Der Standard - 20.03.2020

(Ann) #1

DERSTANDARD Kommentarderanderen FREITAG,20.MÄRZ2 02 0| 23


GÜNTERTRAXLER


UnterQuarantäne


Und jetzt schon
wieder so ein
bombastischer
Slogan: Koste
es, was es wol-
le! Niemand
kann sagen,
wer ES ist und
was ES will.
Die Regierung wollte vor ein
paar Tagen vier Milliarden zur
Rettung der Wirtschaft im Ge-
folge der Corona-Krise ausge-
ben, dann 38 Milliarden. Auch
wenn sich der Schmerz über
das entschwundene Nulldefizit
in Grenzen hält, gibt es irgend-
wo Grenzen, die dem rettenden
Wollen einer Regierung gesetzt
sind. Und wenn es doch noch
zu einer Budgetrede kommt,
werden wir sie vielleicht ken-
nenlernen. Der Gouverneur der

Nationalbank will es der Regie-
rung mit der Anwendung von
Joseph Schumpeters Theorie
der schöpferischen Zerstörung
leichter machen, wonach nur
überlebensfähige Firmen über-
leben sollen. Das wird noch
spannend.

S


osehr wie die allmählich
aufkommende Frage nach
dem Nachher: ob das Virus
Österreich, Europa, ja die Welt
verändern wird und, wenn ja,
wie. Das Virus wird natürlich
nichts verändern außer die
menschlichen Körper, in die es
eindringt. Veränderungspoten-
zial hat, was gegen seine Aus-
breitung unternommen oder
unterlassen wird–und das ist
schlicht Politik, und diese ist,
wie auch außerhalb von Krisen-
zeiten, kritisch zu hinterfragen.

Das sollte man bei all den
gegenwärtig populären Forde-
rungen nach einem Denken
im patriotischen Gleichschritt
nicht außer Acht lassen, denn
das Virus wird früher oder spä-
ter vorübergehen, aber die Fol-
gen von Maßnahmen, die nun
und vielleicht demnächst zu
seiner Bekämpfung gesetzt wer-
den, könnten bleiben und auf
eine eher unschöpferische Zer-
störung von Werten hinauslau-
fen, die vor nicht allzu langer
Zeit mühsam errungen wurden.
Dabei denkt man zunächst an
die Mauern, hinter denen sich
die Mitgliedsstaaten der EU nun
verschanzen, an die Grenzkon-
trollen und Einreiseverbote, ge-
legentlich angewendet in einer
menschenfeindlichen und allen
gemeinsamen Regeln wider-

sprechenden Weise. Solche
Beschränkungen mögen derzeit
zum Schutz der Bevölkerungen
nötig sein, aber es gab und gibt
in Europa politische Kräfte,
denen die Freizügigkeit von
Personen immer ein Dorn im
Auge und die Aufnahme von
Flüchtlingen Teufelswerk am
eigenen Volk war und ist, be-
sonders von solchen aus be-
stimmten Ländern. Die vom
Schusswaffengebrauch an der
Grenze träumen, ohne darin
einen Albtraum zu sehen.

E


benfalls mit demokrati-
scher Vorsicht sollte man
die Überwachungsmaß-
nahmen verfolgen, die in der
Corona-Krise gesetzt werden.
Im Schnellverfahren durchge-
peitschte Gesetze, die Grund-
rechte außer Kraft setzen, sind

zulässig, von der Verfassung
und von der Menschenrechts-
konvention gedeckt–umdes
Virus willen. Aber hat man
nicht auch schon gehört, für
Menschen in Not bräuchte die
Menschenrechtskonvention
nicht zu gelten? Kaum werden
Menschenansammlungen ver-
boten, wartete A1 als Lieferant
von Bewegungsprofilen auf.
Rechtliche Grundlagen? Na ja.
Wie jedes andere Virus wird
die Welt auch Corona in den
Griff kriegen. Wie sie danach
aussehen wird, darüber sind
sich die Philosophen noch un-
eins. Die haben die Welt schon
immer verschieden interpre-
tiert. An den Regierungen läge
es, sie in eine menschlichere zu
verändern. Dafür stehen sie
unter Quarantäne.

Macht es einenUnterschied, ob man als Bürger eines Landes oder als Flüchtlingstirbt?
Haben wir Europäer in Krisenzeiten ein Gefühl für den Skandal dervöllig entrechteten Existenz?

schied, ob man als Bürger eines
Landes oder als Flüchtling stirbt?
Dürfen anthropologische Diffe-
renzen hier ins Treffen geführt
werden? Haben wir Europäer, ge-
rade in Krisenzeiten, ein Gefühl
für den Skandal der völlig ent-
rechteten Existenz?
1949 spürt der österreichische
Schriftsteller Hermann Broch,
dem 1938 die Flucht in die USA
gelungen war, diesen Skandal
noch am eigenen Leibe. In regem
brieflichen Austausch mit seiner
Freundin Hannah Arendt schwebt
ihm ein „Menschen-Naturrecht“
vor, welches jeglicher konkreten
Politik vorausgehen soll. Er be-
zieht sich damit auf dieselbe Idee,
die der berühmten Resolution der
Generalversammlung der Verein-
ten Nationen vom 10. Dezember
1948 zugrunde liegt und den Titel
„217 (III) International Bill of
Human Rights“ trägt. Arendt sieht
Brochs „Menschen-Naturrecht“
mit Skepsis, anerkennt jedoch sei-
nen Grundgedanken, dass das
Menschenrecht ein gleichsam
angeborenes Recht sein muss; das
heißt ein Recht, das unabhängig
von allen konkreten Staaten und
Gesetzbüchernexistiertundjeden
einzelnen Menschen, egal woher
er kommt, prinzipiell schützt. So-
wohl Broch als auch Arendt erleb-

V


olker Pabst berichtete in der
Neuen Zürcher Zeitungvon
Montag, 16. März 2020,
von 1,5 Millionen intern Vertrie-
benen, die nach wie vor in Idlib le-
ben, 3,6 Millionengeflüchteten
Syrern in der Türkei und 42.000
Asylwerbern auf den fünf griechi-
schen Inseln Lesbos, Samos,
Chios, Leros und Kos.Weit über
fünf MillionenMenschen leben
demnach unter „hochproblemati-
schen“Lagerbedingungen. Ihnen
fehlt unter anderem der Zugang zu
sauberem Trinkwasser, vom Hän-
dewaschen mit Seife gar nicht zu
reden. Gleichzeitig werden so-
wohl aus Syrien als auch aus der
Türkei als auch von den griechi-
schenInselnersteCorona-Fällege-
meldet. Das Horrorszenario von
tausenden Toten in den Flücht-
lingslagern lässt sich mit Händen
greifen. Zur selben Zeit sterben in
Italiens Spitälerntausende Men-
schen, da das staatliche Gesund-
heitssystem nicht tausende Perso-
nen gleichzeitig versorgen kann.
Werden die Corona-Toten von
Bergamo und die Corona-Toten
aus den Lagern von Lesbos glei-
chermaßen unter dem Stichwort
„tragische Opfer“ zu rubrizieren
sein? Ist es ethisch gerechtfertigt
oder im Gegenteil geschmacklos,
hier auf einem Unterschied behar-


ren zu wollen? Ist Sterben immer
gleich tragisch, egal wen es trifft,
weil der Tod seit Menschengeden-
ken der große Gleichmacher unter
den Völkern der Erde ist? Nun,
die praktischen Umstände des
Sterbens weisen sehr wohl Unter-
schiede auf.

Entrechtete Existenz
Der Mailänder Bürger, der am
Coronavirus stirbt, stirbt in sei-
nem Land, unter der Hand von er-
schöpften Ärzten und Ärztinnen,
die, solange es eben ging, Italie-
nisch mit ihm sprachen. Er wird
in seiner Gemeinde begraben und
von seiner Familie betrauert wer-
den. Der Flüchtling auf Lesbos
wird sterben, ohne dass ihn je ein
Arzt gesehen hat. Fernab seiner
Familie wird er, wie man sagt, ver-
enden. Ein namenloser Toter, den
man in einem Plastiksack aus dem
Lager schaffen wird. Der syrische
oder kurdische oder afghanische
oder pakistanische oder somali-
sche Flüchtling wird nach seinem
Tod eine Leiche sein, aufgehoben
in keinem personalisierten Grab.
Wenn überhaupt, wird er in die
anonymen Zahlenreihen der Sta-
tistik Eingang finden.
Worin liegt die spezifische
Differenz zwischen diesen beiden
Toten? Macht es einen Unter-

ten am eigenen Leib die Gefähr-
lichkeit einer Existenz, der der
staatliche Boden entzogen wurde.
Beide wussten: Wer kein Land
mehr hat, der wird auf fatale
Weise rechtlos, zumal im Zustand
ansteigender Not. Der Geflüch-
tete, der auf keine Bürgerrechte
verweisen kann, weil kein Fle-
cken Erde mehr „der seine“ ist,
wird zum Irrlicht der chaotischen
Weltläufte. Der italienische Philo-
soph Giorgio Agamben verwende-
te dafürden Begriff des „nackten
Lebens“.

„Nackte Leben“
Rund um Europa häufen sich
die „nackten Leben“. Weit über
fünf Millionen Menschen lagern
auf kaltem Boden in völliger
Rechtlosigkeit, und die allgemei-
ne Corona-Krise potenziert ihre
existenzielle Nichtigkeit. Allein,
die primitiven Viren, die von den
politischen Spielen der Menschen
nichts wissen, kümmern sich
nicht um Grenzen, Herkunft oder
Geburtsurkunden. Sie bevölkern
und töten, was immer sich ihnen
in den Weg stellt.

DOMINIKBARTAstudierte Philosophie
und Germanistik in Wien, Bonn und
Florenz. „Vom Land“, sein erster Roman,
erschien kürzlich bei Zsolnay.

NGOs warnen vor einem Coronavirus-Ausbruch in den überfüllten Camps auf den griechischen Inseln, wie hier in Moria auf Lesbos.

Foto: AFP

/M

anolis Lagoutaris

Viren, Völker,Rechte


Dominik Barta

Fehler machen
ist kein Versagen

Betrifft: Corona-Krise in Tirol
Wir alle machen Fehler, täglich,
und in viel weniger krisenhaften
Zeiten. Aber es ist ein fatales
Versagen, Fehler zu verleugnen.
Genauso wie wir das in derZiB 2
mitverfolgen konnten, als Armin
Wolf den Tiroler Gesundheitslan-
desrat Bernhard Tilg zum Krisen-
management in Tirol befragte und
der gezählte elf Mal wiederholte,
dass die Behörden in Tirol alles
richtig gemacht hätten.
Wer Fehler nicht sehen will, sie
leugnet, vertuscht oder verharm-
lost, weil er glaubt, sein Gesicht zu
verlieren,der verliert das Vertrau-
en, zu Recht, denn er wird die-
selbenFehlerwiedermachen.Ver-
trauen kann nur entstehen, wenn
wir ehrlich sind und den Mut ha-
ben, Fehler zuzugeben. Das gilt für
uns alle, ob beruflichoder privat.
Noch fataler wird es, wenn Politi-
ker von einer Lobby unter Druck
gesetzt werden und Entscheidun-
gen treffen, hinter denen sie selbst
nichtstehen,sieaberinderÖffent-
lichkeit verteidigen müssen. Das
führt unweigerlich in einen Stru-
del von Ausweich- und Ablen-
kungsmanövern, Lügen und Ver-
harmlosungen. Auch das gilt für
uns alle.
Krisenmanager und Führungs-
kräfte zeichnen sich dadurch aus,
dass sie Kritik einfordern, anneh-
men und sofort (!) analysieren, ob
sie zutrifft oder nicht, und dass sie
sofort die Konsequenzen daraus
ziehen. Sonst setzt sich der Fehler
fort, wie wir das in diesen Tagen
miterleben können. Die Quaran-
täne kam zu spät in Ischgl, im ge-
samten Skigebiet am Arlberg und
in Sölden.
Diejenigen, die einen Fehler
machen und daraus lernen, sind
weder Versager noch eine Gefahr.
Eine Gefahr sind diejenigen, die
Fehler machen, sie abstreiten und
sie wiederholen. Wer als Füh-
rungspersonkeineFehlerzugeben
kann, ist fehl am Platz. Vor allem
in Krisenzeiten. Bertram Wolf
Führungskräfte-Coach
6020 Innsbruck

Lichtblick für Klein und Groß
Betrifft: Kinderlexikon
Ein Lichtblick in trüben Tagen!
Vielen Dank für diese Serie, die
(auch wenn sie so tut, als sei sie
nur für Kinder) auch Erwachse-
nen sehr hilft, die Dinge zu verste-
hen, die gerade vorgehen. Und sie
unterstützt Eltern, Pädagogen und
Betreuungspersonen dabei, mit
Kindern über die Situation zu
sprechen. Und natürlich können
die Kids–die es können–selber
lesen (üben). G’sund bleiben!
Claudia Krieglsteiner
per Mail

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