Der Standard - 20.03.2020

(Ann) #1

DERSTANDARD Kultur/Kommunikation FREITAG,20.MÄRZ 2020 | 21


©Lukas Beck

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Die internationalen Museen setzenverstärktauf Onlineangebote.Zwischen Google-Touren,Katalogfotos und
kuratiertenFührungen istvieles möglich. Rundgangsiegerist dasKunsthistorische Museum inWien.

J


eder an Kunst Interessierte
kennt das in Bezug auf Wien
aus in Reiseführern beworbe-
nen Kaffeehäusern: Auch die Aus-
stellungsräume der Großmuseen
haben darunter zu leiden. Zwi-
schen blitzenden und klickenden
Taschentelefonen kann man so
zumindest im günstigen Fall
einen Ausschnitt von Albrecht
Dürers Feldhasen erhaschen oder
sich im Kunsthistorischen Mu-
seumbeiSonderausstellungendie
Beine in den Bauch stehen. Der-
zeit im Lockdown werden so die
Onlineangebote diverser Museen
zunehmend interessanter.
Vor allem auch finanziell nicht
so gut aufgestellt Interessierte ha-
ben die Möglichkeit, sich abseits
teilweise absurder Eintrittspreise
virtuell durch den Raum bedeu-
tender Museen der Welt zu bewe-
gen, ohne sich zu bewegen.
Weil alle Straßen der Welt of-
fenbar hinreichend dokumentiert
sind, setzt etwa das Programm
Google Arts&Culture zunehmend
auf die Erfassung von Museums-
innenräumen. Das fällt anhand
des Rijksmuseum in Amsterdam
mit seinen Rembrandts und Ver-
meers allerdings etwas unbefrie-
digend aus. Man kommt den
Kunstwerken nicht wahnsinnig
nahe. Auch ein Rundgang auf der
Spirale des New Yorker Guggen-
heimmuseumsfälltunterdasMot-
to Spaziergang mit der Maustaste.
Im Gegensatz dazu setzen sich
andere internationale Museums-


flaggschiffe wie das British Mu-
seum in London mit einer auf der
Höhe der Zeit befindlichen On-
lineoberfläche, auf der man durch
die Jahrhunderte surfen kann, so-
wie mit fundierten Hintergrund-
texten und Querverweisen zu an-
deren jeweils zum Thema passen-
den Exponaten aus der Kunstge-
schichte ernsthaft mit den techni-
schen Anforderungen des heuti-
gen Couchpotato-Zeitalters ausei-
nander.

Hintertreffen? Hintergrund!
Auch die Uffizien in Florenz er-
weisen sich als wahre Goldgrube
des Wissens, die mit ausführli-
chen Slideshows von ausgewähl-
ten Gemälden und kunsthisto-
risch detailreichen Bilderklärun-
gen punkten. Etwas im Hintertref-
fen, allerdings auch halbwegs be-
friedigend: der Prado in Madrid,
der zu Fuß vor Ort ebenso wie der
ebenfalls online ausstellende
Louvre in Paris oder das besagte
British Museum an einem Tag
oder an einem Wochenende ohne-
hin nur mit festem Schuhwerk
und zuvor regelmäßigem Kondi-
tionstrainingaufdemHeimtrainer
zu bewältigen sind.
Auch die Wiener Albertina be-
sitzt eine Onlinegemäldegalerie
mit bis dato 225.000 von mehr als
1,5 Millionen Werken, die vom 15.
bis ins 21. Jahrhundert herauf ge-
hen. Mit Hintergrundinformatio-
nen hält man sich allerdings vor-
nehm zurück.

Seit Mitte März veranstaltet
das Wiener Belvedere täglich um
15 Uhr kuratierte Führungen mit
täglich wechselnden Spezialthe-
men, u. a. via Twitter und Face-
book. Online gestaltete sich der
ZugangzumBelvedereindenletz-
ten Tagen, vielleicht auch wegen
der Firewall, etwas schwierig.
Hervorzuheben ist an dieser
Stelle vor allem auch die Gratis-
App „KHM Stories“ des Kunsthis-
torischen Museums. Mit einem
speziellen Angebot auch für Kin-
der kann man mit dieser Applika-
tion Touren anhand ausgewählter
Exponate durch das Museum ma-
chen, die sich etwa mit dem Kli-
mawandel beschäftigen.
Die erste Tour nennt sich
„Schnee von gestern?! –Klima,
Kunst und Katastrophen“ und be-
inhaltet unter anderem das Bild
Die Jäger im Schnee von Pieter
Bruegel dem Älteren. Anhand
eines Gemäldes des veneziani-
schen Stadtmalers Canaletto aus
dem 18. Jahrhundert erfährt man
weiters von den Auswüchsen des
Massentourismus in der Lagunen-
stadt und warum der Wundervo-
gel Dodo ausgestorben ist.
Die jeweils gut einstündigen
Touren beschäftigen sich etwa
auch mit dem immergrünen The-
ma der Liebe, sozialen Phänome-
nen wie Armut, dem Körperbild
oder der Suche nach Monstern in
der Kunst. Das Herunterladen er-
weist sich zwar mitunter als lang-
wierig, es lohnt sich aber.

Gratis,abernichtumsonst


Christian Schachinger

Wien–InZeiten der Apokalypse leisten li-
terarische und serielle Dystopien wertvol-
le Dienste. Die Information, wir könnten
noch wesentlicher schlechter dran sein,
spendet möglicherweise Trost und beru-
higt die Gemüter. Im Serienfach spült dies
seit geraumer Weile zahlreiche Apokalyp-
sen hoch, die gleichzeitig unterhalten und
aufrütteln sollen, etwa The Handmaid’s
Tale,8TageoderThe Rain.
Serienchefreporter David Simon (The
Wire, Treme, The Deuce)war sich dieses
Umstands gewiss bewusst, als er die be-
drohliche Parallelwelt vonThe Plot Against
Americafür seine nächste Arbeit entwarf.
Die von HBO produzierte Serie läuft seit
kurzem auf Sky. Dass ein Virus die Serien-
fiktion einholen würde, konnte er freilich
nicht ahnen. Wobei, Simon geht die Sache
ohnehin anders an.
Was wäre, wenn die USA nicht in den
Zweiten Weltkrieg eingetreten wären? Die-
ses bedrohliche Gedankenexperiment
spielte der Schriftsteller Philip Roth 2004
in dem gleichnamigen Roman mit sich
selbst und seiner Familie in Newark durch.
Es ist Simons erste Romanverfilmung, die
dem Trump-Kritiker als Steilvorlage für
„America first“-Schreier dient.
Als Charles Lindbergh mit seiner Spirit
of St. Louis Newark besucht, jubeln auch
sie ihm zu: Evelyn Finkel (Winona Ryder),
ihr Neffe Sandy (Caleb Malis) und Rabbi
Lionel Bengelstorf (John Tururro) sind be-


geistert. Es sei sein fester Plan, einen Krieg
gegen die Deutschen zu verhindern, sagt
Lindbergh vor den Bürgerinnen und Bür-
gern der Stadt: „Die Wahl ist einfach: Sie
ist nicht Charles Lindbergh oder Franklin
D. Roosevelt. Sie ist Lindbergh oder Krieg.“
Mit solchenReden wird der Flugpionier
undNazisympathisantLindbergh–hiersetzt
die Fiktion ein–gegen Franklin D. Roosevelt
die Wahlen gewinnen und im Jahr 1940 der


  1. Präsident der USA. Danach verstärkt sich
    die antisemitische Stimmung. Unter den
    Leidtragenden ist auch eine jüdische Fami-
    lie –imRoman sind es die Roths, in der Se-
    rie heißen sie Levins,bestehend aus Vater
    Herman (Morgan Spector), seiner Frau Bess
    (Zoe Kazan) und ihren Söhnen Philip(Azhy
    Robertson)und Sandy. SchwesterEvelyn,
    eine Lindbergh-Verehrerin, ist häufig zu Be-
    such, ebenso wie Hermans verwaister Neffe
    Alvin (Anthony Boyle), ein Hitzkopf, der in
    einer örtlichen Werkstatt arbeitet.


Was sind faschistische Bastarde?
Während der besorgte Vater die Wochen-
schauen im benachbarten Kino schaut,
brüllen die Nazisympathisanten Sauflie-
der. Die antisemitischen Anfeindungen
sind für den kleinen Philip nur schwer zu
verstehen. „Was sind faschistische Bastar-
de?“, fragt der kleine Philip seinen Bruder
Sandy am Abend beim Einschlafen. „Fa-
schisten sind Faschisten, weil sie keine Ju-
denmögen“,antwortetderBruder.„Warum
mögen sie keine Juden?“–„Wegen Hitler.
Schlaf jetzt.“ Auf manche Fragen gibt es
keine schlüssigen Antworten.
Simon erzählt die dunkle Geschichte in
auffallend strahlenden Farben. Wie bereits
in Serien zuvor lässt der Showrunner und
Regisseur eine große Leidenschaft für den
perfekten Soundtrack erkennen. In dem für
ihn typischen reportageartigen Stil legt Si-
mon eindringlich nahe, dass dieser Ent-
wurf einer sich radikalisierenden Gesell-
schaft im beunruhigenden Bereich des
Möglichen scheint, und huldigt gleichzei-
tig der Welt von gestern, als es noch un-
erhört war, vom Sitznachbar in der Schule
eine Zeichnung einer nackten Frau unter
den Tisch zugereicht zu bekommen.

Trostinder Dystopie


FaschistischeUSAinder Serie„ThePlot AgainstAmerica“ auf Sky


Blut klebt an der US-Flagge in der Serie
„The Plot Against America“.
Foto:Sky/HBO

Im Kunsthistorischen Museum lernt man via App für das Leben.

Foto:KHM
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