto-
cross-Maschinen über die Hügel des Parks.
In der Mitte, in einer Senke, ein Schwimm-
bad, die Wiesen begrenzt von einem schä-
bigen Maschendrahtzaun. Der Brown-Bur-
ton Winchester Park ist nicht der schlech-
teste Ort für einen Anfang, wenn man ver-
suchenwill,demPhänomen„JoeBidenund
die Afroamerikaner“ nachzugehen.
An dem Schwimmbecken, mitten in
einem Schwarzenviertel, hat Joe Biden
einst als Junior-Bademeister gearbeitet. Er
hat sich erst Achtung erworben und dann
Freunde gefunden, Gleichaltrige mit Spitz-
namen wie „Mouse“, „Marty“ und „Corn
Pop“. Einer von ihnen, Richard „Mouse“
Smith, hat neulich erzählt, warum sich der
19-jährige Biden für den Sommerjob be-
warb und was ihn von anderen weißen
Teenagern seiner Zeit unterschied. „Die
meisten wollten damals gar nicht wissen,
was wir zu sagen hatten. Aber Joe, der woll-
te alles über uns wissen.“ Später wurde
Smith Präsident der NAACP, einer der äl-
testen US-Bürgerrechtsorganisationen, im
Bundesstaat Delaware. Und als das kleine
Bad im Brown-Burton Winchester Park
2017 nach Biden benannt wurde–ein we-
nig dick aufgetragen heißt es heute „Joseph
R. Biden Jr. Aquatic Center“ –, hielt er die
Laudatio auf den alten Freund. Der wiede-
rum schrieb in seinen Memoiren, er habe
den Job in einer afroamerikanischen Wohn-
gegend gewollt, weil ihm die Bilder aus den
Südstaaten, Bilder knüppelnder Polizisten
im Einsatz gegen schwarze Bürgerrechtler,
unter die Haut gingen. Und weil er Schwar-
ze bis dahin praktisch nicht kannte und so
gut wie keine Kontakte zu ihnen hatte.
Wilmington ist die größte Stadt von De-
laware. Biden hat den kleinen Bundesstaat
36 Jahre lang im US-Senat vertreten. Am
Anfang stand eine furchtbare Tragödie. Er
war30,geradegewählt,alsdasAutomitsei-
ner Frau Neilia am Lenkrad mit einem Sat-
telschlepper zusammenprallte. Neilia und
dieeinjährigeTochterNaomibezahltenden
Unfall mit ihrem Leben. Die Söhne Hunter
und Beau, zwei und drei Jahre, lagen wo-
chenlang im Krankenhaus. Biden spielte,
wie er später offenbarte, mit Selbstmordge-
danken. Seinen Senatssitz wollte er aufge-
ben, worauf ihm ältere Kollegen zuredeten,
es doch wenigstens für sechs Monate zu
versuchen. Um abends bei seinen Söhnen
zu sein, pendelte er fortan täglich zwischen
Wilmington und Washington, sodass es ir-
gendwann hieß, er sei der treueste Zugpas-
sagier der Republik.


Bodenständig und leutselig


Wilmington also hat Bidens Ruf begrün-
det, den Ruf eines bodenständigen Politi-
kers, der gern die Nähe anderer Menschen
sucht, gerade auch solcher, die es im Leben
nicht leicht hatten. Zwar ist es die amerika-
nische Hochburg von Briefkastenfirmen,
denen der Staat Delaware großzügige
Steuervorteile gewährt, doch jenseits des
gepflegten Finanzviertels ist Wilmington
eine arme Stadt. Rund sechzig Prozent der
Bewohner haben dunkle Haut, die meisten
leben in bescheidenen Reihenhäusern, wie
sie den Brown-Burton Winchester Park säu-
men. Eine Fahrt nach Wilmington soll hel-
fen, das Phänomen Joe Biden zu verstehen.
Es sind nämlich hauptsächlich schwarze
Wähler, denen Biden sein Comeback bei
den Vorwahlen der demokratischen Präsi-
dentschaftskandidaten zu verdanken hat.


In South Carolina, wo die Parteibasis der
Demokraten mehrheitlich aus Afroameri-
kanern besteht, gelang ihm nach den
Schlappen des Beginns die Wende. Danach
ging es Schlag auf Schlag, und überall dort,
wo Afroamerikaner stark vertreten waren,
verwies er seinen Rivalen Bernie Sanders
besonders klar in die Schranken. Jetzt ist er
de facto am Ziel, nur noch theoretisch kann
Sanders ihn noch einholen im Rennen um
die Delegiertenstimmen. Schwarze Wähler,
das ist die Quintessenz, haben Biden erst
vor dem Absturz gerettet und ihn dann auf
den Kandidaten-Thron gehoben.
Edward Harrison will die Gründe dafür
nennen. Man übertreibt höchstens ein biss-
chen,wennmanihndieguteSeelevonNew
Castle nennt, einem tristen Vorort südlich
von Wilmington. Harrison, 55 Jahre alt, ist
vieles in einer Person: Sozialarbeiter, Kaf-
feehausbetreiber und Friseur. Er versucht
zu verhindern, dass Heranwachsende auf
die schiefe Bahn geraten. Er schreibt prak-
tische Essays über den richtigen Umgang
mit knappem Geld. Sein Pryme Styles Bar-
bershop&Café ist so etwas wie die soziale
Drehscheibe im tristen New Castle.
Am dritten Samstag im März, zwei Tage
bevor die Alarmstimmung auch die USA er-
reicht und sich die meisten aus Angst vor
dem Coronavirus freiwillig in Quarantäne
begeben, herrscht dort Hochbetrieb. Man
kommt nicht nur zum Haareschneiden zu
Harrison, sondern auch, um in gemütlicher
Runde zu reden. Jeder hier hat eine Mei-
nung zu Biden, fast jeder hat ihm irgend-
wann schon mal die Hand geschüttelt, und
keiner macht sich Illusionen. Dass der alte
Mann, der sich beim Reden so häufig ver-
haspelt, kein idealer Kandidat ist, will nie-
mand bestreiten. „Aber schlechter als jetzt
kann es nicht werden“, sagt Edward Harri-
son jun., der Sohn des Besitzers.

Erinnerungen an 2008
Harrison sen. hat sich Zeit genommen, er
will es gründlich erklären, das Phänomen.
Biden, beginnt er, sei gewiss nicht mit dem
Silberlöffel im Mund zur Welt gekommen.
Wie er sich aus einfachen Verhältnissen
nach oben gearbeitet habe, wüssten
schwarze Amerikaner ganz besonders zu
schätzen. Sein Vater, ein Autoverkäufer,
hatte zu kämpfen, einmal musste die Fami-
liebeidenElternderMuttereinziehen,weil
sie sich kein eigenes Dach über dem Kopf
leisten konnte. „Biden ist einer von uns“,
fasst es Harrison zusammen. Dann wäre da
noch der historische Durchbruch im No-
vember2008,dieWahlBarackObamaszum
Präsidenten. Am Wahlabend fuhr Harrison
mitdemAutodurchPhiladelphia.Alserdie
jubelnden Massen sah, ließ er es stehen, um
spontan mitzufeiern. Ähnliches habe er
seither nur noch einmal erlebt, vor zwei
Jahren, als die Eagles aus Philadelphia den
Super Bowl gewannen, das Finale der Foot-
ball-Liga. „Dieses Gefühl!“, schwärmt Har-
rison. „Und Joe Biden war Teil davon. Oba-
ma/Biden stand ja damals auf den Wahlpla-
katen. Das vergisst du dein Leben lang
nicht.“
Und auch der heutige Joe Biden, sagt Har-
rison, stehe bei all seinen Schwächen –
etwa, dass er einst an Gesetzen mitgeschrie-
ben hat, die besonders viele Schwarze ins
Gefängnis brachten–für solide Berechen-
barkeit. Ganz anders als Donald Trump. Ju-
beln würde er vielleicht nicht, wohl aber
aufatmen, wenn der nächste Präsident aus
Wilmington käme und Joseph Robinette Bi-
Joe Biden sorgt sich nicht erst seit gestern um die Belange der Afroamerikaner. den hieße.

Foto: Imago

/Kevin Dietsch

Der gute Mann aus Wilmington


REPORTAGE:Frank Herrmann aus Wilmington

Türkei schloss Grenzezu
EU-Nachbarn wieder
Ankara–Seit Mittwoch ist die
Grenze zwischen der Türkei und
ihren EU-Nachbarn Griechenland
und Bulgarien geschlossen. Dies
hatte Präsident Recep Tayyip
Erdoğan aufgrund der Corona-Kri-
se verfügt. Berichten zufolge wur-
den einige der tausenden Migran-
ten, die seit Wochen an der grie-
chischen Grenze ausharren, mit
Bussen nach Istanbul gebracht.
(red) KommentarSeite 24

KURZGEMELDET


Brexit-VerhandlerBarnier
positivauf Coronagetestet
London–Michel Barnier ist posi-
tiv auf das Coronavirus getestet
worden, wie der EU-Brexit-Chef-
unterhändler am Donnerstag be-
kanntgab. Die für diese Woche an-
gesetzten Gespräche mit London
wurden wegen der Corona-Krise
vertagt. Auch Fürst Albert II. von
Monaco wurde positiv getestet.
Der Gesundheitszustand des 62-
Jährigen gibt laut Fürstenpalast
keinen Grund zur Sorge. (APA)

Reichsbürger-Verein in
Deutschlandverboten
Berlin–Erstmals ist in Deutsch-
land ein Verein der Reichsbürger
landesweit verboten worden. Poli-
zisten durchsuchten am Donners-
tag Wohnungen von Mitgliedern
des Vereins „Geeinte deutsche
Völker und Stämme“ und seiner
Teilorganisation „Osnabrücker
Landmark“ in zehn Bundeslän-
dern. Die rechtsextremen Reichs-
bürger sprechen der Bundesre-
publik die Legitimität ab. (dpa)

Corona-Zwistzwischen
China und Brasilien
Brasília–Mit einem Vergleich von
Tschernobyl mit der Corona-Krise
hat der Sohn des brasilianischen
Präsidenten Jair Bolsonaro eine
diplomatische Verstimmung aus-
gelöst. Eduardo Bolsonaro warf
China vor, das Virus wie einst die
Sowjets den Atomunfall verheim-
licht zu haben. Chinas Botschaft
in Brasília erklärte daraufhin, Bol-
sonaro leide an einem „mentalen
Virus“. (dpa)

WenigerMinderjährigein
griechischenLagern
Brüssel–Die EU-Kommission hat
ihre Angaben über unbegleitete
Minderjährige in den Migranten-
lagern auf griechischen Inseln er-
heblich nach unten korrigiert.
„Derzeit sind 42.000 Menschen
auf den griechischen Inseln, da-
runter rund 1500 unbegleitete
Minderjährige“, erklärte die Be-
hörde am Donnerstag. Zuvor war
von 5500 unbegleiteten Minder-
jährigen die Rede. (dpa)

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